Von Micha Brumlik
Mit dem vor sechs Jahren erfolgten Abschluss des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland sowie vor allem mit der Einweihung der neuen Wuppertaler Synagoge durch den israelischen Staatspräsidenten Katzav und Bundespräsident Rau ist das deutsche Nachkriegsjudentum nun von sich selbst, dem deutschen, aber auch dem israelischen Staat anerkannt worden.
Für die in Deutschland lebenden Juden stehen dabei nicht nur die inneren Probleme - die Integration der russischen Immigranten sowie der Ausgleich zwischen liberalen und orthodoxen Strömungen - auf der Tagesordnung. Unausweichlich stellt sich die Frage, ob man sich weiterhin als fleischgewordenes Denkmal des Holocaust oder als kulturell kreative Minderheit verstehen will. Dieser jüdische Selbstfindungsprozeß findet in einer deutschen Gesellschaft statt, die ihrerseits dabei ist, die deutsche Nation von einer ethnischen Abstammungsgemeinschaft zu einer multikulturellen Staatsbürgernation umzuformen. So sieht sich die jüdische Minderheit einer neuen Situation gegenüber. Abgrenzungen und noch so gerechtfertigte Warnungen alleine können ein eigenes Selbstverständnis nicht mehr begründen.
Die gegenwärtige deutsche Situation zeichnet sich dadurch aus, dass jüdischer Kultur entweder etwas vermeintlich unaufhebbar Museales oder das Zeichen des Epigonalen anhaftet. Nachdem die deutsche Nation sich während des Nationalsozialismus aufs Brutalste der Menschen entledigte, darüber hinaus die Wurzeln und Blüten einer etwa anderthalb Jahrtausende alten Tradition ausriss, klafft eine hier eine schmerzliche Lücke, die durch bloße Erinnerungsarbeit nicht geschlossen werden kann. Wie sollte sich die dezimierte Gruppe von Überlebenden und Entwurzelten, Menschen, denen diese Tradition zum großen Teil völlig fremd gewesen ist, zu ihr verhalten?
Nun kann eine - über viele Jahrzehnte - schrumpfende Gruppe sowohl bezüglich der eigenen, sich stets wandelnden Geschichte als auch im Hinblick auf ihre Gesellschaft Exzellentes leisten. So ist aus dem literarischen, wissenschaftlichen und filmisch-dramatischen Werk der vor oder um 1920 Geborenen die Erfahrung erzwungener Emigration, und Verfolgung und Vernichtung nächster Angehöriger nicht wegzudenken. Ihr Werk hat, ohne dass sie es in einen erklärten Zusammenhang mit ihrer jüdischen Existenz gestellt hätten, die öffentliche Kultur sowie die Kunst der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig geprägt.
Von ihnen könnte indes noch gelten, dass sie letzter Ausdruck deutsch-jüdischer Kultur der Vorkriegszeit gewesen sind. Die nach dem Krieg vor allem in der Bundesrepublik entstandene jüdische Gemeinschaft hat mit dem Vorkriegsjudentum nichts mehr zu tun. In ihren Anfängen aus wenigen deutsch-jüdischen Überlebenden und vor allem aus in die Westzonen versprengten polnisch-jüdischen Überlebenden der Vernichtungslager, sogenannten displaced persons, zusammengesetzt, verfügte sie - wenn überhaupt - über die Traditionen eines orthodoxen bis assimilierten, von allgemeiner weltlicher Bildung schon alleine aufgrund der zerstörten Bildungsbiographien weit entfernten polnischen Judentums, dessen Sprache auch noch in Deutschland oft genug jiddisch war. Die Kinder dieser Generation waren es, die die erste originäre Welle jener Kultur schufen, die nicht mehr als deutsch im Allgemeinen, sondern als Kultur der bundesrepublikanischen Juden gelten darf.
Die heute Fünfzig- und Sechzigjährigen zehren von der Marginalität eines nonkonformistischen Blicks auf ihr oft erstarrtes jüdisches Milieu und eine von ihnen wesentlich als verlogen erfahrene deutsche Gesellschaft. Schließlich sind die Dreißig- bis Vierzigjährigen dabei, im kritischen Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte neue Fundamente zu legen. In Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur der Weimarer Republik, der Judenfeindschaft des neunzehnten Jahrhunderts, dem „sokratischen Judentum“ Moses Mendelsohns oder der ersten Rabbinerin der Welt, der 1935 ordinierten Regina Jonas, nehmen sie Traditionsfäden auf, die unwiderruflich zerrissen schienen und verknüpfen sie in all ihrer Brüchigkeit mit jüdischer Gegenwart. Die klassisch deutsch-jüdische Kultur jedenfalls wurde mitsamt den Menschen, die sie trugen, vertrieben und vernichtet; die - gemessen an ihrer Zahl - geringfügige jüdische Minderheit hat die geschichtspolitischen Debatten der alten Bundesrepublik wesentlich mitbestimmt. Auch die wenigen bekennenden jüdischen Intellektuellen der DDR haben unter unvergleichlich härteren Bedingungen das Fortbestehen jüdischer Kultur bezeugt.
Heute steht die in sich vielfältige Gemeinschaft vor der Herausforderung, unter Rückbesinnung und Neuinterpretation der vor allem religiösen Quellen des Judentums, das Selbstverständnis der pluralistisch gewordenen Bundesrepublik mitzugestalten. Ohne Aufgabe der existenziellen Beziehung zu Israel, angesichts eines über Jahre und Generationen glücklicherweise nachlassenden Traumas, das freilich durch die öffentliche Rehabilitierung des Antisemitismus, wie sie derzeit durch Möllemann, Walser und die Reaktion der Öffentlichkeit auf beide deutlich wurde, und im nicht mehr ganz so sicheren Bewusstsein zur deutschen Gesellschaft zu gehören, bildet sich ein Judentum, dessen Form alleine deshalb nicht zu umreißen ist, weil sein größter Teil, die russischen Immigranten, ihre höchst eigentümlichen Erfahrungen noch kaum artikuliert haben.
Wenn nicht alles täuscht, wird die Zukunft jüdischer Kultur auf der Schnittstelle stets schmerzhaften Eingedenkens an die unwiederbringlichen Verluste der Shoah sowie einer unter vielen Stimmen ganz unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen in der Immigrationsgesellschaft der Bundesrepublik liegen. Damit verbindet jüdische Kultur - wenn so verallgemeinernd zu sprechen gestattet ist - auf einzigartige Weise die schuldhafte, nationalsozialistische Vorgeschichte der Bundesrepublik mit ihrer hoffentlich liberalen, weltoffenen, wenn auch gewiss nicht konfliktfreien Zukunft.
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- 20 Jan 2010 - 14:36