Zeitzeugen sind alte Menschen, die vom Krieg erzählen
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Werner Imhof
Zeitzeugen – das sind alte Menschen, die vom Holocaust berichten, so lautet ein verbreitetes Vorurteil. Die Brücke/Most-Stiftung zur deutsch-tschechischen Verständigung und Zusammenarbeit in Dresden und Prag betreibt seit acht Jahren Zeitzeugenprojekte. Und in der Tat waren es in den ersten Jahren vor allem tschechische Holocaust-Überlebende und ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die im Rahmen dieser Programme deutschen Jugendlichen begegneten. Seit 2010 sitzen den Schülerinnen und Schülern indes gelegentlich auch Vierzigjährige gegenüber. Auch sie berichten vom Leben unter totalitären Regimen: der DDR und der ČSSR.
„Geschichte verbindet“ ist der programmatische Name des jüngsten Zeitzeugenprojekts. Gemeinsam mit der tschechischen Partnerorganisation „Collegium Bohemicum“ in Ústí n. L. wurde ein dreijähriges Oral-History-Projekt für Schulen in den deutsch-tschechischen Euroregionen konzipiert, das von der EU durch „Ziel 3/Cíl 3“, den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sowie den Projektpartnern finanziert wird.
Die Ziele sind ambitioniert: 132 Zeitzeugengespräche sollen bis Ende 2012 stattfinden. Sie werden durch lokale historische Spurensuche, Gedenkstättenbesuche und andere Formen des entdeckenden Lernens vorbereitet und in verschiedener Weise dokumentiert: Durch Ausstellungen, Wandzeitungen, Video-, Internet- und Hörfunkprojekte. Angestrebt wird dabei, aktivierende, handlungsorientierte Lernformen einzusetzen und die Lernenden eigenverantwortlich in alle Phasen des Projekts einzubinden. „Highlights“ sind dann jeweils die Zeitzeugengespräche.
Bei Collegium Bohemicum und der Brücke/Most-Stiftung betreuen die Historiker Thomas Oellermann und Werner Imhof die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und beraten teilnehmende Schulen. Es steht ein umfangreiches Instrumentarium zur Einbindung der Begegnungen in den Lernprozess zur Verfügung. Abrufbar sind alle Informationen und pädagogischen Begleitmaterialien über die Internetadresse www.zeitzeugen-dialog.de bzw. www.dialog-pametniku.cz. Dort finden sich Informationen, Online-Lernstationen und Arbeitsblätter für den Unterricht zu Themen wie „Totalitarismus“, „Zwangsarbeit“, „Diskriminierung und Rassenwahn“, aber auch „Spurensuche“, „Oral History“, „Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung einer Zeitzeugenbegegnung“ oder „Videodokumentation“. Kommentierte Literatur- und Linktipps ermöglichen eine vertiefte Beschäftigung mit dem Lernstoff. Medien- und Veranstaltungshinweise geben eine Vorstellung davon, was aktuell rund um Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung diskutiert wird.
Die Webseiten sind vernetzt mit dem in beiden Ländern sehr verbreiteten sozialen Netzwerk „Facebook“. Jede Begegnung wird dort mit Fotos dokumentiert, und die Jugendlichen haben Gelegenheit, eigene Reaktionen, Dokumentationen und Kommentare online zu stellen.
Jährlich werden zwei Fortbildungen zum Thema angeboten. Sie vermitteln Anregungen und „best practice“-Beispiele zu einem spannenden und nachhaltigen Lernen aus der Geschichte. Vom 16. bis 18. März 2011 beschäftigen sich tschechische und deutsche Schülerinnen und Schüler mit „Neuen Zeugen und Spuren der Dikaturen“, vom 22. bis 24. September 2011 haben Lehrkräfte aus Deutschland und Tschechien Gelegenheit, aktuelle Formen und Angebote zu einem handlungsorientierten Geschichtsunterricht kennen zu lernen. Beide Seminare finden in der Bildungsstätte der Brücke/Most-Stiftung am Dresdener Elbufer statt (www.bruecke-zentrum.de).
Neben der Attraktivität der methodischen Herangehensweise weist „Geschichte verbindet“ einen bedeutenden Zusatznutzen auf: In den Begegnungen untereinander im Rahmen der Seminare und mit den Zeitzeugen erfahren die Jugendlichen aus beiden Ländern oft mehr über ihr Nachbarland als in ihrer gesamten übrigen Schulzeit. Sie verbinden diese Kenntnisse mit konkreten Personen und erinnern sie deshalb besonders nachhaltig.
Ein Beispiel: Schülerinnen und Schüler aus Dresden begaben sich auf die Spuren ihres „verschwundenen Nachbarn“ Michal Salomonovič. Als in Dresden eingesetzter jüdischer Sklavenarbeiter erlebte er im Februar 1945 die Bombardierung der Stadt. Der kleine Junge hatte zuvor bereits das Ghetto Litzmannstadt und die Konzentrationslager Auschwitz und Stutthof erlitten. Die ganze Schulklasse lief nun einen Teil der Strecke des Todesmarsches ab, der die letzte Station des Leidensweges von Salomonovič war: von Dresden nach Pirna. Nur musste der junge Tscheche damals mit seinem Bruder und seiner Mutter noch 270 km weiter laufen. Die Schülerinnen und Schüler waren schon nach zwanzig Kilometern erschöpft. Nach einem langen Zeitzeugengespräch mit Salomonovič erarbeiteten sie dann eine Ausstellungstafel als Beitrag zu der Ausstellung des Prager Jüdischen Museum „Verschwundene Nachbarn“. Sie wurde im Rahmen der Deutsch-Tschechischen Kulturtage im November 2010 in der Alten Feuerwache Loschwitz gezeigt.
Das Projekt wird schrittweise um neue Themen und Zeitzeugen erweitert: Migranten in der DDR und in der Tschechoslowakei aus Vietnam, dem Tschad und Griechenland, Sudetendeutsche, Sportler.
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- 9 Mär 2011 - 14:05