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Geschlecht als moralische Instanz

Überlegungen zu Bernhard Schlinks "Der Vorleser" und Curzio Malapartes "Kaputt"

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Konstanze Hanitzsch ist Gender- und Literaturwissenschaftlerin und Mitherausgeberin des Buches "Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah".

Konstanze Hanitzsch

Bringt man Moral und Geschlecht als Analysekategorien miteinander in Verbindung, tritt besonders hervor, dass Moral wie Geschlecht kontextgebundene Begriffe sind. Weiblichkeit wie Männlichkeit wird unterschiedlich wahrgenommen, gewertet, gedeutet. Ebenso unterliegt Moral gesellschaftlichen Bestimmungen und Normen, wie der Nationalsozialismus eindrücklich gezeigt hat. Hier galten so genannte ‚nationalsozialistische Moralvorstellungen’, die auch die Vernichtung der Jüdinnen und Juden mit einschlossen (Raphael Gross: Anständig geblieben).

Es ist auffällig, dass in literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Scham häufig an weiblichen Figuren verhandelt wird.

Als veröffentlichtes Gefühl gilt Scham als moralische Verurteilung des Verhaltens eines anderen (Hilge Landweer: Scham und Macht). Demgegenüber lässt sich Schamempfinden als Moment der subjektiven Erkenntnis eines Fehltritts, der das Schamgefühl auslöst, definieren (Hilge Landweer: Scham und Macht, Renate Lorenz: Scham).

Ein prominentes Beispiel für die vergeschlechtlichte Verhandlung von Scham- und Schuldgefühlen ist der Roman "Der Vorleser" (1995) von Bernhard Schlink. In diesem belletristischen wie filmischen Welterfolg wird die verwickelte Liebesgeschichte zwischen einem minderjährigen Jungen, Michael Berg, und einer älteren Frau, Hanna Schmitz, erzählt. Entsetzlich genug, dass er Jahre nach beider Trennung als Student der juristischen Fakultät seine ehemalige Geliebte bei den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt am Main als Angeklagte wiedersehen muss: Sie war als Aufseherin in Auschwitz, in einem Nebenlager von Siemens und organisierte und bewachte die Todesmärsche am Ende des Krieges. Darüber hinaus – so die Konstruktion der Geschichte – gibt es etwas, für das die Angeklagte und ehemalige Geliebte mehr Scham empfindet, als für ihr Handeln: Sie ist Analphabetin und hat, um dies zu verbergen, eine Stelle als KZ-Aufseherin angenommen. Gleichzeitig kann sie aus diesem Grund nicht für das, was ihr in der Verhandlung vorgeworfen wird, verantwortlich sein. Aus Scham über ihren Analphabetismus nimmt sie mehr Schuld auf sich, als sie zu verantworten hat. Ihr ehemaliger Geliebter, der als Einziger um ihr Geheimnis weiß, muss ertragen, dass sie für ein Verbrechen schuldig gesprochen wird, für das sie aufgrund ihres Analphabetismus nicht schuldig sein kann. Michael erscheint die Wahrung der Integrität seiner Geliebten wichtiger als die Wahrheit und Gerechtigkeit den Opfern und Überlebenden gegenüber. So bewahrt er Hanna vor einer Beschämung, die die Veröffentlichung ihres Analphabetentums für sie darstellen würde und erkennt mit ihrer Scham auch ihre Schuld.

Scham wird hier als Motor der Motivation der Hauptfigur dargestellt. Ein Bewusstsein für ihre Verantwortung stellt sich bei ihr erst ein, als sie mithilfe des Erzählers in der Haft Lesen und Schreiben lernt. Bildung fungiert in "Der Vorleser" als Zeichen der Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Die realen Täterinnen übernahmen durchaus bewusst und aus Überzeugung Verantwortung, wie u.a. die Ausstellung zu NS-Aufseherinnen in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zeigt. Wie stark das Bild der Aufseherin aus "Der Vorleser" das Bild der Täterin insbesondere für Schüler und Schülerinnen geprägt hat, zeigen deren Reaktionen in der Ausstellung, die häufig darin besteht, nach dem Alphabetisierungsgrad der Aufseherinnen zu fragen.

Der Autor Curzio Malaparte hat in seinem umstrittenen Roman "Kaputt" aus dem Jahre 1944 ebenfalls Scham mit Weiblichkeit verbunden und als Motivation für die Verbrechen der Nationalsozialisten beschrieben. Die Grausamkeit, Brutalität, aber auch die Bürokratie der deutschen Täter, die hier durchweg Männer sind, habe ihren Ursprung in ihrer Angst und der Scham, die durch die Kranken und Schwachen hervorgerufen wird, als die die jüdischen Opfer dargestellt werden. Die Opfer und Überlebenden der Shoah werden in diesem Roman u.a. durch diese 'Erkenntnis' des männlichen Erzählers durchweg feminisiert, d.h. zu ohnmächtigen Frauen, Kindern, Alten und Schwachen stilisiert. So findet beispielsweise der Warschauer Gettoaufstand, an dem auch Frauen und Kinder beteiligt waren, keine Erwähnung, obwohl sich der Autor als Kriegsberichterstatter u.a. im besetzten Polen aufhielt.

Die Erzählstrategie positioniert die Hauptfigur als Beobachter: Weder ergreift er aktiv Partei für die Verfolgten, noch ist er ein überzeugter nationalsozialistischer Täter. Beides erfüllt ihn mit Scham. Berichtend distanziert er sich jedoch von diesem Schamgefühl, indem er es als 'weibliche Emotion' von sich abgrenzt.

Höhepunkt dieser literarischen Konstruktion stellt ein Kapitel dar, in dem jüdische Zwangsprostitution in einem deutschen Wehrmachtsbordell dargestellt wird. Allein dieses literarische Setting ist höchst problematisch, da es das Phantasma der sexuellen Ausbeutung im Nationalsozialismus bedient (siehe hierzu Regina Mühlhäuser: Eroberungen). Das Umgehen der Jüdinnen mit ihrer Situation und ihrer bevorstehenden Ermordung wird durch die deutsche nicht-jüdische Frau, die dem  Erzähler davon berichtet, mit den Worten kommentiert: "Ich schäme mich, eine Frau zu sein." Eine Erkenntnis der eigenen Mittäterschaft dieser Frau bleibt aus. Scham wird hier verbunden mit geschlechtsspezifischen negativen Eigenschaften: Schwäche und Verführung.

Es ist demnach das Geschlecht, das als moralische Instanz angerufen wird, denn die 'weibliche Scham' ruft vermeintlich in den Männern erst die Täterschaft hervor, die sich gegen die feminisierten Opfer richtet. Diese wiederum haben kein 'Schamgefühl', das sie davor bewahrt, ausgebeutet und getötet zu werden. So entziehen sie sich der demütigenden Zwangsprostitution z.B. nicht durch Selbstmord. Opfer und Täter werden hier in einer schicksalhaften Beziehung miteinander verbunden, in der letztendlich 'das Weibliche' die Schuld an der Täterschaft trägt. Das bedeutet, dass Verantwortung für begangene Schuld und sogar für erlittene Taten, an eine ontologische Größe gebunden wird: Das Geschlecht wird nicht als Konstruktion hinterfragt, sondern als Erklärung von Machtverhältnissen eingesetzt.

Schlink und Malaparte sind literarische Beispiele dafür, wie Scham geschlechtsspezifisch aufgeteilt wird. Sie dient als Erklärung für nationalsozialistische Täter/-innenschaft: Als Motivation der Protagonistin aus "Der Vorleser" nach Auschwitz zu gehen, um ihr Analphabetentum zu verbergen und in "Kaputt" als Versuch der Scham Herr zu werden, indem die 'weiblichen' Beschämenden vernichtet werden.

Die männliche Position des Erzählers grenzt sich in beiden Romanen durch die Artikulation der Erkenntnis der Scham von den geschehenen Verbrechen ab und entwickelt einen moralischen Standpunkt. Täterschaft wird mit spezifisch 'weiblichen' Schwächen verbunden und verantwortliches Handeln tritt hinter dem persönlichen Schicksal zurück.

Geschlecht zeigt sich somit als Träger von Bedeutungen, die zunächst als unhinterfragbar erscheinen. Eine Analyse der Funktion von Geschlecht in literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit der Shoah kann der Aufdeckung von Entlastungsstrategien und Schuldverdrängungen dienen.

Zum Weiterlesen

Raphael Gross: Anständig geblieben: Nationalsozialistische Moral, Frankfurt 2010.

Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999.

Renate Lorenz: Scham. Pervers sexuell arbeiten im Kontext neoliberaler Ökonomie,In: AG Queer Studies (Hrsg.): Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen,, Hamburg 2009, S. 131-147.

Regina Mühlhäuser: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941 – 1945, Hamburg 2010.

 

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