Literarische Texte zum Holocaust in der Bildungsarbeit
Von Markus Nesselrodt
Die beiden Bände beinhalten praktische Vorschläge für den Deutschunterricht zum Thema Holocaust in den Sekundarstufen I und II. Die Herausgeber/innen Jens Birkmeyer, Oberstudienrat im Hochschuldienst an der Universität Münster und Annette Kliewer, Privatdozentin und Oberstudienrätin am Gymnasium Bad Bergzabern, haben Texte von 18 Autorinnen und Autoren versammelt.
In ihrer Einleitung bemängeln Birkmeyer und Kliewer, dass der Unterricht zum Holocaust zwischen dem Versuch, bei den Lernenden unreflektierte Betroffenheit zu erzeugen und einem wissensvermittelnden Zugang, der die Jugendlichen nicht genug in ihrer Befindlichkeit ernst nimmt, oszilliere. In der Praxis verweigerten sich Schülerinnen und Schüler zumeist beidem. Und das mit einem gewissen Recht, schließlich bildeten sie die erste Generation, „die sich im Land der Täter aus der emotionalen Fesselung an die Macht der nachfaschistischen Familienzwänge lösen kann“ (3/Band I). Daraus folgen auch veränderte Anforderungen an das Bildungssystem: „Erinnerung im schulischen Kontext kann kein memorialer Algorithmus sein, der sich auf pädagogisch vorgefertigte Muster aus dem Baukasten der Gedenkkultur berufen könnte […] Eine über sich selbst aufgeklärte Schule hat kein Interesse an hegemonialen Formen der Instrumentalisierung von Erinnerung, sondern ist Teil der selbstkritischen, bürgerschaftlichen Erinnerungskultur, deren ethische Grundlage darauf fußt, die eigene Gesellschaft permanent so zu bearbeiten, damit Auschwitz sich nicht wiederhole.“ (6/I).
Doch besonders in der Unter- und Mittelstufe werden, so die Herausgeber/innen, Texte über den Holocaust häufig so gelesen, als könnten sie feste, gültige Wahrheiten vermitteln. Dabei werde jedoch – besonders bei Texten von Zeitzeug/innen – der Konstruktionscharakter der Texte zumeist außer Acht gelassen. Ein keineswegs unbeabsichtigter Prozess, schließlich solle auf diese Weise der Bericht über „authentisch Erlebtes“ Empathie bei den Jugendlichen auslösen. Für Birkmeyer und Kliewer stellt sich deshalb die Frage, wie Schüler/innen an Texten zum Holocaust dennoch lernen können, Quellenkritik zu üben und den Konstruktionscharakter der Narration zu analysieren. Die Herausgeber/innen plädieren dafür, Schüler/innen verstärkt medienkritische Kompetenzen zu vermitteln. Doch inwieweit sollten junge Menschen bereits mit der Medialität und Konstruktion von Holocaustdarstellung konfrontiert werden? Um diese Frage anzugehen, schlagen die Herausgeber/innen vor, im Unterricht die unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge zu der einen Geschichte als Zusammenstellung verschiedener Geschichten zu erarbeiten. Die so erfolgende Infragestellung einer angeblichen Objektivität in der Geschichtsschreibung bereitet idealerweise eine quellenkritische Analyse von Holocaustdarstellungen vor, dazu können auch Interviews mit Zeitzeug/innen gehören. Hierfür eigne sich in besonderem Maße die Literatur, denn an ihr lasse sich die Kompetenz erwerben und üben, Gespräche über und anhand von literarischen Texten zu führen. Ein solides historisches Wissen in Verbindung mit der Fähigkeit, literarische und mediale Angebote als Quelle der Erinnerung zu decodieren, bietet dafür die zu erlernende Grundlage.
Die Autoren und Autorinnen des ersten Sammelbandes entwerfen in ihren Texten Unterrichtsentwürfe zu verschiedenen literarischen Werken, die sich in vielfältiger Weise mit dem Holocaust bzw. der Erinnerung daran beschäftigen. So fragen Oliver Geister und Susanne Laudick am Beispiel des Kinderbuches „Die Kinder aus Theresienstadt“ nach den Eigenschaften eines Zeugnisses und danach wie diese Frage in den Klassen 6 und 7 thematisiert werden kann. Anhand des Bestsellers „Der Junge im gestreiften Pyjama“ diskutiert Annette Kliewer, ob es erlaubt ist, auf eine solch naive Weise über ein so ernstes Thema zu sprechen und wertet dazu Ergebnisse einer Unterrichtsreihe in Klasse 8 aus. Wie lässt sich in der zehnten Klasse über die fiktionalisierte Form der historischen Realität sprechen, wie sie in „Am Beispiel meines Bruders“ geschaffen wird, fragt Reinhard Wilczek in seinem Beitrag. Eine interessante Möglichkeit, verschiedene Sichtweisen dreier Generationen auf den Nationalsozialismus aufzuzeigen, zeigt Ulrike Schrader am Beispiel von „Zwischen zwei Scheiben Glück“. Matthias Kaiser und Jutta Weiler plädieren für den Einsatz des Mediums Comic, etwa „Die Suche“, weil es vor allem bei jungen Menschen Anknüpfungsmöglichkeiten für Gespräche biete. Der abschließende Beitrag von Gudrun Marci-Boehncke stellt dagegen das Medium Computerspiel vor und zeigt Wege auf, das Verhältnis von Geschichtsklitterung und Geschichtsmythen im Computerspiel zu reflektieren.
Der zweite Sammelband widmet sich verstärkt literarischen Texten, wie sie in der Sekundarstufe II gelesen werden. Dem höheren Alter der Jugendlichen angemessen sollen hier „die fundierten Textanalysen [...] mit didaktischen Reflexionen über die Relevanz der Holocaustthematik für ein dezidiert literarisches Lesen und ästhetisches Lernen“ (4/II) kombiniert werden. Vorschläge, wie dies praktisch aussehen kann, bieten die Autorinnen und Autoren in ihren Texten an. Eleonore Beinghaus fragt nach der Darstellbarkeit des Holocaust und stellt ausgewählte Textauszüge vor. Den literarischen Erzählungen von Überlebenden der Shoah widmen sich Michael Hofmann am Beispiel von Imre Kertész' „Roman eines Schicksallosen“ sowie Gerd Steffens in seinem Beitrag über Louis Begleys „Lügen in den Zeiten des Krieges“.
Zusammenfassend stellen die Herausgeber/innen mit Blick auf die Unterrichtspraxis fest, dass stets Bezüge zwischen der Vergangenheit (Nationalsozialismus) und der Lebenswelt der Jugendlichen hergestellt werden müssen, damit historisches Lernen tatsächlich gelingen kann: „Jugendliche müssen sich heute ihr historisches Wissen […] nicht mehr gegen eine schweigende Mehrheitsgesellschaft erstreiten, eher fühlen sie sich rasch von den vielfältigen Erinnerungsangeboten überfordert“ (6/II). Daher müsse die Schule die Jugendlichen beim Ausbilden eines medienkritischen Zugangs zur Geschichte unterstützen. Abschließend heben Birkmeyer und Kliewer hervor, dass es sich als sinnvoll erwiesen habe, Schüler/innen zum selbstständigen Arbeiten zu animieren. Hierbei bieten sich Projekttage an, die bewusst interdisziplinär historische Themen behandeln und gleichzeitig die vielfältigen Zugänge zur Geschichte und zu ihren Geschichten bewusst machen. Beide Bücher sind all denjenigen Lehrer/innen empfohlen, die mit literarischen Texten über den Holocaust arbeiten bzw. vorhaben, dies zu tun. Ihnen wird hier eine inspirierende praxisnahe und gleichsam theoriegeleitete Textsammlung angeboten.
Eine Rezension des Buches „Holocaust-Literatur und Deutschunterricht. Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit“, herausgegeben ebenfalls von Jens Birkmeyer, finden Sie hier.
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- 15 Feb 2011 - 22:48