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Fallstricke in den Köpfen

Schulgeschichtsbücher in der Einwanderungsgesellschaft

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Verena Radkau ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung. Ihre Interessengebiete sind mexikanische Geschichte, insbesondere Frauengeschichte und die Geschichte der deutschen Einwanderung, die Rolle von Geschichtsbüchern in lateinamerikanischen Ländern sowie Schulbücher in der Einwanderungsgesellschaft.

Verena Radkau

Wer einen Blick auf eine Zufallsauswahl aktueller deutscher Geschichtsbücher für alle Altersstufen und Schulformen wirft, kommt nicht umhin anzuerkennen, dass Curriculumplaner/innen und Schulbuchmacher/innen sich Mühe geben: Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt und versuchen, Geschichtsbücher für die deutsche Einwanderungsgesellschaft im Kontext einer sich globalisierenden Welt zu gestalten. Migrationsgeschichte der Deutschen im Ausland und Geschichte und Gegenwart von Migrant/innen in Deutschland sind ein Thema, und das sogar relativ ausführlich.

Vergleichen wir jedoch diese Bemühungen mit den zahlreichen Projekten in und um Schule zu interkultureller Pädagogik, Anerkennung von Vielfalt, Inklusion, verstärkter Beschäftigung von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte oder auch mit den Diskussionen der Geschichtsdidaktiker, für die ein Konzept wie „Interkulturalität“ bereits seit etwa zehn Jahren zum täglichen Handwerkszeug gehört, so müssen wir den Schluss ziehen: Die Geschichtsbücher hinken hinterher – nicht so sehr, was die Inhalte angeht, sondern eher in der Art des Umgangs mit diesen. Hier verharren die Bücher allenfalls auf dem Stand von „Multi-Kulti“ und sind damit aus vielen, höchst unterschiedlichen ideologischen Richtungen angreifbar.

Die Sicht der Bücher auf Migration ist deutsch, allenfalls europäisch und zwar auch dann, wenn in bester Absicht nach dem Motto argumentiert wird: „Auch wir sind im Laufe unserer Geschichte immer wieder und überall Migranten gewesen“. Mit verräterischen Formulierungen wie „Deutsche im Ausland“/ „Fremde in Deutschland“ stellen sich die Autor/innen selbst ein (sprachliches) Bein. Das Gleiche gilt für das nach wie vor dominierende Gegensatzpaar „Wir“ und „die Anderen“ oder „das Eigene“ und „das Fremde“. Wenn die „Aufgabe der Integration“ darin besteht „ehemals Fremde in unsere Gesellschaft aufzunehmen“ und „den Anderen Chancen zu geben, ihnen Bekanntschaft und Freundschaft anzubieten und sich für ihre Kultur zu interessieren“ ist nicht nur sprachlich klar, wer hier Subjekt und wer Objekt ist, bzw. wer überhaupt angesprochen wird. Diese Beispiele stammen aus Geschichtsbüchern für die Sekundarstufe I. Aber auch Bücher der Kursstufe entgehen sprachlichen Fallstricken nicht. So heißt es in einem Arbeitsauftrag: „Erörtern Sie, welche Maßnahmen ihnen im Sinne einer Integration der Aussiedler sinnvoll erscheinen.“

Bezeichnend ist auch, dass die Themen „Migration“ und „Globalisierung“ häufig im Umfeld von Konflikten dargestellt werden. So entpuppt sich eine als Frage formulierte Kapitelüberschrift „Globalisierung – (k)ein neuer Weltkonflikt?“ als eher rhetorisch, denn die Antworten sind „Der Nord-Süd-Konflikt“, „Der Streit um das Kopftuch“, „Der Streit um Moscheen“, „Konfliktstoff muslimische Feiertage“ – ziemlich viel Konfliktpotenzial bei der „Begegnung und Konfrontation der Kulturen“! In einem anderen Buch beginnt das Kapitel „Kulturen in der globalisierten Welt“ mit den „Folgen des 11. September 2001’“… honi soit qui mal y pense!

Die Reihe der Beispiele könnte beliebig fortgesetzt werden. Hier ist zwar nicht der Ort für tiefenpsychologische Betrachtungen, doch sei die Frage erlaubt, wie es möglich ist, dass das spürbare Bemühen der Schulbuchmacher um eine differenzierte Darstellung von Migration und Globalisierung und ihre zweifellos vorhandene Sachkenntnis immer wieder durch – um es vorsichtig auszudrücken - Ungeschicklichkeiten auf der sprachlichen Ebene und beim Arrangieren der Inhalte konterkariert werden?

Der hier geübten Schulbuchschelte könnte man entgegenhalten, dass das Schulbuch ein vergleichsweise ‚träges‘ (seine geschätzte Lebenszeit beträgt 8 bis 10 Jahre) und außerdem den Zwängen didaktischer Reduktion unterworfenes Medium sei; man könne ihm also gar nicht abverlangen, sich auf der Höhe der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen zu bewegen. Macht also eine solche Schelte überhaupt Sinn? Sie macht – zumindest solange das Schulbuch, allen Unkenrufen zum Trotz, nach wie vor zentrales Unterrichtsmedium ist, noch dazu eines, das kanonisiertes und legitimiertes Wissen vermittelt und damit besondere Autorität genießt. Geschichtsbücher können zwar nicht seismographisch genau auf jede gesellschaftliche Bewegung reagieren, aber sie können bestimmte, mittel- und langfristige Entwicklungen durchaus abbilden und auf diese Weise andere öffentliche Diskurse unterstützen.

So überraschend es klingen mag - gerade das Thema, das immer noch - und allen Universalisierungstendenzen zum Trotz - die kollektive Erinnerung in Deutschland dominiert, bietet für den Geschichtsunterricht in der Einwanderungsgesellschaft und damit auch für die Gestaltung von Geschichtsschulbüchern neue Möglichkeiten: der Holocaust. Was bedeutet es, von ihm als Teil ‚unserer’ Geschichte, zu sprechen, wenn ein großer Teil der Schüler keine deutschen Wurzeln hat? Könnte eine Art ‚Apartheid-Modell’ die Lösung sein, bei dem die Verantwortung für die Vergangenheit an verschiedene Gruppen verteilt wird – etwa nach dem Motto: der Massenmord an den europäischen Juden für die ethnisch Deutschen, der Genozid an den Armeniern für die Schüler/innen mit türkischem Migrationshintergrund, der Gulag für die Russen und die Verbrechen der Kolonialzeit für Schüler/innen, deren Vorfahren aus den ehemaligen Kolonialmächten kommen? Ein absurder Vorschlag, der sich schon deshalb erübrigt, weil – hierin stimmen inzwischen vorliegende empirische Untersuchungen überein – der Holocaust auch und gerade für Schüler/innen mit Migrationshintergrund durchaus ein Thema ist: Sie weisen ihn als etwas zurück, was mit ihnen nichts zu tun hat, sie integrieren ihn in eigene biografische Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung oder sie fordern das Recht ein, genau wie ‚deutsche’ Schüler/innen Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Besonders vielversprechend erweist sich dabei – auch dies ein Ergebnis von Interviews – die Behandlung der Täter. Hier zeigen sich am ehesten die sehr differenzierten Geschichtskonstruktionen und –bilder von Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund. Werden sie reflektiert, so eröffnen sich Chancen zum interkulturellen Lernen.

Die hier präsentierten Befunde basieren auf Geschichtsbüchern der letzten fünf Jahre. Man könnte daraus Empfehlungen zur Verbesserung ableiten und Lehrer/innen darauf vertrösten, dass diese vielleicht in Zukunft berücksichtigt werden. Eine andere Möglichkeit ist, ihnen als Sofortmaßnahme zu raten, sich die vorhandenen Bücher zusammen mit ihren Schüler/innen ganz genau auf Sprache, Kontextualisierung u.ä. anzuschauen, mit anderen Worten: sich im Re- und vor allem im Dekonstruieren von Strategien der Schulbuchhistoriografie zu üben und dabei zu der Einsicht zu kommen, dass niemand – weder Lehrer/innen, noch Schüler/innen und natürlich auch nicht Schulbuchmacher/innen - vor den Fallstricken in unseren Köpfen gefeit ist.

 

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