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Zum Umgang mit Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden des Holocaust in Schule und Universität

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Sonja Niehaus promoviert am Zentrum für Antisemitismusforschung zu Haltung und Verhalten von nichtjüdischen Deutschen gegenüber Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich. Zuletzt erschien von ihr der Aufsatz „In mir entscheidet sich, wer wir sind“. Über meine Arbeit als Oral Historian mit Überlebenden des Holocaust, in: Ute und Wolfgang Benz (Hrsg.), Gewalt zwischen den Generationen. Strukturen extremen gesellschaftlichen Verhaltens, Berlin (Metropol) 2010.

Sonja Niehaus

In den jüngeren Generationen in Deutschland wird der Judäozid durch den zunehmenden zeitlichen Abstand zum Geschehenen oft nicht mehr zwangsläufig als ein Teil der unmittelbaren eigenen Geschichte betrachtet. Der Zugang ist distanzierter, und recht häufig gibt es auch genervte Reaktionen à la „och, das haben wir doch schon alles hundert Mal gehört“. Viele Jüngere wollen von dem Thema nichts wissen. 

Die Distanz ist jedoch trügerisch und häufig eine scheinbare. Die meist psychoanalytisch orientierten Forschungen zur dritten Generation in Deutschland nach dem Nationalsozialismus zeigen, dass die Geschichte der Großeltern oft unbewusst oder vorbewusst in den Folgegenerationen weiterwirkt. Autonomiedefizite, uneingestandene Angst vor älteren Menschen und Schuldgefühle können die Folge sein. Zu den Urenkeln, der vierten Generation, gibt es derzeit noch keine Forschungen. Es gibt jedoch keinen Grund dazu, anzunehmen, dass die Konflikte einfach abebben, denn gerade verdrängte, unbewusste Problematiken sind sehr zäh in der generationellen Vererbung. 

Aus Sicht der Psychoanalyse sind gerade die – häufig verleugneten - Schuldgefühle besonders gefährlich und stehen der Annahme der eigenen Geschichte, wie sie nun mal ist, im Weg. Die Schuldgefühle werden aus Gründen der Abwehr häufig gegen die eigentlichen Opfer, die Jüdinnen und Juden oder den jüdischen Staat Israel, gewendet. In dieser verschleierten Form besteht die Bedrohung durch die nationale Erbschaft trotz zeitlicher Distanz weiter und kann bisweilen zur offenen Identifikation mit den Täterinnen und Tätern führen. Hinter dem häufig geäußertem Desinteresse kann die Angst verborgen sein, etwas zu entdecken, was immer noch lieber im Dunkeln gehalten wird: die Verstrickung der (Ur)Großeltern in den Massenmord und die möglichen, die eigene Identität betreffenden Folgen davon.

Eine weitere Möglichkeit, das Erbe und die Verantwortung zu negieren, - und sich damit nicht zuletzt auch selber um die Einsicht in die Geschichte und ihre Wahrheiten zu bringen – ist die Umkehr der Opferrolle. Diese ganz allgemeine Tendenz macht sich seit einigen Jahren gesellschaftlich dadurch bemerkbar, dass immer wieder die Traumatisierungen von Deutschen durch die Kriegsereignisse und die Vertreibungen nach Kriegsende aus dem Osten thematisiert und mit dem Judäozid vermischt werden. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Geschichte wird dabei gerne unter den Teppich gekehrt.

Die Arbeit mit Zeitzeugnissen von Überlebenden des Holocaust ist ein möglicher Weg, diesen selbst- und fremddestruktiven Kreislauf der Abwehr zu durchbrechen. Die Zeugnisse ermöglichen es, den Opfern ins Gesicht zu sehen und die Geschichte aus ihrer Perspektive zu hören und zu verstehen. Darin liegt ihre eigentliche Stärke. In Schulstunden und in universitären Lehrveranstaltungen, die sich mit Zeitzeugnissen befassen, sollte daher zunächst die persönliche Begegnung zwischen Überlebendem oder Überlebender und jungen Deutschen im Zentrum stehen. Erst das Zulassen einer Begegnung ermöglicht eine empathische Anerkennung der Geschichten, Perspektiven und Gefühle und vermag es, den Blick weg von der Selbstbeschau zum Gegenüber zu lenken. Es ist anzustreben, dass der Erzähler oder die Erzählerin darüber hinaus die Funktion eines Spiegels für ihr Gegenüber einnimmt, der verdrängte Anteile offenbart. Tatsächlich erfolgreich ist eine Begegnung dann, wenn sie vorher verdrängte Selbstanteile an die Oberfläche zu bringen vermag. Sich einzulassen und nicht abzuwiegeln und zu relativieren erfordert allerdings etwas Mut. Es sollte daher vor allem versucht werden, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem die Lernenden vielleicht den Mut aufbringen können, die Überlebenden und ihre Geschichten als Spiegel des eigenen Innern zu begreifen. Das schließt auch die Möglichkeiten dessen ein, was das eigene Innere sein könnte, aber noch nicht ist.

Spiegeln meint nicht die Identifikation mit den Opfern, sondern das genaue Gegenteil: Im Kern geht es hier um Emphatie(fähigkeit), indem ich zum Resonanzkörper für mein Gegenüber werde. Dem Einlassen auf das, was das Spiegeln auszulösen vermag, steht in Deutschland meist noch eine generationell weitergegebene narzisstische/bedürftige Selbstbezüglichkeit entgegen, die in der eigenen Verstricktheit mit der Geschichte und deren Abwehr wurzelt. Erst die emphatische Annahme des Gegenübers ermöglicht es aber, durch das Zuhören zu erfahren, was dabei auch über sich selber zu lernen ist.

Gerade in lebensgeschichtlichen Interviews, wie sie mit Überlebenden des Holocaust häufig geführt werden, thematisieren die Zeitzeugen und –zeuginnen ihr gesamtes Leben. Sie erzählen zum Beispiel von ihren Kindheitserinnerungen, ihren Problemen mit den Eltern, ihren Lieblingsspeisen, dann häufig erst von Einbruch und Verlauf von Verfolgung, Versteck und Flucht und, ganz wichtig, vom Weiterleben danach. Durch das detaillierte Erzählen des ganzen Lebens kann beim Zuhörer und bei der Zuhörerin eine Nähe hergestellt werden, die dem Zulassen der Begegnung förderlich ist. Am Ende des Interviews wird typischerweise vom Biografen oder der Biografin betont, er oder sie habe sich zum Interview bereit erklärt, um für die Wahrheit der Geschehnisse zu zeugen und auf diesem Weg dazu beizutragen, dass sich die Geschichte nicht wiederhole. Viele Überlebende betonen damit selber explizit den Begegnungs- und Dialogcharakter des Zeugnisses, der als wichtiger angesehen wird, als einen Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung zu leisten.

Eine Annäherung an die Geschichte, die das empathische Spiegeln nicht in den Mittelpunkt stellt, leistet möglicherweise einer scheinbaren, weil narzisstisch motivierten, Distanzierung Vorschub. Zwar sind moralische Befassung und historische Aufarbeitung nicht voneinander zu trennen, sondern aufs Engste miteinander verwoben. Der Hinweis scheint jedoch angebracht, dass eine distanzierte, rein wissenschaftliche, „objektive“ Befassung insbesondere bei der Arbeit mit Zeitzeugen aufgrund der tief im gesellschaftlichen und individuellen Unbewussten verankerten Thematik in Deutschland kaum möglich ist und ins Gegenteil umzuschlagen droht, in die neuerliche Verleugnung der eigenen Verstricktheit.

 

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