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Antisemitismus heute

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Juliane Wetzel ist wissenschaftliche Angestellte am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Zudem ist sie unter anderem geschäftsführende Redakteurin des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung.

Juliane Wetzel

Antisemitismus ist ein in der Regel latent vorhandenes Muster feindseliger Überzeugungen gegen Juden. Es richtet sich gegen „die Juden“ als Kollektiv und bedient sich eines breiten Spektrums ausgrenzender und stigmatisierender Stereotypen, Vorurteile, Ressentiments und Klischees. Antisemitische Ressentiments bleiben im Allgemeinen latent, d.h. im Unterbewusstsein, beschränken sich auf die Einstellungsebene und lassen sich über Meinungsumfragen ermitteln. In den letzten 20 Jahren lag der Wert solcher antisemitischer Haltungen in Deutschland in der Regel zwischen 15 und 20%. Dagegen steht der manifeste Antisemitismus, der sich in Übergriffen auf Personen, in Friedhofsschändungen und Sachbeschädigungen, aber auch in Propagandadelikten äußert.

Formen des Antisemitismus

Wir unterscheiden verschiedene Formen von Antisemitismus, die z.T. bis heute Wirkung haben. Die christliche Judenfeindschaft, der Antijudaismus tritt in den westeuropäischen Ländern nur noch selten in Erscheinung, hat aber durchaus noch Einfluss in Ländern wie Polen, Ungarn und Spanien. Versatzstücke dieses christlichen Antisemitismus finden sich auch heute noch im aktuellen Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt nicht nur in sektiererischen Kreisen, sondern auch darüber hinaus. Der so genannte moderne Antisemitismus, wie die Formen der Judenfeindschaft bezeichnet werden, die gleichzeitig mit der Einführung des vermeintlich wissenschaftlichen Begriffs 1879 entstanden sind, den Rassenantisemitismus meinen und im Holocaust mündeten, sind heute noch in Teilen des rechtsextremen Lagers gegenwärtig, werden aber auch dort zunehmend von aktuelleren Themen – etwa sozialen Fragen - abgelöst.

Im Wesentlichen haben wir es heute mit zwei Formen des Antisemitismus zu tun, die erst nach dem Ende des Nationalsozialismus entstanden sind. Wobei der sekundäre Antisemitismus, der „Antisemitismus wegen Auschwitz“ wie er auch bezeichnet wird, eine unmittelbare Folgen des Genozids an den europäischen Juden ist. Er speist sich aus Gefühlen der Schuld- und Schamabwehr und richtet sich gegen Entschädigungs- und Wiedergutmachungszahlungen. Juden werden als diejenigen gesehen, die die Deutschen ständig an die NS-Verbrechen erinnern. Die Verfechter des sekundären Antisemitismus fordern einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit und umschreiben damit eigentlich nur die Verweigerung der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Die Holocaust-Leugnung ist die extremste Form des sekundären Antisemitismus. Der Verbreitung der „Auschwitzlüge“, vor allem über das Internet, bedienen sich unterschiedliche politische Gruppierungen aus dem rechtsextremen, dem islamistischen, aber auch dem esoterischen Lager sowie manche christliche Sekten.

Die wohl aktuellste Form des Antisemitismus ist der Antizionismus oder auch die antisemitische Israelkritik. Gemeint ist hier nicht eine kritische Einstellung gegenüber der israelischen Regierung, dem Vorgehen des israelischen Militärs in den besetzten palästinensischen Gebieten oder gegen israelische Politiker. Eine solche Kritik ist legitim und keineswegs ein Tabu. Allerdings wird die Grenzlinie zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus/Antizionismus dann überschritten, wenn das Existenzrecht des Staates in Frage gestellt oder gar negiert wird und Juden anderer Länder in einer Art Stellvertreterfunktion für diese Politik verantwortlich gemacht werden. Von einer legitimen Kritik kann auch dann nicht mehr gesprochen werden, wenn beispielsweise Israelis und Nazis als Synonym verwendet oder ein von Israel verübter „Holocaust“ an den Palästinensern unterstellt wird bzw. eine Täter-Opfer-Umkehr erfolgt.

Trägerschichten

Antisemitische Stereotype sind heute keineswegs auf die politischen Ränder beschränkt, sie sind vor allem zunächst einmal ein Problem der Mehrheitsgesellschaft und in allen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Spektren zu finden. Radikale Formen des antijüdischen Vorurteils sind im Rechtsextremismus, im Islamismus, d.h. jener Ideologie, die den Islam für politische Ziele missbraucht, und in Teilen des Linksextremismus virulent. Waren und sind die Hauptvertreter des vergangenheitsbezogenen Antisemitismus in Europa vom extrem rechten bis hinein ins konservative Lager zu finden, bedienen sich eines nahostbezogenen Antisemitismus bzw. antizionistischer Formen des antijüdischen Vorurteils auch Akteure aus dem linken, dem globalisierungskritischen und dem islamistischen Spektrum. Der heutige Antisemitismus in der arabischen Welt und jener, den wir in Teilen der muslimischen Bevölkerung in Europa erleben, ist ein „islamisierter Antisemitismus“ (Michael Kiefer), der wenig religiöse Wurzeln hat, jedoch politische Ziele verfolgt und die Religion für die Austragung eines territorialen, politischen Konflikts benutzt. Verbreitung finden solche Stereotypisierungen insbesondere im Internet oder in Fernsehsendungen, die per Satellit nach Europa übertragen werden.

In den letzten Jahren verstärkt sich allerdings der Eindruck, dass nahezu ausschließlich antisemitische Dispositionen von Jugendlichen arabischer oder türkischer Herkunft im Mittelpunkt des Interesses der Medien stehen. Die Fokussierung auf den „islamisierten Antisemitismus“ (Michael Kiefer) übernimmt auf diese Weise eine Stellvertreterfunktion, die eine Verdrängung der Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen in der Mehrheitsgesellschaft ermöglicht, und passt allzu gut in das Repertoire einer islamfeindlichen Stimmung, die ihn als willkommene Schuldzuschreibung gegen die Muslime in Deutschland nutzt. Jüngste Untersuchungen an der Fachhochschule Hannover haben gezeigt, dass in Gruppeninterviews mit Jugendlichen verschiedener Herkunft etwa jene aus Familien, die als Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, sehr viel offener und radikaler antisemitische Stereotype äußern als jene mit einem arabischen oder türkischen Hintergrund. Zudem hat das Forscherteam festgestellt, dass die befragten Lehrer entweder das Phänomen antisemitischer Äußerungen in den Klassenzimmern kaum bemerkten oder eine einseitige Zuschreibung auf „die Muslime“ vornahmen. Damit wird deutlich, dass die mediale Präsenz des Themas „Antisemitismus unter Muslimen“ und die z.T. ausschließliche Konzentrierung auf sie als vermeintlich einzige Trägerschicht nicht ohne Folgen auf die Pädagogen bleiben.

Das Thema „islamisierter Antisemitismus“ darf keineswegs ausgespart werden, muss aber in die richtige Relation zu anderen Trägerschichten des Antisemitismus in der bundesdeutschen Gesellschaft gestellt werden. Rechtsextreme antisemitische Straftaten sind heute immer noch eine größere Bedrohung für Juden in Deutschland. Antisemitische Straftaten sind bisher in Deutschland nur vereinzelt Tätern mit muslimischem Migrationshintergrund zuzuschreiben, verbale Übergriffe auf Juden aus diesem Kreis nehmen jedoch zu.

Durch die mediale Aufmerksamkeit, die antisemitische Ressentiments unter einem Teil der Jugendlichen mit muslimischem Migrationshintergrund in den letzten Jahren bekamen, ist der Eindruck entstanden, Aufklärungsarbeit und Gegenstrategien müssten sich alleine auf diese Gruppe beschränken – nicht zuletzt hat auch das Förderprogramm der Bundesrepublik seinen Fokus vorrangig auf diese Gruppe konzentriert. Dies allerdings geht an der Realität vorbei. Die Bekämpfung des Antisemitismus darf sich nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränken, sondern sie muss als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen insbesondere in der Schule und in der Jugendarbeit thematisiert werden.

 

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Antwort auf einen anonym verfasst Kommentar

Antisemitismus, der einer antizionistischen Haltung entspringt ist ohne Frage ein ernstzunehmendes Problem, auch wenn in dieser Frage die Formulierung "israelbezogener Antisemitismus" vielleicht treffender erscheinen mag.

Die umstandslose Gleichsetzung von Antizinionismus und Antisemitismus greift zu kurz und ignoriert, dass es vor dem Holocaust und vor der Staatsgründung Israels der Zionismus keine derart zentrale Stellung innerhalb der unterschiedlichen Strömungen des Judentums einnahm, wie im Verlauf des Zweiten Weltkrieges und im späteren Bewusstsein von der Vernichtung des europäischen Judentums. So wandte sich der jüdische Philosoph Hermann Cohen aus einer messianischen Haltung heraus in seiner Schrift von 1919 "Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" gegen den Zionismus; dieses nur als ein mögliches Beispiel. Erst die Erfahrung des Holocaust und die Existenz Israels als scheinbar einzig sicherem Ort für Jüdinnen und Juden macht die Ineinssetzung von Antisemitismus und Antizionismus möglich. Gleichzeitig greift diese Gleichsetzung nach wie vor zu kurz.

Um nicht missverstanden zu werden: Sowohl der Antisemitismus in der stalinistischen Sowjetunion, der sich die Maske des Antizionismus aufsetzte, die Kampagne gegen Paul Merker in der DDR, die ähnlich motiviert war oder der in Antisemitismus kippende Philosemitismus von Teilen der Linken im Angesicht des 6-Tage-Krieges im Jahr 1967 sind unsäglich und zu kritisieren. Gleiches gilt auch für Mitglieder der Linkspartei, die sich im Angesicht der Erstürmung der angeblichen Friedensflotte bzw. der „Mavi Marmara“ durch die israelische Armee, wie Annette Groth, Inge Höger und Norman Paech als Überlebende eines angeblichen Massakers gerieren und denen es gleichgültig ist, dass sie de facto zu Unterstützern von Islamisten und Judenhassern geworden sind. In der Tat gibt es auch so etwas wie eine Querfront von Djihadisten und Linken. Nur ist der Antisemitismus keine Domäne der Linken oder des Islam, wie der oder die unbekannte Autor/in nahelegt.
Vielmehr ist der moderne Antisemitismus ein Produkt der europäischen Moderne, der neben dem aufklärerischen Denken auch die Tendenz zu einer Selbstzerstörung der Vernunft immanent war und ist. Im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die rasante Durchsetzung des Kapitalismus entstanden, haben viele Stereotype des modernen Antisemitismus ihre Herkunft im christlichen Antijudaismus. Im Antisemitismus werden die negativen Erscheinungen der Moderne personifiziert und auf die Juden projiziert. Dabei liegt im eine manichäische Weltsicht zugrunde, die die Welt in simple Schematat von Gut und Böse aufteilt. Der moderne Antisemitismus gelangte – wenn diese Darstellung auch etwas verkürzt - vor allem im Zuge des Kolonialismus in die islamische Sphäre.

Sicherlich finden sich im Koran judenfeindliche Suren, ebenso wie es in der christlichen Bibel Verse gibt, die sich gegen Juden richten. Aber es finden sich im Koran auch Suren, wie beispielsweise die Sure 17,104, in der es heißt „Und nach ihm sprachen Wir zu den Kindern Israels: <>“ Die Koransuren und das aus ihnen sprechende ambivalente Verhältnis Mohammeds zu den Juden spiegeln in Teilen seine realpolitischen Differenzen zu den jüdischen Stämmen wider. Daraus lässt sich aber keine grundsätzliche Feindschaft des Islam konstruieren. Das Verhältnis der beiden großen monotheistischen Religionen zum Judentum ist durchaus ambivalent und wird sowohl durch eine entsprechende Textexegese und die jeweilige Glaubenspraxis geprägt. Letztere ist aber heute kaum noch loszulösen von einer kapitalistischen Moderne, die nicht nur Europa, sondern auch die islamische Welt vollkommen durchdrungen hat. So findet sich ein islamisierter Antisemitismus in Teilen der muslimischen Welt, der auf antijüdische Stereotype zurückgreift, die aus dem christlichen Kontext entstammen. Beispielsweise findet sich das Stereotyp von Juden, der christliche Kinder ermordet, um aus ihrem Blut Matze zu backen in antisemitischen aus arabischen Zeitungen Karikaturen wieder, die den ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon als kinderfressendes Monstrum darstellen.

Es ist keine Frage: Der ehemalige Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini war ein genuiner Antisemit und mehr als nur ein Kollaborateur mit den Nationalsozialisten. Nur lässt sich aus seiner Person, oder aus anderen Einzelpersonen, eine Judenfeinschaft des Islam im Gesamten ableiten? Das ist ein mehr als fragliches Vorgehen. Damit reduziert der Kommentator komplexe gesellschaftliche Verhältnisse auf Einzelpersonen. Analytisch ist eine solche Vorgehensweise wenig sinnvoll und nur dazu geeignet selber Vorurteile zu bestätigen. Außerdem geht sie an den komplexen Verhältnissen zwischen Muslimen, Juden, aber auch Christen im Osmanischen Reich vorbei. Zu diesen Verhältnissen gehören sowohl antijüdische Maßnahmen und auch Pogrome, wenn auch nie in der Art wie sie die christliche Welt kannte, aber es gehören dazu auch gegenseitige Befruchtungen in Kultur, Handel und Wissenschaft. Ebenso ambivalent war die Dhimma, also die islamische Rechtsregelung gegenübber Angehörigen der Buchreligionen wie Juden und Christen im Osmanischen Reich. Das hier im Einzelnen auszuführen würde zu weit führen und ich kann nur die Lektüre u.a. von Bernhard Lewis bekanntem Buch "Die Juden in der islamischen Welt: vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert" zu der Thematik empfehlen.

Der Antisemitismus ist eine Ideologie mit amorpher Struktur, in der jede Projektion erlaubt scheint und er verändert sich zu verschiedenen Zeiten und Hintergründen, wie der Politologe Lars Rensmann festgestellt hat. Dementsprechend lässt er sich bei verschiedenen Trägerschichten ausmachen. Daher findet sich Antisemitismus sowohl in der Linken, als auch bei Muslimen. Er ist jedoch für beide nicht konstitutiv und findet sich weit verbreitet auch in der so genannten Mitte der Gesellschaft. Für den Rechtsextremismus ist und bleibt der pathische Judenhass allerdings grundlegend. Das zeigen auch Ergebnisse der jüngsten Studie der Friedrich Ebert Stiftung „Die Mitte in der Krise“.

Diese kurzen Ausführungen sind unvollständig. Sie können nur andeuten, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, sei es in der Linken oder unter Muslimen doch etwas komplexer ist, als der Kommentar nahelegt. Wer den Antisemitismus als grundlegendes Element der Moderne ignoriert und es sich leicht macht, in dem er ihn ausschließlich als Problem einzelner Trägerschichten ausmacht, neigt zu einer Verharmlosung der Problematik, ohne es zu wollen. Dabei sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, jeglicher Form von Antisemitismus entschieden zu begegnen. Ebenso ist es problematisch die Geschichte ausschließlich von einem Post-Holocaust-Standpunkt aus zu betrachten. Eine solche Betrachtung lässt es nahe liegend erscheinen, dass die Geschichte des Antisemitismus beinahe zwangsläufig auf die Schoa zulaufen musste. Handlungen Einzelener und alternative Entscheidungsmöglichkeiten werden dann ausgeblendet. Gleichzeitig offenbart sich unter Umständen Argumentationen, die auf einem Halbwissen basieren, wie die des vorliegenden Kommentars u.U. eine problematische Nähe zu xenophoben Einstellungsmustern, die selber bereits einen ideologischen Charakter haben.

Eine der klügeren Anmerkungen aus der letzten Zeit, die diese Problematik aufgreift, stammt von dem Journalisten Alan Posener: „ Zu den guten Traditionen des Diaspora-Judentums gehört es, sich mit anderen Minderheiten solidarisch zu erklären und ihnen beizustehen, wenn der Mehrheit, was immer wieder geschieht, die Sicherungen durchknallen. (Diese Sicherungen nennt man heutzutage „politische Korrektheit“.) Die Juden tun dies nicht, weil sie – etwa infolge eines besonderen Gens – von Natur aus Gut- oder Bessermenschen wären, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse.
Sie wissen, dass die Fremdenphobie eine frei flottierende Angst vor dem angeblich Andersartigen ist, die sich heute gegen Muslime, morgen gegen Zigeuner, übermorgen gegen Schwule und immer wieder – zumal in unserem angeblich „jüdisch-christlich geprägten“ Kulturkreis – gegen die Juden, das Urbild des Anderen, das „Volk der Gottesmörder“, wenden kann, ja wenden muss.“