Der Brief der Maria Derewjanko
Eckdaten
Ort/Bundesland: Berlin |
Bibliografie
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Projekt Kontakt
Bodo Förster Elßholzstraße 34-37 D-10781 Berlin Tel: +49 (0) 30 75 60 71 71 Fax: +49 (0) 30 75 60 44 65 Mail: sophie [dot] scholl [at] berlin [dot] de |
Vorgeschichte
1994 schrieb Maria Derewjanko aus Lviv/Lemberg in der Ukraine einen Brief an die Sophie-Scholl-Oberschule (ehemals Staatliche Augustaschule), adressiert an "Augustschule. Izholdstraße - Palazstraße. Graues Gebäude an der Ecke" (siehe pdf-Dokumente). Der Brief, in dem Frau Derewjanko um eine Bestätigung ihrer Internierung in der ehemaligen Augustaschule bat, um als Kriegsverfolgte in der Ukraine anerkannt zu werden, erreichte uns glücklicherweise. Er wurde zum Ausgangspunkt für die Kontaktaufnahme zu überlebenden Zwangsarbeitern und für verschiedene schulische Forschungsprojekte über die Geschichte der Augustaschule während des Zweiten Weltkrieges. Gleichzeitig war der Brief der Beginn einer Freundschaft mit der ganzen Familie Derewjanko.
Die Sophie-Scholl-Oberschule sprach zunächst über die Deutsche Botschaft in Kiew eine Einladung an Maria Derewjanko aus, so dass sie im Oktober 1994 nach 49 Jahren wieder nach Berlin, dem Ort, an dem sie als Zwölfjährige zusammen mit ihrer Familie interniert wurde, reisen konnte. Durch ihre Darstellung der Jahre 1943 bis 1945 war es möglich, die Geschichte unserer Schule, in der sich ein Lager für sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter befand, und des Bezirks Schöneberg zu konkretisieren. Die Schatten der Vergangenheit waren uns zwar vom Hörensagen bekannt, aber bis zu diesem Zeitpunkt gab es weder Dokumente noch Zeitzeugenberichte.
Gedenktafel
Seit dem 8. Mai 1995 erinnert nun eine Gedenktafel im Schuleingang an das Schicksal der Zwangsarbeiter:
"In diesem Gebäude befand sich nach der Evakuierung der staatlichen Augustaschule von 1943 bis 1945 ein Lager für sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Zusammen mit ihren Kindern waren sie hierher verschleppt worden. Alle arbeitsfähigen Internierten mussten den Bunker an der Pallasstraße bauen. Bei einem Bombenangriff Anfang Februar 1945 wurde auch das Schulgebäude getroffen. Viele der Internierten verloren ihr Leben."
Nicht nur mit dieser Gedenktafel, eine der wenigen, die in Berlin an die Zwangsarbeiter erinnern, stellt sich die Sophie-Scholl-Oberschule ihrer Vergangenheit.
Der Geschichtsunterricht für die siebte Jahrgangsstufe beginnt traditionell mit einer Unterrichtseinheit über "Die Weiße Rose", in der die Schüler das Wirken und die Bedeutung der Namensgeberin der Schule kennen lernen sollen. Bereits im Rahmen dieser Sequenz hatte ich mehrfach Gelegenheit die Geschichte des Zwangsarbeiterlagers am "authentischen Ort" zu vermitteln. Ausgangspunkt war dabei stets die Gedenktafel im Eingangsbereich, zu der die Schüler Nachfragen stellten.
Zeitzeugen
In unserer Projektgruppe zum Thema "Zwangsarbeit" pflegen wir regelmäßigen Kontakt zu weiteren Zeitzeugen und erfahren in den gemeinsamen Gesprächen zunehmend mehr über die Zustände im früheren Augustalager (siehe Dokumente). Wassilij und Katerina Derewjanko, Bruder und Schwester von Maria, konnten uns durch die großzügige finanzielle Unterstützung unseres Fördervereins und des Bezirksamts Schöneberg sowie durch Spenden bereits mehrfach besuchen. Nach Schätzungen von Wassilij Derewjanko waren im Augustalager mehr als hundert Zwangsarbeiter untergebracht, die den Fernmeldebunker im Auftrag der "Deutschen Reichspost" erbauen mussten, der heute noch auf unserem Schulhof steht.
Reise nach Liebenau
Die Bekanntschaft mit Katerina Derewjanko führte uns nach Liebenau/Steyerberg in die Nähe von Nienburg/Weser. Sie war 1942 in das "Ostarbeiterlager Steyerberg" deportiert worden, und musste in der Pulverfabrik Liebenau arbeiten. In Zusammenarbeit mit der "Dokumentationsstelle Pulverfabrik e.V.", einem Verein, der sich um die Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeit bemüht, organisierten wir für Katerina Derewjanko im Mai 2000 eine Reise nach Liebenau. Im Mittelpunkt des Besuches standen Zeitzeugengespräche, an denen sich auch Schüler der dortigen Realschule und des Gymnasiums in Nienburg beteiligten, und Begehungen der Orte, an denen Katerina leben und arbeiten musste. Gemeinsam mit den Schülern aus Niedersachsen dokumentierten die Schüler unserer Projektgruppe die Begegnungen fotografisch, interviewten Wassilij und Katerina Derewjanko ausführlich und drehten einen Videofilm. Im Sommer 2000 reiste eine Delegation aus Berlin und Liebenau gemeinsam zur Familie Derewjanko nach Lviv und Krasne in die Ukraine. Im Herbst 2001 erschien die gemeinsame Veröffentlichung einer Broschüre zur Zwangsarbeit der Familie Derewjanko in Berlin und Liebenau.
Unterstützung für Zeitzeugen
Die Schüler und Schülerinnen der Projektgruppe kümmern sich nicht nur intensiv um die Rekonstruktion der Geschichte des "Ostarbeiter"-Lagers an unserer Schule, sondern sorgen gleichzeitig dafür, dass die Freunde aus der Ukraine weiterhin regelmäßig mit Sach- und Geldspenden unterstützt werden, zur Weihnachtszeit natürlich auch mit Spielzeug für die Kinder (siehe Audio/Video). Für Wassilij Derewjanko wurde auch medizinische Hilfe ermöglicht, so dass er in der Lage war, uns zum zweiten Mal in Berlin zu besuchen. Hilfreich war uns dabei eine Spende der Firma Philipp Holzmann, die damals ausführende Firma beim Bunkerbau war.
Öffentlichkeitsarbeit
Das Wissen um das düstere Kapitel des Bunkers und des Zwangarbeiterlagers in ihrer Schule vermitteln die Schüler auch der Öffentlichkeit: So beteiligten sich Schülerinnen der Projektgruppe z.B. mit einer Stellungnahme zur aktuellen Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeitern in der von Kontakte e.V. organisierten Ausstellung "Sowjetische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Deutschland", die im Juni 2000 im Roten Rathaus in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde (siehe Dokumente). Daneben werden die Erfahrungen aus den Begegnungen mit den ehemaligen Zwangsarbeitern und deren Familie auch ausführlich auf den Internetseiten der Sophie-Scholl-Oberschule dokumentiert (siehe Bibliographie). Aktuelles Projekt ist die Umgestaltung des Bunkers zu einem Mahnmal und "Ort der Erinnerung".
Konzeption und Gestaltung eines "Ortes der Erinnerung"
Der von russischen Zwangsarbeitern begonnene Hochbunker wurde erst 1989 fertiggestellt. Er dient heute als Schutzraum für den Katastrophenfall. Für die Schülerinnen und Schüler der Sophie-Scholl-Oberschule, die den ehemaligen Zwangsarbeitern begegnet sind, ist er jedoch inzwischen viel mehr: ein Ort der Erinnerung, der die Unterdrückung und Leiden von Erwachsenen und Kindern mitten in Schöneberg dokumentiert.
Die Historie des Bunkers und der Zwangsarbeiter ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, ist das Hauptanliegen unseres aktuellen Projektvorhabens, dessen Konzeption von den Schülern (10. bis 12. Jahrgangsstufe) in einer Kunst- und Geschichtsarbeitsgemeinschaft seit Februar 2000 wird (siehe Audio/Video). Nachdem wir von öffentlicher Seite das Einverständnis für die Entstehung des damit ersten Denkmals für Zwangsarbeiter in Berlin erhielten, galt es, seine Gestaltung zu konkretisieren. Dabei wird unsere Denkmal-AG von der Kunsterzieherin Andrea Busse und mir geleitet und von der Bildhauerin Christina Artola unterstützt.
Die Schüler stellten inzwischen ihre Ideen dem Plenum des Präventionsrates Schöneberger Norden vor: Eine Metallskulptur soll die ehemalige Lagerbegrenzung und die Verbindung zwischen den Schulgebäuden und der Bunkerbaustelle zeigen (siehe Bilder). Die farblich in blau gehaltene Gestaltung erinnert dabei an die blauen Aufnäher "Ost", den die sogenannten Ostarbeiter tragen mussten. Dieser wird als Abbildung auch von weitem auf dem Bunker zu sehen sein. Auf der Skulptur sind Aussagen von Schülerinnen und Schülern auf die Frage "Was habe ich gedacht, als ich das erste Mal den Bunker gesehen habe?" zu lesen (siehe Bilder). Darunter finden sich Antworten wie: "Hat der Bunker Menschen geschützt?", "Ich habe mir vorgestellt, dass er ein Schutz vor Bombenangriffen wäre, damit die Leute überleben", "Ich stelle mir vor, dass er innen zerfallen ist und dass sich dort alte Gegenstände wie Stühle, Spiegel, Kleider befinden" oder auch "Warum reißen sie das Ding nicht ab?".
An den Außenwänden des Hochbunkers sollen auf Glasschildern die geschriebenen Erinnerungen von ehemaligen Zwangsarbeitern zu lesen sein, z.B.: "Wir erinnern uns daran, dass wir immer essen wollten. Einmal am Tag bekamen wir Essen, Brot bekamen wir zweimal in der Woche, morgens und abends gab es heißes Wasser", "Wir galten für die uns umgebenen Deutschen als schweigende Ware, obwohl wir der Gestalt nach gleich waren", "Unsere Familie blieb zufällig am Leben". An dem Bunker soll zudem ein Schild mit einem Zitat aus einer damaligen Verordnung angebracht werden: "Du erwartest in Deutschland eine anständige Behandlung".
In einer Anwohner- und Passantenbefragung wollen die Schüler auch deren Meinungen und Interessen zum Bunker und seiner Geschichte erheben. Im Mai 2002 fand in Anwesenheit der ehemaligen Zwangsarbeiter, deren Nachkommen, deutschen Zeitzeugen, heutigen Anwohnern aus verschiedenen Alters- und Bevölkerungsgruppen und Jugendlichen der benachbarten Schulen eine Aktionswoche statt. Die Kunst im öffentlichen Raum soll diesen verschiedenen Generationen die Möglichkeit bieten, sich über ihr Erleben des "Ortes der Erinnerung" auszutauschen. Sowohl durch die aktive Beteiligung der Anwohner an dieser Aktion als auch durch ein passives Beobachten des Geschehens soll angeregt werden, die eigene Wohnumgebung bewusster wahrzunehmen. Dadurch möchten wir auch in einen Dialog über die eigene Geschichte und die Geschichte der Nachbarn damals und heute treten. Im Rahmen dieser Aktionswoche wird der neu gestaltete "Ort der Erinnerung" auch durch weitere künstlerische Arbeiten belebt, so dass sich Passanten und Anwohner verstärkt angesprochen fühlen. In diesem Zusammenhang haben die Schüler bereits folgende Vorschläge entwickelt: Selbstgemalte Plakatwände, die täglich ausgewechselt werden, Klanginstallationen sowie spielerisches Ansprechen von Passanten, denen Objekte und Texte in die Hand gedrückt werden sollen.
Die Gestaltung dieses "Orts der Erinnerung" steht damit nicht nur im Zeichen der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern beinhaltet gleichzeitig eine Geste in der Gegenwart, über Grenzen hinweg, auch für die Kinder und Enkel der Zwangsarbeiter.
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- 13 Mai 2010 - 11:39