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Was können Abiturienten?

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Bernd Schönemann, Holger Thünemann, Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. LIT Verlag, Münster (2010), 157 Seiten, 19,90 Euro.  

Von Ingolf Seidel

Mit der Fragestellung „Was können Abiturienten?“ wollen in der gleichnamigen Studie drei renommierte Geschichtsdidaktiker einen Anstoß für einen Neustart der Debatte um historische Kompetenzen und Standards geben. Über eine empirische Ebene soll geprüft werden, „welche Lernleistungen Abiturienten am Ende des schulischen historischen Lernprozesses in der Sekundarstufe II zu erbringen imstande sind.“ (S.3) Eine weitere Zielstellung der Studie war, die „tatsächliche erbrachte[n] Schülerleistung in ihrer Breite, Differenziertheit und Komplexität zu erfassen“ und kritisch danach zu fragen, „ob sie im Modus von Kompetenzen und Standards überhaupt angemessen beschreibbar sind.“ (S. 3) Mit diesen Fragestellungen wagen sich die Autoren daran, die aktuellen Überlegungen und Diskussionen in der Folge der PISA-Studien in Frage zu stellen, allerdings ohne gleich das nächste Kompetenzstrukturmodell zu konstruieren (vgl. S. 121).

Als empirische Basis haben Schönemann, Thünemann und Zülsdorf-Kersting dabei 238 Abitur-Leistungskursklausuren des Jahrgang 2008 aus Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestanden. „Im Mittelpunkt der Analyse des Klausurenkorpus stand die Strukturierung der Schülertexte auf der Basis eines Kategoriensystems“ (S. 23), das aus den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Geschichte (EPA) und den konkreten Abituraufgaben abgeleitet wurde und sich an Karl Jeissmanns Theorie des historischen Denkens anlehnt. Für die analytische Erfassung und die kategoriale Beschreibung legen die Autoren ein Kriterienraster mit drei Anforderungsbereichen zu Grunde. Mit ihnen werden u.a. die Fähigkeiten der Schüler/innen zum Erfassen von Quellen und Darstellungen, zur formalen Textbeschreibung- und -wiedergabe, zum Umgang mit Zitaten, aber auch die gelungene historische Kontextualisierung, der korrekte Gebrauch historischer Begriffe und Kategorien, sowie das Fällen von historischen Werturteilen und die Reflexion historischer Aussagen in den vorliegenden Klausuren ausführlich analysiert. (S.34 ff.)

Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der drei Autoren sind ernüchternd, wenn auch nicht unbedingt überraschend. So wird beispielsweise festgehalten, dass eine „grundlegende Differenz zwischen Quelle und Darstellung […] den Prüflingen insgesamt kaum bewusst“ (S.37) sei. Ein dramatischer Befund, zumal für Leistungskurse in Geschichte. Die Kenntnis dieses Unterschiedes stellt nicht nur eine wesentliche Grundlage für Analysen dar, sondern ist auch von erkenntnistheoretischer Relevanz. (S. 123) Dementsprechend wird empfohlen „die Verwendung einer exakten Terminologie zu schulen“. (S. 123) Die Problematik dürfte aber noch tief gehender sein. Schülerinnen und Schüler, die bereits Defizite darin zeigen, eine schriftliche Quelle von Sekundärliteratur zu unterscheiden, sind vermutlich mit medialen Darstellungen im Fernsehen oder im Internet ebenso überfordert. Die im Rahmen von Infotainment zunehmende Verwischung von Fiktion und Dokumentation stellt dabei umgekehrt zunehmende Anforderungen an einen sicheren Umgang mit vielfältigen Arten von Quellen und dies nicht nur für ausgesprochen bildungsorientierte Gymnasiast/innen.

Mängel in der historischen Urteilsfindung zeigen sich nicht nur in Teilbereichen. Sach- und Werturteile seien zwar in den untersuchten Klausuren anzutreffen, würden jedoch nicht „kontrolliert geleistet“ (S.124) Die zu Buche schlagenden Mängel liegen den Ergebnissen der Studie zufolge darin begründet, dass in den Aufgaben weniger das „Niveau der historischen Erzählung“ abgefragt werde, als die inhaltliche Vollständigkeit der Darstellung“. Zwischen einer gelungenen Klausur und der Fähigkeit zu komplexem historischen Denken besteht folglich eine große Diskrepanz. Für Schönemann, Thünemann und Zülsdorf-Kersting stellt sich in der Folge die Frage, welche „Mindeststandards historischen Denkens“ (S. 125) entwickelt werden sollten. Einer Entwicklung einheitlicher Bildungsstandards für das Fach Geschichte steht das Autorenteam skeptisch gegenüber. Schließlich seien „die Lerndispositionen so vielschichtig und disparat, dass einheitliche Standards für alle Schülerinnen und Schülern völlig unrealistisch sind.“ (S. 127) Vielmehr fordern sie zweierlei: Eine stärkere Ausdifferenzierung für „alle in der Diskussion befindlichen Kompetenzmodelle“ (S. 126) und weitere empirische Untersuchungen des vorhandenen Niveaus der geschichtlichen Denkleistungen bei Schülerinnen und Schülern. Im Zuge der Fortentwicklung der Kompetenzmodelle wäre es sicherlich wünschenswert, wenn die Reflexionen aus der vorliegenden Studie Eingang in die Debatte fänden und zudem vermehrte Anstrengungen unternommen würden, sowohl Klausurergebnisse als auch die unterrichtliche Kommunikation – nicht nur im gymnasialen Bereich - zu untersuchen.

 

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