Zerrissene Erinnerung
Dorothee Ahlers
„So zerrissen wie die russische Gesellschaft ist auch der Umgang mit ihrer Geschichte“. So übertitelt kommentiert der Klappentext des schmalen Essaybandes „Zerrissene Erinnerung“ der russischen Historikerin Irina Scherbakowa den schwierigen Umgang der russischen Gesellschaft mit der Geschichte ihres Landes. Scherbakowa thematisiert in vier Essays wichtige geschichtspolitische Kontroversen im heutigen Russland und gibt einen Einblick in ihre eigene biographisch orientierte Geschichtsarbeit. Die russische Historikerin lehrte im Wintersemester 2008/2009 als Gastprofessorin am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der vorliegende Band ist eine erweiterte Form eines öffentlichen Vortrags, den sie in Jena hielt. Er ist damit Teil der Reihe „Vorträge und Kolloquien“ des Jena Centers, in dem Vorträge anderer namhafter Historiker wie Martin Broszat oder Fritz Stern veröffentlicht wurden.
Einen Überblick über die Entwicklung des Bildes vom Zweiten Weltkrieg im russischen kollektiven Gedächtnis ab dem unmittelbaren Ende des Krieges bis zur Gegenwart bietet das erste von vier Essays mit dem Titel „Ein glorifizierter Sieg“. Der Titel verweist bereits auf die heutige offizielle Lesart des „Großen Vaterländischen Krieges“, welche die stalinistische Interpretation der Ereignisse wieder aufnehme. Auf gut 50 Seiten gelingt es Scherbakowa den abstrakten Begriff des „kollektiven Gedächtnis“ auf eine anschauliche Weise greifbar zu machen und anhand von Beispielen aus der Belletristik, Kunst, aus Memoiren und Filmen, Feiertagen und Gedenkstätten zu verdeutlichen.
Im ersten Nachkriegsjahrzehnt seien der Krieg von den Menschen zunächst als Opfer des gesamten Volkes für die Befreiung des Vaterlandes verstanden worden. Gegen diese Lesart habe sich jedoch die offizielle stalinistische Kriegsnarration gestellt, die die Härten des Krieges ausblendete und den Erfahrungen der russischen Bevölkerung keinen Platz im offiziellen Gedächtnis zugestand. Nach dem Tod Stalins verschob sich Fokus des Diskurses vom „glorreichen Sieg“ auf die leidvolle Kriegserfahrung. In dieser Phase seien eine Vielzahl von künstlerisch verarbeiteten Erinnerungszeugnissen entstanden, die vor allem die Erfahrungen derjenigen integrierten, die vorher ausgeschlossen worden gewesen waren. Scherbakowa konstatiert, dass „im Jahrzehnt des Tauwetters die schwere Arbeit des Gedächtnisses“ begann. (S. 31)
Die 15-jährige Breschnew-Herrschaft brachte jedoch die Rückkehr zur Narration des „großen Sieges“ mit sich, wobei „der Sieg [...] sich als der Kern [erwies], um den herum die Ideologie des Bildes eines kollektiven sowjetischen 'Wir' zu bauen versuchte.“ (S. 32) In den siebziger Jahren verfestigte sich das Kriegsbild von einem lebendigen hin zu einem ritualisierten und starrem offiziellen Gedenken. Doch auch die schmerzvolle Auseinandersetzung mit dem eigenen individuellen Gedächtnis ging weiter. Schriftsteller und Journalisten begannen sich mit Oral History zu beschäftigen, um die weißen Flecken der Kriegserinnerung zu füllen.
Der Beginn der Perestroika 1985/86 bedeutete die intensive Entmythologisierung des Krieges. Bisher ausgeklammerte Themen kamen nun auf die Tagesordnung und die Öffnung der Archive brachte bis dato unbekannte Materialien zu tage. Die hohen Verluste im Zweiten Weltkrieg und die nachfolgende Unterdrückung anderer Völker in den sowjetischen Staaten wurde thematisiert. Vor dem Hintergrund der Niederlage im Kalten Krieg kamen Zweifel auf, ob der Sieg zu einem solch hohen Preis überhaupt notwendig gewesen war. Doch die Entwicklung Mitte der neunziger Jahre ging wieder in eine andere Richtung: Nostalgie und Unzufriedenheit mit dem Zusammenbruch der UdSSR brachten die stalinistische Lesart des Sieges zurück. Das Gedächtnis an den Großen Vaterländischen Krieg wurde somit laut Scherbakowa „verstärkt zum versuchsweisen ideologischen Fundament für den wachsenden Nationalismus.“ (S. 49) In der Ära Putin wurde an der Schaffung eines neuen, positiven Bildes der russischen Vergangenheit gearbeitet, in der dem „Großen Vaterländischen Krieg“ ein zentraler Stellenwert zukam, der stalinistische Terror jedoch verdrängt wurde. Scherbakowa lastet diese Vernachlässigung den Versäumnissen der russischen Regierung an, die die Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen erschwert habe.
Heute sei es leicht, vorhandene Leerstellen über den Krieg anhand von Filmen, Büchern und Ähnlichem zu füllen, dennoch beeinflusse dieses nur wenig das vereinfachte und mythisierte Bild vom Sieg. In der Konsequenz verweist Scherbakowa darauf, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland auch heute noch Stoff für neue Aushandlungsprozesse biete.
Der zweite Beitrag stellt mit den Tagebuchaufzeichnungen Iwan Tschistjakows die einzige festgehaltene Erinnerung eines ehemaligen Gulagaufsehers vor. Scherbakowa bettet seine Aufzeichnungen ein in eine Darstellung der Geschichte des betreffenden Lagers und kommentiert sie. Tschistjakow erzähle von seiner tiefen Abneigung für die eigene Arbeit, der Unfreiwilligkeit mit der er diese verrichtete, dem Entsetzen über die Zustände im Lager, dem Mitgefühl für die Gefangenen, aber auch davon, wie er sich langsam gegen seinen Willen anpasst. Seine Aufzeichnungen seien „eines der glaubwürdigsten Zeugnisse für die Untauglichkeit des stalinistischen Zwangsarbeitersystems“ (S. 77), kommentiert Scherbakowa und verdeutlicht damit die Relevanz von biographischen Zugängen für die Geschichtswissenschaft.
Unter dem Titel „Mythen, Lücken und Verfälschungen“ analysiert Scherbakowa im dritten Essay anhand der Beiträge zum Schülergeschichtswettbewerb, der seit 1999 jährlich von der Bürgerinitiative Memorial veranstaltet wird, welche Rolle die Familienerinnerung bei der Konstruktion des Geschichtsbildes der Nicht-Erlebnis-Generation spielt. Auch die Familienerinnerung sei von glättenden Mythen bestimmt, werde von den Schülerinnen und Schülern jedoch häufig bemüht objektiv erforscht. Die Problematik eines mythologisierten, fragmentarischen Familiengedächtnis werde verstärkt durch das Fehlen von Dokumenten und Familienfotos, die zu Sowjetzeiten zu gefährlich gewesen wäre aufzubewahren, die aber eine wichtige Rolle spielen würden, um das starre Bild vom Krieg zu konkretisieren. Von besonderem Wert für die Schülerinnen und Schüler seien auch erhaltene Gegenstände bzw. deren Abwesenheit, denen in der Familienerzählung eine besondere Bedeutung zugewiesen wird. Dieser Beitrag beinhaltet eine konkrete Relevanz für Pädagoginnen und Pädagogen in der historischen Bildungsarbeit. Er zeigt anhand vieler Beispiele auf, wie das Geschichtsbild von Schülerinnen und Schülern entsteht und kann somit zur Reflexion der eigenen Geschichtsvermittlung beitragen.
Abgerundet wird der Band durch ein Interview mit Scherbakowa, in dem sie Einblicke in ihre persönliche Familiengeschichte gewährt. Sie berichtet, wie wichtig der offene Umgang mit der eigenen Geschichte in ihrer Familie für ihr Interesse an Geschichte gewesen sei und beschreibt ihre Erfahrungen mit lebensgeschichtlichen Interviews zur Geschichte der sowjetischen Repression.
Leserinnen und Lesern, die sich mit russischer Erinnerungskultur noch nicht beschäftigt haben, kann der schmale Band als eine leicht zu lesenden Einführung dienen. Die vier Beiträge werfen unterschiedliche Schlaglichter auf das Thema. Sie stehen allerdings unverbunden nebeneinander, was man als Manko oder als Bereicherung im Sinne eines mehrdimensionalen, abwechslungsreichen Zugangs zum Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland betrachten kann. Jedem, der sich auf eine anschauliche Weise mit historischen und aktuellen Debatten in der russischen Gesellschaft zur eigenen Geschichte beschäftigen möchte, sei dieser Band empfohlen. Vor allem der dritte Beitrag verdeutlicht die hohe Relevanz, die eine Beschäftigung mit Erinnerungskultur vor allem für Pädagoginnen und Pädagogen im historischen Lernen hat. Vor diesem Hintergrund sind Scherbakowas Essays auch über den russischen Kontext hinaus für Akteure der Bildungsarbeit interessant.
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- 12 Okt 2011 - 15:31