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Die NS-Zeit als Geschichtengenerator?

Moralerziehung mithilfe historischer Dilemmata

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Oliver Plessow, Studienrat an einem Beruflichen Schulzentrum, ist als Lehrkraft für besondere Aufgaben Fachdidaktik Geschichte an die Universität Kassel abgeordnet. Derzeit forscht er zur Rolle historischen Lernens in der außerschulischen Jugendarbeit.

Von Oliver Plessow

Die Konfrontation mit ethischen Dilemmata gilt heute vielfach als Königsweg der Werteerziehung. Eine beispielhafte Problemgeschichte zeigt eine handelnde Person, die in einen unausweichlichen Wertekonflikt verstrickt ist. Lernende versetzen sich in diese Person hinein und wägen moralisch gleichermaßen gebotene bzw. zu verwerfende Handlungen gegeneinander ab. Seitdem sich auch die historisch-politische Bildung dieser Methode bedient, ergänzen Problemsituationen aus der Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs den Geschichtenvorrat. Die existenziellen Entscheidungen, vor denen der Nationalsozialismus die Menschen stellte, bieten einen schier unerschöpflichen Vorrat an Dilemmata. Doch ist es förderlich, ist es legitim, gerade diese Phase der Geschichte als Stoffgenerator zu nutzen?

Obwohl manche die Verwendung der Dilemmamethode qualifizierten Experten vorbehalten wissen möchten, sind derzeit eher Bestrebungen zu erkennen, sie im alltäglichen Handlungsrepertoire von Pädagogen und Pädagoginnen zu verankern. Das einst von der Entwicklungspsychologie entwickelte Verfahren ist längst Teil einer pädagogischen Populärkultur. Gemeingut sind Geschichten wie die von der führerlos auf eine Weiche zurasenden Straßenbahn, die die handelnde Person zwingt zu entscheiden, ob sie nichts tut und damit die Tram in eine Gruppe von fünf spielenden Kindern rollen lässt oder ob sie die Weiche umlegt und so immerhin noch ein auf dem Nebengleis laufendes Kind dem Tod überantwortet.

Hinzu treten nun Geschichten wie die folgende, entnommen dem Lehrbuch von ‚Facing History and Ourselves’, einer amerikanischen Bildungsorganisation, die seit den 1970er Jahren Moralentwicklung mit Holocaust-Erziehung verknüpft: Im Berlin des Jahres 1943 tritt ein jüdisches Ehepaar, das seinen Unterschlupf verloren hat und sofortige Hilfe benötigt, an Christabel Bielenberg heran. Sie selbst ist Engländerin, Mutter zweier Kinder und mit einem Deutschen verheiratet. Sollte ihre Hilfe den Behörden bekannt werden, drohen ihr wie ihrem Mann KZ-Haft. Ihr Mann ist auf Reisen, deshalb wendet sie sich Rat suchend an einen Freund, der selbst Juden Obdach gewährt. Mit Blick auf ihre als Engländerin in Deutschland ohnedies gefährdete Lage und die Bedrohung für die ganze Familie warnt er sie dringend vor einer Aufnahme. Was soll sie jetzt dem in einem Gebüsch wartenden Paar sagen?

Das Beispiel bietet die Gelegenheit, einige Leitlinien zur Verwendung von Dilemma-Szenarien aus der NS-Zeit zu formulieren: Zum Ersten ist darauf zu achten, dass die ausgewählten Geschichten so offen im Ausgang sind, wie das für die Methode notwendig ist. Ziel ist ja keine ‚richtige’ Lösung, sondern ein differenzierteres Urteilsvermögen. Es muss möglich sein, Gedankengänge zu erproben und Irrwegen zu folgen, ohne dass die Autorität der Materialien oder der Übungsleitenden am Ende die selbstständige Urteilsbildung unterminiert. Wo Lernende jedoch mit Dilemmasituationen der NS-Zeit konfrontiert werden, steht dahinter oft ein bereits gefälltes historisches Urteil, nämlich die mehr oder weniger ausgesprochene Einschätzung, dass es zu viele Zuschauer gegeben habe und nicht genügend Menschen Hilfe geleistet oder sich dem Regime entgegengestellt hätten. Im vorliegenden Beispiel ist dies mit Händen zu greifen, denn die Geschichte wird fortgesetzt: Christabel Bielenberg entscheidet sich nach einem dramatisch geschilderten innerem Ringen schließlich doch noch für eine zumindest kurzfristige Aufnahme der Verfolgten. Die Art der Darbietung heroisiert noch zusätzlich die Entscheidung zu helfen. Damit ist man jedoch bei einer ganz anderen Grundform ethischen Lernens, dem Lernen an Vorbildern, das sich nicht ohne Weiteres mit der Dilemmamethode verknüpfen lässt.

Ein zweiter Punkt: Eine Werteerziehung, die auf einer Auseinandersetzung mit NS-Diktatur und Schoah aufbaut, wird wie zuletzt anlässlich einer großen Tagung in Berlin gerne unter dem Label „Zivilcourage lernen“ betrieben. Bemüht man hierzu Dilemmata, erfordert dies eine differenzierte Betrachtung, wie sich Zivilcourage äußern soll. Geht es darum, auf akute Gewalt- oder Diskriminierungssituationen im unmittelbaren Lebensumfeld zu reagieren? Dann stünde ein aktueller Fall wie der Dominik Brunners der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen näher als einer, der die Wahl zwischen Hilfspflicht und Selbstschutz unter Bedingungen organisierten Staatsterrors vor 70 Jahren schildert.

Geht es dagegen um ein vertieftes Verständnis von gesellschaftlichen Folgen ethisch relevanter Handlungen bzw. um eine Moral, die sich in historischer Perspektive an universalisierbaren Prinzipien orientieren soll, dann müsste die zu fördernde Zivilcourage eher auf eine Übernahme von politischer Verantwortung abzielen. Selbst wenn das Menschsein beim respektvollen Umgang mit dem Nächsten beginnt: Ein Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit kann das Bestreben sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, die solche Bedrohungssituationen erst gar nicht entstehen lassen. Dementsprechend sollten Dilemmata neben Einzelschicksalen auch politische Entscheidungen thematisieren (Facing History fragt hier z.B. ‚Hätte Auschwitz bombardiert werden sollen?’), selbst wenn das Identifikationspotential für Jugendliche geringer erscheint.

Ein letzter Punkt betrifft die Vergleichbarkeit der Entscheidungen in einer Diktatur mit Entscheidungen innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens. Dilemmageschichten können auf Realgeschehen zurückgreifen oder konstruiert sein, sich der Lebenswelt der Lernenden annähern oder sich weit von ihr entfernen. Dabei wird stets zu prüfen sein, wo die Grenzen der Imagination liegen – vor allem, wenn sich Jugendliche in ein Terrorsystem hineindenken sollen. Zumindest wäre mit den Lernenden zu problematisieren, ob sich die Entscheidung für stilles Helfen oder offenen Widerstand angesichts existenzieller Bedrohungen auf Handlungsoptionen in einer pluralistischen Gesellschaft übertragen lässt. Unabhängig vom ethischen Gehalt der Geschichten wird überdies zu fragen sein, inwieweit sie ein angemessenes Bild der Zeit zeichnen. Damit eine Dilemmageschichte funktioniert, muss der Handlungsrahmen so gestrickt sein, dass es kein Entrinnen gibt. Wie viel erzählerische Ausgestaltung ist nötig, um dies zu erreichen und den Wertekonflikt klar herauszustellen? Vorsicht ist insofern geboten, als die Geschichtsforschung viel daran gesetzt hat zu zeigen, dass die Handlungsspielräume während der NS-Herrschaft größer waren, als später behauptet wurde – diese Einsicht sollte nicht dem Funktionieren einer Dilemmageschichte geopfert werden.

Realgeschichtliche Dilemmata aus der Zeit des Nationalsozialismus können Lernenden helfen, ethische Grundprobleme in historischer Perspektive auf sich zu beziehen. Doch so beeindruckende Problemstellungen die Zeit hergibt, so verlockend es ist, sich ihrer zu bedienen: Die Geschichten sollten nicht als biegsame Werkzeuge der Moralerziehung missverstanden werden!

 

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