Dr. Christian Schmidtmann unterrichtet Geschichte, Deutsch und katholische Religion an einem Gymnasium und bildet als Fachleiter im Studienseminar Hamm angehende Geschichtslehrer aus.

Von Christian Schmidtmann

Was jüngst die Historikerin Ulrike Jureit sowie der Soziologe und Psychoanalytiker Christian Schneider in ihrem Aufsehen erregenden Buch „Gefühlte Opfer“ für die öffentliche Gedenkkultur konstatierten (Lesen sie hier die Rezension des Buches), ist auch in vielen deutschen Klassenzimmern Realität: Der Holocaust wird im Unterricht sehr stark moralisierend behandelt, den Schülerinnen und Schülern werden oberflächliche Bekenntnisse abgefordert. Durch Unterrichtsarrangements, die auf Nacherleben zielen und hochgradig normativ überformt sind, zerfließen zudem die Grenzen zwischen Empathie und Identifikation. Die häufig zu beobachtenden Personalisierungen und die Beschäftigung mit Einzelschicksalen dienen vor allem dazu, die kanonische Erzählung von Verfolgung und Grausamkeit zu illustrieren. Opfer werden erneut zu Opfern gemacht, eingeübt wird das ritualisierte, politisch korrekte Sprechen über den Massenmord, der Holocaust wird instrumentalisiert.

Szenenwechsel: Aus den Boxen der Videoanlage schallt Gloria Gaynors Partyhit „I will survive“, auf dem Bildschirm ist ein alter, schon ein wenig gebrechlicher Mann zu sehen, der mit vier jugendlichen Menschen etwas ungelenk zu der Musik tanzt. Die Zwölftklässler lümmeln sich auf ihren Stühlen, einige wippen mit den Beinen im Takt des Liedes. Doch die entspannte Atmosphäre weicht bald großer Stille und Konzentration: Der Mann trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „survivor“, er tanzt vor den Konzentrationlagern Auschwitz, Dachau und Theresienstadt und posiert mit dem Victory-Zeichen vor einem Verbrennungsofen. Handelt es sich doch um das Video „Dancing Auschwitz“ der israelischen Künstlerin Jane Korman. Es zeigt ihren Vater, den Aschwitzüberlebenden Adolek Kohn und seine Enkel. Konzipiert wurde der Kurzfilm für eine Ausstellung, breite Aufmerksamkeit erlangte er nach seiner Veröffentlichung auf der Internetplattform youtube. Nach Ende des Videos sind die meisten Schülerinnen und Schüler, die den Film soeben im Unterricht gesehen haben unsicher und erstaunt, schwanken zwischen Zustimmung und Ablehnung. Eine rege Diskussion entspinnt sich. Darf er das? Verhöhnt sein Tanz nicht diejenigen, die umgekommen sind und die Überlebenden, die in den Lagern für immer physisch und psychisch zerstört wurden? Oder: „Endlich mal nicht die Tränendrüse, toller Typ“, so eine spontan vom Video begeisterte Schülerin. „Ich weiß gar nicht recht, was ich denken soll“ bringt ein Schüler die Stimmung von vielen anderen in der Gruppe auf den Punkt.

Offenbar liegt das Video quer zum sonst gepflegten schulischen Diskurs. Macht es doch nicht den Holocaust, sondern den Umgang mit ihm zum Gegenstand des Unterrichts. Außerdem zeigt es ein Opfer, das eben nicht mehr nur ein „typisches“ Opfer ist. Eine für sich legitime, aber sicher nicht unproblematisch universalisierbare und schon gar nicht einforderbare Haltung, so muss man festhalten. Aber im Gegensatz zu vielen im Unterricht eingesetzten Materialien, die sich sonst mit dem Holocaust beschäftigen, fordert das Video eben nicht zum „Mitleiden“ auf, es verlangt keine eindeutige spezifische „Haltung“ und stellt keine „Verpflichtung“ für das Handeln in der Gegenwart dar. Trotzdem lässt das Gesehene keine der Schülerinnen und Schüler kalt, das Video unterläuft ihre Erwartungen und „verstört“ sie. Der Schrecken über Auschwitz bleibt präsent, aber der Zwang, sich unbedingt mit dem Opfer zu identifizieren, ist gebrochen. Man kann etwa Adolek Kohns Aktion mit guten Gründen ablehnen, man kann verunsichert aber auch begeistert sein. Genau das halte ich für eine große Chance. Es öffnet sich ein weiter Raum für eine nicht normativ vorgeformte Positionierung der Schülerinnen und Schüler. Eine multiperspektivische Sicht auf den Holocaust, die weder verharmlost noch emotionale Betroffenheit abverlangt und eben auch Ratlosigkeit zulässt, wird möglich. Das Video lässt wirkliche Diskussionen unter Schülerinnen und Schülern zu: Was bedeutet der Holocaust für uns? (Wie) sollen wir daran erinnern, wie damit umgehen? Wie stehen wir zu den Opfern? Und nicht zuletzt: Sie interessieren sich in hohem Maße für Adolek Kohn, nicht allein als Opfer, sondern als Individuum, das seine Individualität im Tanz mit seinen Enkeln zum Ausdruck gebracht hat.

Zum Video "Dancing Auschwitz".

 

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