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Eckdaten

Ort/Bundesland:Hamburg
Institution: Körber Foundation
Autor: Benjamin Herzberg
Altersgruppe: 14 Jahre und älter
Land: Deutschland
Fach: Fächerübergreifende Arbeitsgemeinschaft

Bibliografie

  • Körber-Stiftung (Hg.): Spuren suchen. Spezial. 1973-1998: 25 Jahre Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, Hamburg 1998
  • Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen, Berlin 1997
  • Dittmar, Lothar: Handeln statt zuschauen. In: Spuren suchen, Hamburg 1997, S. 30-35
  • Kenkmann, Alfons (Hg.): Jugendliche Erforschen die Vergangenheit: Annotierte Bibliographie zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, Hamburg 1997

Projekt Kontakt

Benjamin Herzberg
Beselerstr. 8
D- 22607 Hamburg
Mail: benjamin-herzberg [at] gmx [dot] de
 
Körber-Stiftung
Kampchaussee 10
D-21033 Hamburg
Tel: +49 (0) 40 72 50 24 39
Fax: +49 (0) 40 72 50 37 98
Mail: sdg [at] stiftung [dot] koerber [dot] de

1973 hat die Körber Stiftung einen "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten" ins Leben gerufen. 1996, zum Thema "Die Geschichte des Helfens", reicht der 14-jährige Benjamin Herzberg einen umfassenden Bericht über die Hilfe für verfolgte Juden in Hamburg ein, darunter die persönlichen Lebensumstände der Nicht-Jüdin Ruth Held und die Rolle des US-Generalkonsulats.

Schülerwettbewerbe in Deutschland

Schülerwettbewerbe insbesondere mit geschichtlicher Fragestellung erfreuen sich in Deutschland großer Beliebtheit. Die größte Reichweite erzielt regelmäßig der "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten", der von der Körber Stiftung seit 1973 bundesweit ausgerichtet wird. Bereits zweimal stand der Wettbewerb unter der Themenstellung "Alltag im Nationalsozialismus", wobei 1983 als zeitliche Eingrenzung "Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Zweiten Weltkrieg" und 1985 "Die Kriegsjahre in Deutschland" vorgegeben wurde. Die Aufgabenstellung verlangte von den Schülerinnen und Schülern, in ihrem jeweiligen Heimatort herauszufinden, was der Nationalsozialismus im Alltag der einzelnen Menschen bedeutete. Für ihre Forschungsarbeiten hatten die Jugendlichen bis zu fünf Monate Zeit.

1983 reichten 12.843 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 11 und 21 Jahren insgesamt 2.172 Einzel- oder Gruppenarbeiten ein, 1985 folgten weitere 1.168 Forschungsberichte von rund 6.000 Jugendlichen.

Durch Recherchen in Schul- und Stadtarchiven, in Bibliotheken und in den Archiven der Lokalpresse sowie durch Interviews mit Zeitzeugen versuchen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer historische Spuren zu sichern und aufzuarbeiten. Die Rechercheergebnisse werden zumeist schriftlich in Form von Dokumentationen zusammengestellt. Es gibt daneben aber auch andere Präsentationsformen wie Ausstellungen, Video- und Tonaufzeichnungen oder künstlerische Darbietungen, mit denen sie ein größeres Publikum zu erreichen suchen.

Der Wettbewerb des Jahres 1996/1997 stand unter dem Thema "Vom Armenhaus zur Suchtberatung: Zur Geschichte des Helfens". Einige Dutzend Arbeiten waren der Hilfe für Verfolgte, vor allem für jüdische Menschen im nationalsozialistischen Deutschland, gewidmet.

"Lichter im Dunkeln. Hilfe für Juden in Hamburg 1933-1945" lautet der Titel der Arbeit (siehe pdf-Dokument), die Benjamin Herzberg, ein Neuntklässler des Gymnasiums Willhöden (Hamburg), als Wettbewerbsbeitrag bei der Körber-Stiftung eingereicht hatte und für die er mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Im Urteil der Jury heißt es dazu:

"Der Materialreichtum der Arbeit, ihre klare Gliederung und hohe sprachliche Qualität, besonders aber die Komplexität der Interpretation stellen für einen Schüler der neunten Klasse eine außergewöhnliche Leistung dar."

Im folgenden berichtet Benjamin Herzberg über seine Arbeit.

Zur Entstehungsgeschichte meiner Arbeit über Hilfe für Juden in Hamburg

Schon vor der Ausschreibung des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten mit dem Thema "Zur Geschichte des Helfens" hatte ich mir die Frage gestellt, in welchem Umfang in meiner Heimatstadt Hamburg in der NS-Zeit Hilfe für Juden geleistet wurde und wer zu den Helfern gehörte. Es hatte nach Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" eine Welle von Veröffentlichungen zu dem Thema gegeben, doch sowohl in der entsprechenden Literatur bezogen auf ganz Deutschland, als auch in der Literatur zu Hamburgs Situation in der NS-Zeit fanden sich für mich nur vereinzelte Hinweise auf Hilfsleistungen von Nichtjuden für Juden. Auch in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, die die Auszeichnung Gerechte unter den Völkern (Righteous among the Nations) vergibt, wurde nur eine Person geehrt, die in Hamburg verfolgten Juden Unterschlupf bot und Hilfe leistete. In Berlin jedoch sind Hunderte solcher Fälle bekannt und auch erforscht.

Ich versuchte also herauszubekommen, wer in Hamburg geholfen hatte.

Da die Familie meines Vaters jüdischer Herkunft ist, hatte ich keine Schwierigkeiten, zunächst einige Bekannte zu befragen, die die NS-Zeit überlebt hatten. Unsere nächsten Bekannten hatten zwar nicht direkt durch die Hilfe nichtjüdischer Bürger überlebt, sie waren emigriert oder durch die Verwandtschaft mit Nichtjuden vor der Ermordung geschützt. Doch sie hatten wiederum Bekannte, von denen sie mir berichteten, dass diese nur durch die Hilfe von Nichtjuden den Krieg überlebt hatten. Auf diese Weise gelangte ich zu der ersten für meine Arbeit relevanten Zeitzeugin, Hilde Gordon. Geboren 1928, war sie eine "Dreivierteljüdin" im Sinne der Nürnberger Gesetze. Den Krieg überlebte sie nur, weil ihre nichtjüdischen Pflegeeltern sich immer wieder weigerten, sie in ein jüdisches Waisenhaus zu geben.

Meine zweite Zeitzeugin, Ruth Held, ist Nichtjüdin. Über ihre Deutschlehrerin geriet sie an einen Jesuitenpater, der verfolgte Juden mit Lebensmitteln versorgte. Sie selbst arbeitete an diesen Aktionen mit. Später musste sie in einer Rüstungsfabrik, den "Hanseatischen Kettenwerken", jüdische Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa beaufsichtigen. Auch hier half sie mit Lebensmitteln und Medikamenten und schickte Briefe der Arbeiterinnen an deren Angehörige.

Nachdem ich diese Geschichte gehört hatte, merkte ich, dass ich meine Arbeit auch auf bereits dokumentierte Forschungsarbeiten und auf Originalmaterialien stützen müsste. Ich ging also in die Staats- und Universitätsbibliothek und deckte mich zunächst mit allgemeiner Literatur über Hamburg in der NS-Zeit ein, um einen Überblick über das Geschehen in der Stadt zwischen 1933 und 1945 zu erlangen. Später versuchte ich, gezielt Nachforschungen zu bestimmten, von Zeitzeugen genannten Personen und Ereignissen anzustellen. Schnell wurde mir dabei bewusst, dass eine Bibliothek hier nicht ausreicht. So wandte ich mich an das Staatsarchiv Hamburg, das alle Unterlagen des hamburgischen Staates und einiger anderer Hamburger Einrichtungen (wie z.B. auch der Jüdischen Gemeinde) verwahrt. Bei der riesigen Menge des Schriftgutes war es für mich am Anfang schwierig zu finden, was ich suchte. Doch glücklicherweise traf ich auf einen sehr engagierten Archivar, der an der Entstehung des Gedenkbuchs für die ermordeten Hamburger Juden maßgeblich beteiligt war. Er führte mich in die Funktionsweise des Archivs ein, so dass ich von nun an selbständig arbeiten konnte. Aus verständlichen Gründen hatten die Helfer eine schriftliche Dokumentation der Hilfsleistungen vermieden. Deshalb konnte ich immer nur nach Bindegliedern suchen, die bereits vorliegende Informationen miteinander verknüpften. Während meiner Arbeit im Staatsarchiv und in einigen anderen Archiven hamburgischer Behörden und in Instituten der Universität fiel mir jedoch ein anderer Sachverhalt auf: Ich erforschte immer nur, welche Hilfe geleistet wurde, als die Deportationen in die Vernichtungslager schon angelaufen waren, nicht, ob vor Kriegsbeginn Hilfe geleistet wurde - möglicherweise geduldet, oder vom Regime sogar gefördert.

Bei der Beschäftigung mit der Frage, wie vor 1939 geholfen werden konnte, wurde mir bald klar, dass es hier vornehmlich um die Hilfe zur Auswanderung aus Deutschland gehen musste, denn das war schließlich die einzige Perspektive, die sich den deutschen Juden zu dieser Zeit noch bot. Ich beschloss, meiner Arbeit zu den inzwischen drei exemplarischen Zeitzeugenberichten über individuelle Hilfe ein weiteres Kapitel hinzuzufügen: Wer half bei der Auswanderung?

Hierzu betrachtete ich zwei Komplexe:

Zum einen die jüdische Selbsthilfe bei der Auswanderung nach Palästina. In Hamburg hatten zionistische Organisationen viele Vorbereitungslager für die Auswanderung ins "Heilige Land" eingerichtet. Aber wer waren die noch sehr jungen auswanderungswilligen Juden? Wie war überhaupt die Hamburger jüdische Bevölkerung gegenüber der Auswanderung eingestellt?

Zum anderen: Wie verhielt sich das westliche Ausland? Hier ergab sich für mich eine gute Quellenlage in der Literatur und in den Archiven. So versuchte ich in diesem Kapitel die Haltung der Vereinigten Staaten - in Hamburg vertreten durch ihr Generalkonsulat - zur Judenverfolgung und vor allem zur Auswanderungswelle zu beschreiben. Obwohl die amerikanische Bevölkerung über die Presse und die Regierung, zudem über ihre diplomatischen Vertretungen und Geheimdienste über die Zustände in Deutschland und die Pläne der Nationalsozialisten informiert waren, blieb das State Department mit Cordell Hull über Jahre hinweg hart und rüttelte nicht an der Gültigkeit der Quotenregelung, der "Fürsorgeklausel" und anderer Gesetze, die die Auswanderung Tausender von Juden verhinderten.

Zusammen mit der Überlebensgeschichte Helmut Wolffs, meines dritten Zeitzeugen, der von einem nichtjüdischen Schauspieler gerettet worden war, wurde meine Arbeit durch diese beiden Kapitel über die "organisierte Hilfe" abgerundet. Da meine Zeit begrenzt war, ist vieles noch nicht zu Ende erforscht, so dass ich hoffe, die Arbeit später noch einmal erweitern zu können.

Eine der Helferinnen, auf die ich während meiner Forschungsarbeiten stieß, war Ruth Held. Sie überließ mir ihr unveröffentlichtes handschriftliches Manuskript über ihre Erlebnisse für meine Arbeit und stand für Gesprächen zur Verfügung. Im folgenden ein Ausschnitt aus meinem Beitrag für den Wettbewerb:

Ruth Held: " ...ich will nur diesen Menschen in Not helfen."

Als sie auf der Oberstufe des Gymnasiums war, begann Ruth Held, sich für Literatur zu interessieren. Ihre Deutschlehrerin, Fräulein Dr. Strehl, traf sich nach der Schule mit einigen interessierten Schülerinnen, zu denen auch Ruth Held gehörte.

Natürlich wusste die Lehrerin bald über die politische Einstellung Ruth Helds und ihres Elternhauses Bescheid. Sie hielt ihre Schülerin für verantwortungsvoll genug, um eine wichtige Aufgabe zu übernehmen.

Dr. Strehl war vor einiger Zeit zum Katholizismus konvertiert und hatte Kontakt zum Superior der Jesuitenniederlassung in Hamburg-Eimsbüttel "Beim Schlump", Pater Ludger Born SJ (Societas Jesu = Jesuitenorden). Dieser hatte bereits vor Kriegsausbruch begonnen, den zum Katholizismus konvertierten Juden - keiner großen Anzahl - zu helfen, da sie durch ihren Übertritt vor den Diffamierungen und Ausgrenzungen keineswegs geschützt waren. Pater Born wurde 1939 nach Wien versetzt - Österreich war als "Ostmark" schon "heim ins Reich geholt" worden - und Pater Johannes Kugelmeier SJ übernahm seinen Posten.

Pater Kugelmeier in Hamburg war keiner der Kirchenmänner, die sich mit dem "neuen Deutschland" identifizieren konnten. Er setzte die Hilfsaktionen, die Pater Born begonnen hatte, fort: Traf er "katholische Nichtarier" - so der Sprachgebrauch von Stellen, die sich mit der Auswanderung dieser Gruppe befasste - in seiner Kapelle, so steckte er ihnen Lebensmittel zu und versuchte, ein wenig seelsorgerische Arbeit zu leisten, wenngleich er wusste, dass die meisten aus der Not heraus konvertiert waren und nicht aus Überzeugung.

Aber die Hilfe für diese kleine Gruppe genügte ihm nicht. Mit Ruth Helds Lehrerin, Fräulein Dr. Strehl und mit anderen älteren Schülerinnen und jungen Studentinnen organisierte er die Lieferungen von Lebensmitteln in ein "Judenhaus" in der Rappstraße im Grindelviertel. Hier trafen sich einige Männer und Frauen, die die Lebensmittel an andere jüdische Familien in den umliegenden "Judenhäusern" weitergaben.

Im Jahre 1942 kam Fräulein Dr. Strehl mit dem Lyzeum Lerchenfeld zur Kinderlandverschickung ins "Protektorat" Böhmen und Mähren. Nun musste Ruth Held die Aufgabe übernehmen, die ihr die Lehrerin übertragen hatte. In Krankenhäusern, bei Ordensschwestern und in Geschäften, die ihr Pater Kugelmeier genannt hatte, sammelte sie die Lebensmittel. Ebenfalls hilfsbereit war Rudolf Degkwitz, jener Kinderarzt am Universitätskrankenhaus Eppendorf, der später zum Angeklagten vor dem Volksgerichtshof wurde. Und auch Mater Archangela, die den katholischen Ursulinen vorstand, gab Ruth Held, was sie geben konnte, unter heftigsten Vorwürfen, das alles würde ja doch nichts nützen, sie würde irgendwann verhaftet werden und dann würde es ihr so schlimm ergehen wie den Juden auch.

Pater Kugelmeier, der die Aktionen leitete, handelte getreu dem Prinzip "Die linke Hand darf nicht wissen, was die rechte Hand tut". Damals unerlässlich, um jeden Beweis für die Gestapo unmöglich zu machen, erschwert es heute die Nachweisbarkeit der geleisteten Hilfsaktionen. Nicht einmal die Namen der anderen Helferinnen kannte Ruth Held - nie durfte sie ihren Namen nennen, keinem anderen, auch wenn er noch so vertrauenswürdig schien, von den Hilfsleistungen erzählen. Einmal waren Kinder in der Wohnung, die fragten: "Wie heißt Du denn?" Ganz instinktiv antwortete sie: "Ruth..." und verschluckte den Nachnamen.

Ruth Helds Taschenkalender aus dem Jahre 1943 (kennzeichnend: die eingedruckten "Gedenktage der nationalen Erhebung" wie "Tod Horst Wessels", "Anschluss der Ostmark ans Altreich" usw.) wird für uns beim Durchsehen zu einem Dokument, das Mut in einer schweren Zeit beweist. Immer wieder finden wir Einträge, die sogar über die üblichen Notizen in einem Kalender hinausgehen. Am 22. April heißt es: "4 Uhr bei Frl. Dr. Strehl. Kommt ins Protektorat.", am Tag darauf, dem Karfreitag, wieder: "Frl. Dr. Strehl geholfen. Sehr schöner Abend."

Heute meint Ruth Held, dass eine gehörige Portion Naivität dazugehörte, um diese Hilfsaktionen so bedenkenlos durchzuführen:

"Ich ging mit meinen vollen Taschen durch die Straßen, ohne irgendeine Furcht. Ich wollte nämlich, falls man mich verhaftet, sagen: 'Ich habe ja nichts gegen eure Politik, ich will nur diesen Menschen in Not helfen.' Und ich glaubte doch wirklich, dann würde mir nicht viel passieren!"

Tatsächlich trat eine Situation ein, die, wäre sie etwas anders verlaufen, schwerwiegende Folgen gehabt haben könnte. Als sich Ruth Held am Pfingstmontag 1943, dem 14. Juni, nach einem Spaziergang mit den Eltern an der Elbe wieder auf den Weg in die Rappstraße machen wollte, geschah etwas Seltsames. Sie hatte den Mantel schon angezogen und zwei Taschen mit Lebensmitteln in der Hand und wollte gerade die Wohnungstür hinter sich schließen, als eine verhüllte Gestalt die Treppe heraufkam, ihr einen Zettel in die Hand drückte, "Bleib zu Hause!" flüsterte und sofort wieder kehrtmachte. Ziemlich verstört ging sie in die Wohnung zurück und las den Zettel: "Rufen Sie bitte die Nummer 53 31 77 an (schnellstens, es eilt!) - bitte anrufen u. wenn es noch so spät ist. Hamburg, am 14.VI.43. Gruß Frau Seeberger."

Da die Helds zu Hause noch keinen Telefonanschluß hatten, musste sich Ruth Held zu einer Telefonzelle begeben. Sie wählte die Nummer und hörte nur erneut, sie müsse unbedingt zu Hause bleiben. Den Namen "Seeberger" las sie auf dem Zettel zum erstenmal, hinterher hörte sie nie wieder etwas von der Frau, die sie hier gegrüßt hatte.

Was konnte passiert sein? In ihren Taschenkalender, der zuweilen als Kurzform eines Tagebuchs fungierte, trug Ruth Held unter dem Datum des Pfingstmontags ein: "Zettel, bei Pater Kugelmeier alle wahrscheinlich fort.(entsetzlich)". War jemand, der an den Lieferungen beteiligt gewesen war, gar Pater Kugelmeier selbst, verhaftet worden?

Noch am selben Abend besuchte sie ihn "Beim Schlump". Hier erfuhr sie die Einzelheiten: Die SS hatte anhand der erhöhten Abfallmenge der jüdischen Haushalte in der Rappstraße festgestellt, dass zusätzliche Lebensmittellieferungen erfolgt sein mussten. SS-Männer überwachten daher die Häuser und warteten auf weitere Lieferungen. Doch das scheinbar so lückenlose Netz der Fahnder hatte eine Schwachstelle: die Tochter des SS-Hauptsturmführers Wolff, eine Schülerin Pater Kugelmeiers. Sie bekam mit, wie ihr Vater eine Sitzung mit ihm untergebenen SS-Männern in seiner Wohnung im Harvestehuder Weg anberaumte und dort den Einsatz erläuterte. Den Zusammenhang mit Pater Kugelmeier konnte das Mädchen nur vermuten. Sie teilte ihm mit, was sie gehört hatte, und Pater Kugelmeier handelte keine Sekunde zu früh. Er wusste, dass Ruth Held diesen Weg heute wieder gehen würde, kannte aber weder ihre gar nicht vorhandene Telefonnummer, noch wusste er ihre Adresse. So suchte er aus dem Adressbuch alle Familien namens Held zusammen, die in dem in Frage kommenden Stadtteil wohnten. Jeder Person ließ er über Bekannte eine absolut neutral gehaltene Botschaft zukommen. Unter den vielen unerwünschten Empfängern war auch die richtige. So wurde Ruth Held davor bewahrt, der SS in die Arme zu laufen. Eine andere Schülerin Pater Kugelmeiers jedoch wurde kurz darauf festgenommen. Ruth Held meinte, jetzt müsste sie sich stellen, um die Verhaftete nicht in Gefahr zu bringen, doch Pater Kugelmeier erklärte ihr, gerade diese Schülerin habe von den Lieferungen keine Ahnung gehabt. Tatsächlich wurde sie nach einigen Tagen freigelassen. Darum wurden die Lieferungen fortgesetzt - schon am Sonnabend, dem 19. Juni 1943, brachte Ruth Held, wie heute aus ihrem Kalender ersichtlich wird, wieder Lebensmittel in die Rappstraße. Allerdings hatte Pater Kugelmeier ein anderes Haus ausgesucht, in dem sich die Vertreter jüdischer Familien treffen sollten.

Nach dem Krieg...

Nach dem Krieg studierte Ruth Held weiter Germanistik und Anglistik. Sie wurde Lehrerin in Hamburg-Harburg und bemühte sich - unter anderem in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit - um den Dialog zwischen den beiden Religionen.

Pater Kugelmeier kam bald nach dem Krieg als Spiritual ins Priesterseminar nach Frankfurt-St. Georgen. Dort wirkte er 18 Jahre lang. Seinen Lebensabend verbrachte er im Kloster Nette bei Osnabrück. Er starb am 25. Juli 1993 während eines Urlaubs in Trier.

Mater Archangela starb bereits 1970 in Reinbek bei Hamburg. Es war Pater Kugelmeier, der ihre Verdienste würdigte. Wörtlich sprach er von ihr als einer Frau, "die den verfolgten Juden in Hamburg beistand, wohl wissend, welches Risiko sie damals auf sich nahm."

Von seinen eigenen Verdiensten jedoch schwieg er. Viele seiner Bekannten wissen auch heute nichts davon, ja, sogar gute Freunde hörten zum ersten Mal von den mutigen Taten des damaligen Superior der Jesuitenniederlassung. Einem jedoch hatte er alles erzählt: Dr. Bernd Nellessen, Journalist, 1961 Beobachter des Eichmann-Prozesses für DIE WELT, später Autor eines 1992 erschienenen Buches "Das mühsame Zeugnis" über die katholische Kirche Hamburgs im 20. Jahrhundert. Wenige Jahre vor Kugelmeiers Tod sprach Nellessen mit ihm, weil er für sein Buch noch einige Informationen über die Hamburger katholische Kirche in der NS-Zeit brauchte. Pater Kugelmeier erzählte ihm die Geschichte der von ihm organisierten Hilfsaktionen einschließlich der in letzter Sekunde erfolgten Warnung, wollte aber nicht, dass sein Name in diesem Zusammenhang erwähnt werde. So schrieb Nellessen nur:

"Der Beistand einer der Zahl nach winzigen Gruppe von Studenten läßt sich belegen, sie stecken Juden Lebensmittelkarten zu, packen ihnen Lebensmittel unter die Wäsche, wenn sie mit ihrem Handkarren zum Waschsalon ziehen. Ein Pater aus der Jesuitenniederlassung kann die Studenten noch vor den auf der Lauer liegenden Fahndern warnen."

Als dieser "Pater aus der Jesuitenniederlassung" dann starb, wollte Ruth Held sein Grab besuchen. Sie fuhr nach Münster, wo er auf dem ordenseigenen Friedhof von Haus Sentmaring seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Bei einem dortigen Oberen hatte sie sich angemeldet, der Geistliche hatte ihr eine Tasse Tee angeboten und sie gefragt, woher sie Pater Kugelmeier gekannt habe. Da erzählte sie die Geschichte. Der Jesuit dort war begeistert: "Wissen Sie was?", rief er aus, "Sie schreiben das alles auf!" Und dann, noch euphorischer, sich selbst korrigierend: "Ach was, Unsinn, Sie schreiben das nicht auf, ich schicke Ihnen einen SPIEGEL Redakteur. Das ist die Sensation, die Kirche hat doch geholfen..."

Aber Ruth Held wollte nicht. "Sie wollen eine Entschuldigung für die Kirche", sagte sie, "und die kriegen sie nicht." Pater Kugelmeier habe das alles nicht als Kirchenmann, sondern als Privatmann getan, es sei sicher keineswegs in seinem Sinne, die Geschehnisse an die große Glocke zu hängen, und ganz bestimmt nicht, sofern sie die mehr oder weniger untätig gebliebene Kirche rehabilitieren sollten.

Ich habe versucht, einige Informationen zu sammeln und aufzubereiten, die über die Erzählungen von Frau Held hinausgehen. So spärlich diese zusätzlichen Informationen auch sind, sie alle untermauern das von Frau Held Berichtete und zeigen, dass der Zustand einer "bewältigten Vergangenheit" noch lange nicht erreicht ist.

 

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Körber Stiftung

Sehr geehrter Herr Körtels,

da Sie keine E-Mail-Adresse hinterlegt haben antworte ich Ihnen kurz auf diesem Weg. Wegen der Schülerarbeit wenden Sie sich am besten direkt an die Körber Stiftung in Hamburg bei Frau Ludwig ( ludwig [at] koerber-stiftung [dot] de). Sie ist bei der Stiftung für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten zuständig imd eben Kontext die genannte Arbeit entstanden ist.

Mit freundlichen Grüßen,

Ingolf Seidel