Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung
Von Markus Nesselrodt
Die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe und Psychoanalytiker Christian Schneider haben ein wichtiges Buch zur Debatte um die deutsche Erinnerungskultur vorgelegt. Jureit und Schneider wollen in ihrem Buch die deutsche Erinnerungskultur der vergangenen fünf Jahrzehnte einer grundsätzlichen Reflexion unterziehen. Sie stellen wesentliche Erinnerungsmuster und -praktiken vor und hinterfragen deren theoretische und moralische Grundlagen. Den Autor/innen geht es dabei um das große Ganze, um eine Gesamtkonfiguration, die sie als „opferidentifizierte Erinnerungskultur“ bezeichnen.
In der Einleitung stellen Jureit und Schneider die These auf, die deutsche Vergangenheitsbeschäftigung stehe unter dem Zeichen einer Wiederholungsphobie, das heißt der Angst vor der Wiederkehr der Vergangenheit. Aus historischer (1. Buchhälfte) und sozialpsychologischer Perspektive (2. Buchhälfte) nähern sich die Autor/innen diesem Phänomen. Jureit und Schneider erklären sich die Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur als eine Folge des gesellschaftlichen Wandels der 1960er und 1970er Jahre. Die heute 60jährigen diktierten den Umgang mit der Erinnerung, für die sie vor 40 Jahren gegen ihre Eltern gekämpft hatten. Es handelt sich also um eine Generationsfrage: Die Kinder der Täter, die sogenannte zweite Generation, wollten sich frei fühlen, frei von Schuld an den Verbrechen ihrer Väter und Mütter. Für diese subjektive Befreiung von den Lasten der Eltern wählte die zweite Generation den Weg der Konfrontation, der Aufarbeitung und des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Diese Einstellung habe, so die Autor/innen, entscheidende Auswirkungen auf die bis heute dominierende Erinnerung an den NS und den Holocaust gehabt.
„Erinnerung heißt Erlösung“
Im ersten Teil des Buches sucht die Historikerin Ulrike Jureit nach den Grundlagen des Paradigmas der Opferidentifikation. Der Schlüssel zum Verständnis sei dabei die Figur des „gefühlten Opfers“, welche im deutschen Gedenken eine herausragende Rolle einnehme und mittlerweile erinnerungspolitische Norm sei.
Wesentlichen Einfluss schreibt die Autorin der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes zu. Seine Worte brachten geradezu paradigmatisch das Verständnis der zweiten Generation zum Ausdruck: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Interessanterweise bezieht sich Weizsäcker hier auf eine Weisheit, die wahrscheinlich auf den jüdischen Geistlichen Baal Schem-Tov zurückgeht. In seiner Rede stellte der Bundespräsident einen Ausweg aus dem scheinbar endlosen Erinnern an den NS und den Holocaust in Aussicht. Versöhnung sei dann möglich, wenn man sich nur genug erinnere. Doch dieser versprochene Ausweg aus der Vergangenheit hat verhängnisvolle Folgen, denn das Erinnerungsgebot des Judentums wird als Vorschrift missverstanden und mit einem christlichen Erlösungsversprechen verbunden: „Wer nur aufrichtig und intensiv genug an die deutschen Massenverbrechen erinnert, der darf auf Versöhnung, ja auf Erlösung hoffen.“ (11) Hier wird also ein religiöses Heilsversprechen in ein säkulares System der Vergangenheitsbearbeitung übertragen. Dabei wird zumeist verdrängt, dass dieses Versprechen nie eingelöst werden kann. Dazu kommt, dass viele Menschen die intensive Beschäftigung und Erinnerung an die Vergangenheit als einen Stillstand wahrnehmen, der nicht vergehen kann.
Am Beispiel des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas weist Jureit nach, wie stark das Bauwerk ein ästhetischer Ausdruck der Identifikation mit den Opfern ist. Sein Architekt, Peter Eisenmann, brachte die Kernidee des Denkmals folgendermaßen auf den Punkt: „Wenn in 50 Jahren ein japanischer Tourist kommt, der nichts vom Holocaust weiß, fühlt er etwas, sobald er das Monument betritt: Vielleicht spürt er, wie es ist, in die Gaskammer zu gehen“. (Zitat auf S. 29) Der Besucher soll also eine sinnliche Erfahrung machen, er soll nachempfinden, wie es den Opfern ging. Für Jureit ist das Denkmal der in Stein gegossene Ausdruck für das Verharmlosungs- und Verleugnungspotential des opferidentifizierten Erinnerungskonzeptes. Das Problem sei hierbei, dass ein auf Versöhnung und Identifikation ausgerichtetes Gedenken sich den widersprüchlichen und emotional ambivalenten Anteilen des Erinnerns kaum stellt. Im Gegenteil: Im Land der Täter identifizieren sich am Ende alle mit den Opfern. In der Folge werden die Täter aus der Erinnerung ausgeblendet, sie sind nicht mehr Teil der Erinnerungsgemeinschaft. Diese einseitige Sicht auf die Vergangenheit bringt auch jede Debatte um Flucht und Vertreibung, Bombenopfer und Kriegswaisen zwangsläufig in den Verdacht, mit dem opferidentifizierten Erinnerungsgebot in Konkurrenz zu stehen. Bei aller gerechtfertigten Kritik an der politischen Vereinnahmung dieser Debatten gelte doch, so Jureit, dass normiertes Erinnern unseren Blick auf die komplexe Geschichte verenge. Die Mahnungen an ein drohendes Vergessen hätten heute nicht mehr die gleiche Berechtigung wie noch in den Debatten um eine Kollektivamnesie der 1950er und 1960er Jahre. Stattdessen dominiere eine Erinnerungskultur, die die Opfer umarmt und zugleich die Täter anonymisiert.
„Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“
Im zweiten Teil des Buches widmet sich der Soziologe und Forschungsanalytiker Christian Schneider dem Wandel in der deutschen Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit. Dabei spielen seiner Meinung nach drei Bücher der späten 1960er Jahre eine entscheidende Rolle: Theodor W. Adornos Negative Dialektik, Jürgen Habermas' Erkenntnis und Interesse sowie Alexander und Margarete Mitscherlichs Unfähigkeit zu trauern. Diese Werke bildeten die theoretische Basis für den Kampf der zweiten Generation gegen die etablierte Gesellschaft. Von besonderer Bedeutung waren erstens die von Adorno eingeführte Figur des Entronnenen, der der Vernichtung entgangen war und stellvertretend für die Opfer spricht; zweitens Habermas' Versprechen, die eigene Geschichte lückenlos einholen zu können und schließlich der Begriff der Trauerarbeit, wie ihn die Mitscherlichs vorgeschlagen haben. Allen drei Büchern war gemeinsam, dass sie von der jungen Studentengeneration argumentativ im Kampf gegen die ausgebliebene Vergangenheitsbearbeitung der Eltern eingesetzt wurden. Die teils vereinfachenden oder grob verallgemeinernden Schlüsse eigneten sich insbesondere dazu, die eigene Geschichte nicht nur zu verstehen, sondern sich auch moralisch von ihr befreien zu können.
Scheinbar mit Erfolg: Die deutsche Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit gilt weltweit als ein vorbildliches Beispiel. Für die intensive historische Rekonstruktion, das Schuldeingeständnis und die nachträgliche Übernahme von Verantwortung für die Massenverbrechen des NS hat sich die BRD in den letzten 40 Jahren eingesetzt. Neben der (unvollständigen) Strafverfolgung der Täter und der Entschädigung der Opfer umfasste die Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Modell auch erinnerungspolitische Maßnahmen und geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung. Diese Bereiche konnten sich auch deshalb so breit entwickeln, weil sie nicht nur staatlich, sondern auch zivilgesellschaftlich initiiert wurden. Dabei fällt auf, dass sich nur bestimmte Deutungen der Vergangenheit durchsetzen konnten und die prägende Orientierung an der Kategorie der Schuld mittlerweile „ein kathartisches Erinnerungsgebot“ hervorgebracht hat. Das ritualisierte Gedenken zu wichtigen Jahrestagen mit seiner zur Schau gestellten Moral und seinem inszenierten Pathos habe, so Schneider, selbst bei denen zu Erschöpfung, Langeweile und Unbehagen geführt, die die Erinnerung an die Verbrechen des NS bewahren möchten. So fragt der Autor, warum viele Menschen in Deutschland heute das Gefühl haben, in einer erinnerungspolitischen Sackgasse gelandet zu sein? Die Gretchenfrage der deutschen Erinnerungskultur müsse deshalb zu Beginn des 21. Jahrhunderts anders gestellt werden als noch vor 40 oder 50 Jahren: Wie kann die Shoah angesichts einer „Globalisierung des Holocaust“ 65 Jahre nach Kriegsende erinnert, transformiert und historisiert werden? Über diese Frage sollte schon deshalb ernsthaft nachgedacht werden, weil der Holocaust mit oder ohne deutsches Zutun zunehmend zu einer Art negativem Gründungsmythos Europas und der Welt wird.
Ulrike Jureit und Christian Schneider haben kein leicht verdauliches Buch geschrieben. Ihre Argumentation will aufrütteln und zur kritischen Reflexion eingeübter Erinnerungs- und Gedenkformen anregen. Dabei geht es weniger um einen Tabubruch, als vielmehr um ein Plädoyer für eine mutige, differenzierte Erinnerungskultur. Das Buch ist deshalb allen zu empfehlen, die die Frage „Was geht uns das heute eigentlich noch an?“ der mittlerweile vierten Generation und die interkulturelle Realität an vielen Schulen Deutschlands ernst nehmen.
Interview mit Autorin Ulrike Jureit
Auf den Seiten von Deutschlandradio Kultur können Sie sich ein Gespräch mit der Autorin zum Buch „Gefühlte Opfer“ anhören.
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- 19 Jan 2011 - 11:44