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Von Marginalisierung zum Anti-Israelismus und zurück

Interkulturelle medienpädagogische Arbeit zum Nahost-Konflikt

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Julia Eksner ist promovierte Lernwissenschaftlerin. Seit 2000 Videoprojekte mit Minderheitenjugendlichen in Chicago, Berlin, und Tel Aviv. Zurzeit ist sie Postdoc an der Hebrew University of Jerusalem und arbeitet im Bereich der Social Justice und Peace Education. StreetGriot Medienpädagogik e.V. wurde 2006 gegründet und führt interkulturelle medienpädagogische Projekte durch, die sich insbesondere den Erfahrungen von marginalisierten Jugendlichen widmen. Website: streetgriot.net Kontakt: julia [at] streetgriot [dot] net

Von Julia Eksner

Zum Zeitpunkt des zweiten Gaza-Krieges (2008/2009) gingen Tausende von Berliner Jugendlichen mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund auf die Strasse. Dieser Artikel widmet sich der Bedeutung, den der Nahost-Konflikt für diese Jugendlichen hat, und darauf aufbauend unseren Ansätzen zur pädagogischen Bearbeitung dieses Konfliktes.

StreetGriot führt seit einigen Jahren medienpädagogische Projekte zum Nahost-Konflikt mit Jugendlichen durch und fokussiert in diesen auf die Emotionen und multiplen Perspektiven der Konflikt-Parteien. Wir arbeiten an Berliner Schulen, die mehrheitlich und fast ausschließlich von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund besucht werden, von denen wiederum die absolute Mehrheit türkischen oder arabischen Hintergrund haben. In unserer Erfahrung ist der Nahost-Konflikt ein Schlüsselthema, an dem historische, politische, identitätsbezogene und emotionale Themen bearbeitet werden können. In den Diskussionen und Aktivitäten in unseren Projekten zeigt sich, dass sich die Flucht- und Trennlinien in diesem Konflikt sich in komplexer Weise mit der Positionierung der Jugendlichen als ‚Muslime’ und ‚Migranten’ in Deutschland überlagern.

Zum Kontext unserer Arbeit: Unter Jugendlichen aus einigen Migranten-Communities in Deutschland existieren persönliche Verbindungen zur Konfliktregion Nahost. Viele Jugendliche mit palästinensischem Hintergrund nehmen durch die Vertreibung ihrer Familien im Jahre 1948 emotional Anteil an diesem Konflikt und solidarisieren sich stark mit der palästinensischen Seite. Auch Jugendliche aus anderen Migrantengruppen solidarisieren sich häufig im Kontext der ideologischen Polaritäten in denen sich die Herkunftsländer ihrer Familien vis-a-vis Israel befinden. Diese Positionierung wird von außen häufig als antisemitisch wahrgenommen und diesen Gruppen wird in Deutschland heute ein tief sitzender ‚muslimischer’ Antisemitismus zugeschrieben, der zurzeit in einer Reihe von Fördermaßnahmen (z.B. Bundeszentrale für Politische Bildung, Europäische Gemeinschaft) und Konferenzen (drei große Konferenzen allein im Jahr 2008 in Berlin) auch ins Blicklicht der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund gerückt wurde.

Die Studien von Wilhelm Heitmeyer zur Verbreitung von antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung zeigen, dass diese in der Gesamtbevölkerung Deutschlands - unter Reichen und Armen, Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund, unter Jung und unter Alt - verbreitet sind. Nichtsdestotrotz, wird das Scheinwerferlicht zurzeit auf diese Schieflage bei Jugendlichen mit (muslimischem) Migrationshintergrund gerichtet. So wird zum Beispiel die Solidarität von türkisch-deutschen Jugendlichen mit der palästinensischen Seite, da sie nicht selbst vom Konflikt betroffen sind, in diesem Ansatz über einen kulturalisierten ‚muslimischen’ Antisemitismus erklärt.

Vom ‚muslimischem’ Anti-Semitismus zum marginalisierten Anti-Israelismus

Obwohl der mediale und politische Diskurs einen ‚muslimischen’ Antisemitismus beschwört, trafen wir in unseren Projekten nur wenige Jugendliche mit verhärteten antisemitischen Positionen bzw. einem fest verankerten antisemitischem Weltbild. Dies bedeutet nicht, dass antisemitische Einstellungen und Vorurteile nicht vorhanden waren. Wie in anderen gesellschaftlichen Gruppen, gibt es auch unter diesen Jugendlichen gängige Stereotype und negative Einstellungen gegen die konstruierte kollektive Gruppe der „Juden“. Wichtig ist jedoch zu sehen, dass nur wenige unter den Jugendlichen in unseren Projekten antisemitischen Hass ausdrückten, oder ein verdichtetes antisemitisches Weltbild hatten.

Auf der Basis unserer Erfahrungen erscheint es uns treffender, die Einstellungen der Jugendlichen als anti-israelische Einstellungen zu verstehen, die wiederum kursierende antisemitische Einstellungen bedienen und verstärken als ‚muslimischen’ Antisemitismus: Die meisten Jugendlichen in unseren Projekten nahmen den Nahost- Konflikt als großes Unrecht wahr, auch wenn bei weitem nicht alle politisch Stellung bezogen. Es sind vor allem Gefühle der Trauer, Betroffenheit und Machtlosigkeit welche sich als Grundgefühl durch die Videos ziehen, die von Jugendlichen in unseren Projekten zu diesem Thema erstellt wurden. Distanz zu Israel, aber auch zu Hamas, waren zentrale Themen. Hass, auch antisemitischer Hass, war eher die Ausnahme.

Viele der Jugendlichen in unseren Projekten nahmen eine anti-israelische Position ein, an die sich ein weiteres, aber auch vages, Feld unterschiedlich stark ausgeprägter antisemitischer Einstellungen anschließt. Die inhaltliche Füllung des Begriffes ‚Jude’ unter den Jugendlichen ist zumeist nicht religiös oder ethnisch fokussiert, was auf eine antisemitische Konnotation hinweisen würde. Zumeist wird der Begriff ‚Jude’ synonym mit ‚Israeli’ gedacht und verwendet. Wenn im pädagogischen Prozess diese Begriffe vertiefend untersucht werden, unterscheiden sich die Mehrheit der Jugendlichen für den Begriff ‚Israeli’ als treffend, während die ‚jüdische’ Religion oder Ethnizität der israelischen Seite für sie nicht im Vordergrund steht.

Im Gegensatz zu existierenden Stereotypen über einen ‚muslimischen Antisemitismus’ sprechen die Jugendlichen, im Gegenteil, häufig auch mit Respekt über jüdische Menschen, die gläubig seien und nach religiösen Geboten leben. Obwohl antisemitische Schlagworte zu Beginn unserer Seminare häufig geäußert wurden, verblieben insgesamt nur bei wenigen, klar ideologisierten Jugendlichen emotionale Vorbehalte gegen ‚Juden’ wenn diese erst einmal konzeptuell von ‚Israelis’ unterschieden wurden. Aus unserer Sicht ist ‚muslimischer’ Antisemitismus unter vielen Migrantenjugendlichen in Deutschland daher eher ein Resultat der unreflektierten Verwendung des Begriffes ‚Jude’, als auch der Zuschreibungen einer antisemitischen Haltung durch den medialen Diskurs.

Auch wenn die Parteinahme der Jugendlichen im Nahost-Konflikt in den meisten Fällen nicht antisemitisch motiviert ist, sind viele dennoch sehr emotional involviert, was oftmals zu einer –teils ideologisierten- anti-israelischen Haltung führt. Die Frage, die wir uns in unserer Arbeit immer wieder gestellt haben ist, woher die emotionale Teilhabe stammt, die diesen Anti-Israelismus begründet. Die These auf die unsere pädagogische Arbeit aufbaut lautet, dass die mit der Erfahrung der Marginalisierung durch diese Jugendlichen einhergehen, auf die als parallel wahrgenommene Konfliktkonstellation im Nahen Osten projiziert werden:

Im letzten Jahrzehnt sind Migranten – und Jugendliche mit Migrationshintergrund - aus den arabischen und türkischen Communities im deutschen Mediendiskurs vermehrt als pan-religiöse Gruppierung der ‚Muslime’ konstruiert wurden. Die Zuschreibung des ‚Muslim/a-Seins’ trägt im Zeitalter von Post-9/11 vielschichtigere Bedeutungen als bloß religiöse Zugehörigkeit. Die Konnotationen des Begriffs sind sowohl politisch als auch stigmatisierend. Diese neue diskursive Konstruktion baut auf älteren Stereotypen über ‚Ausländer’, ‚Türken’ und ‚Araber’ und ihre benachteiligte soziostrukturelle Positionierung in Deutschland sowie mangelnde Partizipationsmöglichkeiten auf. 

In unseren Kursen zum Nahost-Konflikt sehen wir ebenfalls immer wieder, dass sich Jugendliche mit türkischem und arabischem Hintergrund explizit als Muslim(a) positionieren. Unter Migrantenjugendlichen der zweiten und dritten Generation wird diese muslimische Identität aber nicht nur als religiös begriffen, sondern – in Spiegelung des deutschen Kulturalisierungs-Diskurses – auch als gebunden an stigmatisierende Zuschreibungen und Ausgrenzungs-, und Entmachtungserfahrung im Kontext der Migration. Aus meiner Sicht ist die Marginalisierungs- und Entmachtungserfahrung der Jugendlichen das zentrale verbindende Motiv zwischen ihrer Positionierung als Minderheit in Deutschland und der emotionalen Teilhabe am Nahost-Konflikt.

Wir fanden bei den meisten der Jugendlichen die Wahrnehmung, dass im Konflikt von Israel ein Machtungleichgewicht ausgenutzt wird, bei dem die palästinensische Seite in einer schwächeren Position ist. Der Konflikt zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (Westjordanland) und der Hamas (Gaza) wird von der absoluten Mehrheit dieser Jugendlichen in erster Linie als Verteilungskonflikt verstanden. Die Situation von arabischen Israelis und Palästinensern in Westjordanland und Gaza wird als Entmachtung, Marginalisierung, Diskriminierung, Apartheidssystem, und auch Verfolgung wahrgenommen.

Diese Wahrnehmung der Opferrolle in einem asymmetrischen Konflikt hat Implikationen für unser Verständnis der Positionen und Motivationen der Jugendlichen: Wenn sie den Konflikt überwiegend als Verteilungskonflikt zwischen ungleich starken Parteien verstehen, so ist die Rolle der Religion und damit der „muslimischen’ Positionierung der Jugendlichen nicht so zentral wie oft dargestellt. Stattdessen nehmen die Jugendlichen vor allem die Ausgrenzungs- und Entmachtungserfahrungen im Konflikt mit Israel wahr. Diese Wahrnehmung der Asymmetrie spiegelt ihre eigenen Erfahrungen als marginalisierte Jugendliche in Deutschland und bietet eine breite Fläche für die Projektion ihrer eigenen Erfahrungen und Emotionen. Diese Erfahrungen der Marginalisierung und Entmachtung, die in der emotionalen Positionierung der Jugendlichen gegen Israel Ausdruck finden, sind aus unserer Sicht deshalb die Schnittstelle an der eine Pädagogik des Nahost-Konfliktes ansetzen muss.

Eine interkulturelle Pädagogik des Nahost-Konflikts

Dieser Beitrag hat die Verbindungen zwischen der Fremd- und Selbst-Positionierung als ‚Muslim/a’ und Migrant/in in Deutschland und der emotionalen Teilhabe am Nahost-Konflikt beschrieben. Welche pädagogische Ansätze existieren um diese Schnittstelle zu adressieren? Seit vielen Jahren bereits bemühen sich Pädagogen, vor allem im außerschulischen Bereich, den Nahost-Konflikt mit Jugendlichen in Deutschland zu adressieren.

Ansätze, die den historischen und politischen Verlauf des Nahost-Konflikts untersuchen oder faktenbasierte Planspiele nutzen, verlaufen häufig im Sande, da die Lösung dieser Konfliktkonstellation – auf der Weltbühne und auch unter den Jugendlichen - nicht einfach rational auszuhandeln ist. Emotionen und Vorurteile machen deutlich einen großen Teil dieser Konfliktkonstellation aus - auch unter den nicht oder indirekt betroffenen Jugendlichen in Deutschland. Die Behandlung dieses historischen und aktuellen Konfliktes sprengt somit den Rahmen einer nicht-involvierten, analytischen Pädagogik.

Aus diesem Grund bemühen sich Pädagogen nun vermehrt antisemitische Vorurteile, die den Konflikt begleiten, durch anti-bias Ansätze und antirassistische Pädagogik zu bearbeiten. Aus unserer Sicht sind anti-bias Ansätze wichtig, sollten jedoch stärker die spezifischen Dynamiken, die die Situation von Schülern und Schülerinnen mit migrantischem Hintergrund in Deutschland mit dem Nahost-Konflikt verbinden, berücksichtigen. Wie dieser Beitrag darzulegen versuchte, sind diese Jugendlichen nicht bloß ‚muslimisch’ positioniert worden bzw. identifiziert, sie sind vor allem auch marginalisiert. Als Quelle der Emotionalität mit der dieser Konflikt von diesen Jugendlichen mitgefühlt wird, kann zumindest zum Teil die eigene - bewusst oder unbewusst - als parallel erfahrene Marginalisierung, und das Bedürfnis dieser Ausdruck zu verleihen, verstanden werden.

In Anbetracht des fortschreitenden demographischen Wandels in Deutschland, der sich in unseren Schulen widerspiegelt, und der hier angerissenen Identitäts- und Ethnisierungsprozesse stellt der Nahost-Konflikt ein zentrales und heißes Thema dar, dass im Schulunterricht unbedingt bearbeitet werden sollte. Um wirksam zu sein, sollte der Fokus hierbei jedoch nicht nur auf Faktenvermittlung und anti-bias Arbeit liegen, sondern insbesondere den emotionalen Aspekt der Marginalisierungs- und Entmachtungserfahrungen berücksichtigen.

In unseren eigenen medienpädagogischen Projekten geht es uns immer wieder um diese emotionalen Erfahrungen, die im Konflikt beide Seiten machen. Wo kommt es zur Entmachtung, Marginalisierung, zur Sprachlosigkeit – im Konflikt und im eigenen Leben? Wie erfährt die „andere“ Seite diesen Konflikt? Weshalb eskalieren Konfliktsituationen? Wie lösen die Jugendlichen in ihrem eigenen Leben Konfliktsituationen die durch Ungleichheit geprägt sind? Was für Parallelen können sie aus ihrem eigenen Leben für ihre Sicht auf den Nahost-Konflikt ziehen?

Im Bezug auf Ergebnisse aus der sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung sehen wir die Anerkennung der Wahrnehmungen der Jugendlichen und das Empowerment der Jugendlichen in der sie zu Akteuren werden, die gehört werden und die Macht haben aktiv für ihre Belange einzutreten, als ersten Schritt in Richtung von Verständnis der anderen Seite und Reconciliation.

In unseren Projekten arbeiten die Jugendlichen zu diesen Fragen, indem sie mit einem interaktiven Webquest zum Nahost Konflikt die Lebenssituation und Emotionen von Betroffenen auf beiden Seiten des Konfliktes erkunden und diese Positionen durch vielfältige Methoden (Mind Maps, Spiele, Gruppendiskussionen, (Forum-) Theater) reflektieren und darstellen. In eigenen Videofilmen zum Konflikt, in denen sie Positionen beziehen oder Erfahrungen darstellen, nutzen sie die neuen Medien, um sich Gehör zu verschaffen und an der Aushandlung dieses Konfliktes aktiv teilzunehmen.

Aus unserer Sicht kann Konsens und Vergebung innerhalb der Konfliktkonstellation Nahost nur durch diese drei Säulen erreicht werden: die Einsicht in die Emotionen der anderen, Wahrnehmung der multiplen Perspektiven beider Konfliktparteien, und das Empowerment seine eigenen Erfahrungen und Positionen aktiv vertreten zu können. In der pädagogischen Arbeit zum Nahost-Konflikt sollten diese deshalb ebenfalls dringend adressiert werden.

 

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