Das Schicksal eines Friedhofs in Osowo
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Ort/Bundesland: Polen |
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Die Geschichte des Dorfes Osowo
Osowo ist ein kleines Dorf im Kreis Złotów im nördlichen Großpolen. In den Quellen tauchte es es erstmals im Jahr 1591 unter dem Namen Ostrogora und dann wieder 1653 als Ossowka auf. Das Dorf gehörte zu den Złotower Gütern und umfasste im 17. Jahrhundert fünf Hufen, die unter neun Bauern aufgeteilt waren. 1764 kamen weitere acht Hufen des verlassenen Vorwerks Wymyslowo hinzu, das heute nicht mehr besteht. Bei der Trennung von Guts- und Bauernland im Jahre 1827 wurde auf einem abgeteilten Landstück eine Kolonie gegründet, in der sich fast nur Deutsche ansiedelten. In Osowiec – so hieß die Kolonie – machte die Polonisierung der Bevölkerung mit den Jahren mehr und mehr Fortschritte. Als 1925 Bestrebungen zunahmen, die polnischsprachigen Ortsnamen durch deutsche zu ersetzen, wurde das Dorf Osowo in Aspenau umbenannt. Bis 1939 lebten dort ausschließlich Deutsche. Als das ganze Gebiet nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen fiel und die alteingeborenen Bewohner das Dorf verließen, nahmen Siedler aus dem nahegelegenem Osowiec ihren Platz ein.
Der Friedhof
Die Geschichte von Osowo hängt eng mit den Geschicken des deutschen evangelisch-lutherischen Friedhofs zusammen. Dieser ist ein Beispiel für die weit fortgeschrittene Verwüstung protestantischer Grabstätten. Fährt man durch das Dorf, lassen sich auf keinerlei Weise irgendwelche Spuren alter Grabhügel entdecken. Es fällt auch schwer, schriftliche Beweise zu finden, dass es hier einmal einen Friedhof gab.
Die einzigen Unterlagen, die sich erhalten haben, sind die 1989 von der Wojewodschafts-Abteilung für Denkmalschutz in Poznań [Posen]/Unterabteilung Piła [Schneidemühl] angelegte Friedhofskarte und eine topographische Karte von Osowo aus der Vorkriegszeit. In der deutschen historischen Literatur ließ sich hingegen keine einzige Erwähnung nachweisen. Aber auch die besagten Dokumente enthalten keine konkreten Informationen. Der Landkarte (siehe pdf-Dokumente) lässt sich nur die Lage des Friedhofs im südlichen Teil des Dorfes entnehmen, und die Friedhofskarte [siehe Dokument 2: Friedhofskarte], auf der in fast allen Rubriken „keine Angaben“ steht, gibt Auskunft über das Gründungsdatum (Mitte des 19. Jh.), die Fläche (0,48 ha) und die ursprüngliche Einteilung des Friedhofs in Alleen und Quartiere. Als das Dokument angefertigt wurde, war der Friedhof bereits spurlos verschwunden.
Um die Geschichte des Friedhofs zu rekonstruieren, musste man also Informationen in anderen Quellen suchen. In diesem Fall erwiesen sich die Erinnerungen der Menschen als unschätzbar, die den Friedhof sowohl noch aus Vorkriegszeiten als auch seine späteren Geschicke kannten. Obwohl diese Personen nur ungern über die komplizierte Geschichte des Friedhofs sprachen, gelang es doch, Informationen zu sammeln, anhand derer sie sich wiedergeben ließ. Hinter einem Schleier von Geheimnissen und tabuisierten Themen tauchte die Wahrheit auf, wie die Spuren der Deutschen gelöscht worden waren, die gemeinsam mit einer polnischen Bevölkerung diese Gebiete Jahrhunderte lang bewohnt hatten. Dazu gehörte auch die rücksichtslose Verwüstung der Grabstätten, welche die Deutschen hinterlassen hatten.
Die Glanzperiode
Die Geschichte des Friedhofs in Osowo steckte von Anfang an voller Überraschungen. Der Friedhofskarte ist zu entnehmen, dass er Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt worden war. Die älteren Einwohner erinnern sich an die Erzählungen ihrer Großeltern, die besagten, dass der überwiegende Teil der ersten Gräber, Kindergräber waren. In einem der Berichte wurde das Jahr 1852 erwähnt, in dem eine „Pest“ das Dorf heimgesucht haben sollte, an der viele Menschenstarben. Vielleicht wurde deswegen damals der Friedhof angelegt. Wenn man sich die Geschichte der Region um Złotów [Flatow] ansieht, stößt man auf Berichte, nach denen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Choleraepidemien grassierten; doch wird nicht erwähnt, dass sie auch Osowo erreichten.
In späteren Jahren wurden auf dem Friedhof Protestanten beerdigt, die rund 80 Prozent der Bevölkerung des Dorfes und der näheren Umgebung ausmachten. Der nächste Zeitraum mit höherer Sterblichkeit waren die Jahre des Ersten Weltkrieges. Damals machten deutsche Soldaten den größten Anteil an den Verstorbenen aus. Nach Angaben der ältesten Einwohner hatten ihre Gräber nur einfache Umrahmungen aus Beton; in den meisten Fällen fehlten auch jegliche Hinweise auf die Person.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der gesamte Friedhof mit einem weißen Holzzaun umgeben, der von Betonpfosten gehalten wurde. Am Eingang, vor einer Allee alter Bäume, standen drei mächtige Betonpfeiler mit ausgekehlten Kreuzen. Zwischen ihnen waren das Eingangstor und die Eingangspforte angebracht. Die meisten Gräber lagen rechts der Allee. Auf ihrer linken Seite gab es nur einige kleine Gräber mit Betoneinfassungen, die von den älteren Menschen in ihren Berichten noch umfasungi genannt wurden. Betrat man den Friedhof durch den Haupteingang, fielen sofort – wie diejenigen berichten, die ihn noch aus den 1930er Jahren in Erinnerung haben, – die wunderschönen Grabsteine aus schwarzem Marmor mit eingemeißelten vergoldeten Buchstaben auf. Alle Inschriften – Texte und die Angaben über den Verstorbenen – waren in sog. gotischer Schrift, d.h. in Fraktur oder wie man auch sagte, in „deutschen“ Lettern geschrieben. Neben den Angaben zur Person der Verstorbenen befand sich auf jedem Grabstein ein religiöses Zitat oder ein Vers aus dem Neuen Testament. Die Marmorgrabsteine standen in den ersten beiden Reihen rechts vom Eingang. Drei oder vier – die Berichte sind hier widersprüchlich – waren von kleinen schmiedeeisernen Zäunen umgeben. Diejenigen, die sich an sie erinnern konnten, erzählten mit Begeisterung von ihnen. Sie waren ca. einen Meter hoch und hatten die Ausmaße eines „kleinen Zimmers“ (so beschrieb sie der älteste Einwohner des Dorfes, der während des Krieges als Zwangsarbeiter dorthin gekommen war). Die häufigsten Verzierungen waren mit Goldfarbe angestrichene Blumen aller Art. Jeder kleine Zaun hatte eine ein- oder zweiteilige Pforte mit einer wunderschönen Klinke und einem verschließbaren Schloss; alle Türen öffneten sich nach innen, wo sich neben dem von Blumen umgebenen Marmordenkmal auch ein Sitzbänkchen für Besucher befand. Am größten und schönsten Grab wuchsen zwei Thujen, die bis heute dort stehen und jetzt etwa drei Meter hoch sind. In den Gräberreihen, die sich dahinter befanden, lagen die „ärmeren“ Gräber. Hier waren die Grabsteine aus Sandstein, aber ebenfalls wunderschön verziert. Ähnlich wie auf den Marmorgrabsteinen waren auch hier in „deutscher“ Schrift Zitate aus der Heiligen Schrift zu finden. Jeden Grabstein krönte ein Kreuz, das in den meisten Fällen in einem Marmorsockel stand. Je weiter man sich ins Innere des Friedhofs begab, desto ungepflegter und schlichter wurden die Gräber (Metallkreuze mit eingestanzten Angaben über die Verstorbenen oder verzierte Betoneinfassungen). Höchstwahrscheinlich wurden die ersten Toten dort bestattet, während sich die späteren Gräber näher am Eingang befanden.
Die ältesten Einwohner erinnern sich noch an die Personen, die hier zuletzt beerdigt wurden. Es waren ein Mann, der kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs starb, und ein junges Mädchen „aus gutem Haus“, der ein großer Trauerzug folgte (leider sind die Namen unbekannt). Einige behaupten, dass es auch nach dem Krieg noch einige Begräbnisse auf dem Friedhof in Osowo gab; doch diese sollen ohne einen Geistlichen stattgefunden haben, und auf dem Grabhügel wurde nur ein Blumenstrauß niedergelegt.
Die Geschichte der Zerstörung
Nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel der Friedhof, der damals seit hundert Jahren bestand. Die Höfe, welche die Deutschen hastig verlassen hatten, übernahmen Polen aus der näheren Umgebung. Die Deutschen nahmen auf die Flucht ein Säckchen Erde mit und baten in manchen Fällen Polen, denen sie vertrauten, sich um die Gräber ihrer Angehörigen zu kümmern. Die Polen kannten ihre Vorgänger gut und manchmal unterhielten sie lange Zeit die Verbindung mit ihnen aufrecht. Es gab aber auch solche, die aus weit entfernten Gegenden Polens zugezogen waren, und diese hassten die Deutschen und wollten sich an ihnen für erlittenes Unrecht rächen. Es kam zu Konflikten. Während die Alteingesessenen ihr Versprechen erfüllten und sich um die deutschen Gräber kümmerten, beschimpften Zugezogene sie deswegen und drohten sogar, sie wegen Zusammenarbeit mit den Deutschen anzuzeigen, wovor man sich sehr fürchtete.
In Folge dessen wurden die Gräber bald vernachlässigt, und der Friedhof geriet in Vergessenheit. Als erstes wurde der Zaun abgebrochen. Die Betonpfähle wurden herausgerissen und für Umzäunungen in einigen Wirtschaften verwendet (ein Teil hat sich bis heute erhalten). Ähnlich gebrauchte man die hölzernen Tragbalken für die Umzäunungen der Höfe. In den 1950er und 1960er Jahren begann die Vernichtung der Grabdenkmäler. Zuerst wurden die Grabsteine aus Marmor gestohlen, aller Wahrscheinlichkeit nach von Steinmetzen. Wenn man die Marmorplatten, die ungewöhnlich dick waren, abschliff und zerschnitt, konnte man daraus mehrere Grabplatten anfertigen und anschließend verkaufen. Wie aus Berichten hervorgeht, haben einige sich daran gesund gestoßen.
Später wurde der verfallene Friedhof Spielplatz für die heranwachsende Nachkriegsgeneration. Man baute sich Verstecke, veranstaltete aber auch Wettbewerbe, wer den schönsten „Blumengarten“ anlegte (so nannte man die Gräber in den schmiedeeisernen Umzäunungen). Man riss also das Unkraut aus, pflanzte Blumen und zündete zu Allerheiligen auch Grablichter an; aber diese Zeit der Pflege des alten Friedhofs dauerte nicht lange. Als die Generation erwachsen war, kümmerte sich endgültig niemand mehr um die Gräber.
Alle Marmorgrabsteine waren gestohlen, nur die aus Sandstein standen noch. Ende der 1960er Jahre fanden auch sie Verwertung. Weil sie die Form von großen Blöcken hatten, eigneten sie sich gut zum Bauen. Ein Grabstein diente als Schwelle für die Scheune, andere dazu, die Mauern eines Schweinstalls zu verstärken. Es gab keinen Friedhof mehr. In den verlassenen „Blumengärten“ weideten Gänse, einige Metallzäune fanden Verwendung als Geflügelgehege auf dem Hof. Am schlimmsten war es im Jahr 1973. Damals ordneten die kommunistischen Behörden die völlige Auflösung des Objekts an und stellten dafür 10.000 Zloty zur Verfügung. Die Ausführung der Arbeiten übernahm der Landwirtschaftliche Genossenschaftskreis aus dem benachbarten Buczek Wielki.
Nach einigen Tagen waren vom ganzen Friedhof nur noch zwei der drei großen Pfeiler von der Einfahrt übrig geblieben. Alle Grabsteine waren zuerst aus der Erde gerissen, mit dem Hammer in kleine Stücke geschlagen, abtransportiert und anschließend an der Holzbrücke, die über den nahen Fluss führte, abgeladen worden. Um die Grabsteine noch gründlicher zu vernichten, fuhr man mit Treckern darüber und vergrub sie. Das Gelände an der Brücke sah nach der Verwüstung des Friedhofs furchtbar aus. Aus der Erde ragten Teile zerschlagener Grabsteine hervor, auf denen man nichts mehr lesen konnte, da großerWert darauf gelegt wurde, alle deutschen Spuren zu tilgen. Im Laufe der Jahre wurde die Erde, die auf die Grabsteine geschüttet worden war, herunter gewaschen, sodass die chaotisch herumliegenden Bruchstücke aus Sandstein und Zement ans Tageslicht kamen.
1989 brach die Holzbrücke zusammen. Man beschloss, an ihrer Stelle eine neue Brücke aus Beton zu errichten. Die Sandsteinüberreste dienten als Baustoff, mit den Betoneinfassungen wurde das Flussufer befestigt. Größere Bruchstücke wurden für die Brückenfundamente verwendet. Ein Gutteil ging unwiederbringlich verloren. Nach Abschluss der Arbeiten wurden die letzten Überreste der Grabsteine vergraben. Die letzten Spuren des Friedhofs wurden 1997 getilgt. Damals riss man aus Anlass des bevorstehenden 50. Jahrestages der Gründung der Freiwilligen Feuerwehr in Osowo, als das Friedhofsgelände in Ordnung gebracht und die Sträucher abgeschnitten wurden (die Remise ist etwa 150 Meter entfernt), auch die beiden letzten Eingangspfeiler mit Traktoren aus der Erde.
Weitere Ordnungsarbeiten fanden im Frühjahr 2003 anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung der Freiwilligen Feuerwehr Osowo statt. Während der Feierlichkeiten diente das Friedhofsgelände als Parkplatz.
Ausgrabungen
Alle Zeitzeugenberichte bestätigen, dass die zerstörten Grabsteine an den nahe gelegenen Fluss gebracht wurden. Ich war also sicher, dort wenigstens einen Rest vorzufinden, wenn auch ein großer Teil zum Bau der Betonbrücke verwendet worden war. Obwohl die älteren Einwohner skeptisch waren, beschloss ich, mich selbst davon zu überzeugen. Ein paar Tage Arbeit mit Spaten und Brecheisen brachten unerwartete Ergebnisse (soehe Bilder).
Dem Gelände, wo nach den Zeugenberichten die Überreste von Grabsteinen des Friedhofs in Osowo liegen sollten, war nichts von dem anzumerken, was sich dort vor Jahren zugetragen hatte. Doch der Schein trog. Einige Zentimeter unter dem Rasen lagen die ersten Reste von Einfassungen. Es waren kleinere Betonstücke und Teile einer Art von Terrazzo-Grabsteinen. Der Rasen ließ sich leicht von ihnen lösen und wie ein Teppich aufrollen. Nachdem ich die Rasenoberfläche und einige Zentimeter Sand entfernt hatte, kamen überall Teile von Grabsteinen ans Tageslicht. Ihrer Größe wegen ließen sie sich schwer aus der Erde ziehen.
Ich grub tiefer und stieß auf immer mehr Bruchstücke. Meistens waren es Teile von Grabplatten aus einer Art hellem oder dunklem Terrazzo. Ich legte alle zur Seite und säuberte sie gründlich. Ich wollte wenigstens einen Plattenteil finden, auf dem sich eine Inschrift befand. Jeder Tag meiner mühseligen Arbeit brachte neue Bruchstücke ans Tageslicht, der Stoß ausgegrabener Teile wuchs von Tag zu Tag. Auch das Interesse der Dorfbewohner wuchs. Immer häufiger besuchten sie die „Ausgrabungsstelle“ und erzählten mir bei dieser Gelegenheit interessante Dinge über den Friedhof und seine Geschichte.
Der vierte Tag brachte die lang erwartete Wende. Anderthalb Meter unter der Erdoberfläche blitzte ein Stück schwarzes Glas mit einer Inschrift auf. Meine Freude war umso größer, als ich in der Nähe weitere Teile fand. Doch leider lag, wie sich nach einiger Zeit erwies, die Platte unter einem Betonpfeiler von erheblichen Ausmaßen. Ihn zu entfernen, kostete mich wenigstens einige Stunden. Die Glastafel war unter dem Druck des Betonpfeilers zersplittert. Es gelang mir, 27 Glasstücke zu bergen, die rundherum lagen und sich fast zu einem Ganzen wieder zusammensetzen ließen. Mir kam das wie ein Puzzle vor. Wie sich zeigte, hatte die Tafel ursprünglich auf dem Grab eines 14jährigen Mädchens gelegen. In die Freude über die Entdeckung mischte sich Traurigkeit (siehe Bilder).
Am selben Tag fand ich noch einen weiteren Grabstein. Er war nicht besonders groß, doch dafür ganz mit Inschriften bedeckt. Es war ebenfalls der Grabstein eines Kindes, eines fünfjährigen Jungen (siehe Bilder). Er lag unter dem Weg, der zur Brücke führte. Bei denjenigen, die meine „Ausgrabungen“ besuchten, weckte er großes Interesse. Oft fiel die Frage: „Was hat dieser Fünfjährige getan, dass man mit seinem Grabstein so niederträchtig umgeht?“ Die Antwort ist einfach: Er war Deutscher. Einige meiner Besucher sagten, sie würden sich schämen, Polen zu sein und ihre Landsleute nicht verstehen, die sich einen solchen Akt von Vandalismus hatten zu Schulden kommen lassen.
Die Nachricht vom Fund der Grabdenkmäler verbreitete sich rasch im Dorf und immer mehr Menschen zeigten offen ihr Interesse. Am nächsten Tag sollte ein großer Grabstein am Flussufer herausgezogen werden. Er war sehr schwer. Allein konnte ich es nicht schaffen, doch ein älterer Herr, der unweit des Flusses wohnt und mir die genaue Stelle gezeigt hatte, wo die Grabsteinreste hingeschüttet worden waren, bot mir seine Hilfe an. Aus einem mehrere Meter langen Balken und einer Kette machte ich mir eine Art Kran, mit dem ich den Stein schließlich herausziehen konnte. Nachdem ich den Schlamm abgespült hatte, zeigte sich eine sehr undeutliche Inschrift inmitten einer Verzierung in Form eines Kranzes. Es waren nur zwei Wörter: „Auf Wiedersehen“ und sonst nichts, keinerlei Angaben über eine(n)Verstorbene(n). Vielleicht war es auch nur der Teil eines größeren Denkmals. Eichenzweige mit Eicheln sowie ein Lorbeerbund bilden einen Kranz aus Pflanzen. Pflanzen und insbesondere Früchte symbolisieren das Leben; Eiche und Lorbeer – Unsterblichkeit. Der Kranz selbst ist oft hervorragenden Personen, insbesondere Dichtern beigegeben. Inschrift und Symbolik der Pflanzen gaben also viel zu denken (siehe Bilder).
Auch andere Grabsteine waren mit Symbolen geschmückt gewesen, wie sich diejenigen erinnerten, die den Friedhof kannten. Dazu gehörte ein Kreuz mit einem Anker und Herzen. Das stellte drei göttliche Tugenden dar: das Kreuz für den Glauben, der Anker für die Hoffnung und das Herz für die Liebe (oder für Mitleid). Die Protestanten messen den Symbolen eine große Bedeutung bei, wofür auch der erwähnte Kranz aus Eichenlaub und Lorbeerzweigen ein Beispiel ist.
Als ich den Grabstein herauszog, rutschte die Erde ein Stück ab und legte Metallstäbe frei. Es war ein Stück eines schmiedeeisernen Zauns und somit ein weiterer Beweis dafür, dass die Berichte stimmten. Nachdem ich die Erdschicht entfernt hatte, zeigten sich wunderschöne Metallblumen und eine Klinke mit einem Türschloss. Es handelte sich um eine einteilige Pforte und ein Stückchen eines Jochs. Auch wenn das Metall stark verrostet und beschädigt war, sah man doch die kunstreiche Ausführung. Kein Wunder, dass die Leute, die mir vom Friedhof erzählten, besonders auf die Metallumzäunung geachtet hatten und so begeistert von ihr waren. Dank der Auskünfte von Besuchern meiner „Ausgrabungen“ ließ sich feststellen, dass dieser Teil von dem Zaum stammte, der das größte und schönste Grabmal umgeben hatte (siehe Bilder).
Als die Arbeiten am Fluss zu Ende gingen, sagte mir ein Kollege, dass er sich erinnere, vor einigen Jahren ein Bruchstück eines verzierten Steins gesehen zu haben, das auf dem Bewässerungsrohr lag, das über einen Weg in der Nähe führt. Tatsächlich lag dort ein großer wunderschön verzierter Grabstein, der die Öffnung des Rohres, das über den Weg führte, vollständig bedeckte. Von oben war er mit einer dicken Erdschicht bedeckt, an den Seiten befanden sich zwei riesige Platten. Er ließ sich nur mit Schwierigkeiten herausholen. Er war der schönste und zugleich der älteste von den Grabsteinen, die ich bisher gefunden hatte. Das Todesjahr einer 55jährigen Frau, auf deren Grab er ursprünglich ruhte, war 1901 (siehe Bilder).
Gedenken und Hoffnung
Damit beendete ich meine Arbeiten am Fluss; denn der Winter rückte näher. Meine Tätigkeit hatte unterschiedliche Kommentare provoziert. Oft hörte ich, sie sei sinnlos, da alle Spuren des Friedhofs soweit getilgt worden seien, dass seine Geschichte sich nicht mehr rekonstruieren ließe.
Der Wandel in der Einstellung der Dorfbewohner war erstaunlich. Als ich anfing, Berichte über den Friedhof zu sammeln, hatten die Zeitzeugen Distanz gewahrt. Manchmal verheimlichten sie wichtige Informationen über die Art und Weise, wie das Objekt zerstört wurde, und über die Personen, die das getan hatten. Die Wende erfolgte, als ich meine Arbeit am Fluss begann. Als die Dorfbewohner die ausgegrabenen Grabsteine sahen, setzte eine Informationslawine ein. Es fielen Daten und Namen; langsam enthüllte sich das wahre Bild des Friedhofs und seiner Geschicke. Jeden Tag gab es mehr Beobachter bei den „Ausgrabungen“ und mehr neue Nachrichten. Auch aus der Umgebung kamen Leute nach Osowo, um sich die Effekte meiner Arbeit anzusehen. Mitunter war das lästig. Es fielen Fragen wie: „Wen hat der Friedhof gestört, dass er so gründlich zerstört wurde?“ Mir scheint, dass sich jeder selbst darauf eine Antwort geben muss.
Die Freiwillige Feuerwehr aus Osowo beschloss auf einer Vorstandssitzung, dass das ehemalige Friedhofsgelände regelmäßig sauber gehalten und gerodet wird. Auch auf der Dorfversammlung wollte man darüber sprechen. Man hörte immer häufiger sagen, dass die Grabsteine an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren sollten. Das wäre ein großes Unternehmen, da die ausgegrabenen Grabsteine nur einen geringen Teil dessen darstellen, was noch in der Erde ruht. Am Jahresanfang legte das Tauwasser ein Grabsteinbruchstück auf der anderen Flussseite frei. Wahrscheinlich liegen dort noch weitere. Der Dorfbürgermeister bot seine Hilfe an beim Abtransport der Überbleibsel und sogar beim Ausgraben des Restes. Einige sagten, dass eine Gedenktafel für den Friedhof nicht schlecht wäre. Es ist nicht gewiss, wie viel von diesen Plänen verwirklicht wird; schlimmstenfalls werden die freigelegten Grabsteine wieder an der Brücke vergraben. Ihr Schicksal hängt von den Einwohnern des Dorfes ab, da die Wiederherstellung der früheren Ordnung nicht Aufgabe nur eines Menschen ist.
Das Beispiel des evangelisch-lutherischen Friedhofs in Osowo lehrt uns, dass schriftliche Beweise für die Existenz einiger Objekte nicht alles sind. Oft vergisst man die kostbaren Erinnerungen älterer Leute, die sich mitunter als Hauptinformationsquelle erweisen. Es lohnt sich, in diese Erzählung hineinzuhören.
Die Arbeiten, die zur Erschließung der bewegten Geschichte des Friedhofs führen sollten, bewirkten ebenfalls eine überraschende Reaktion der Menschen, deren anfängliche Unwilligkeit sich in ein gewaltiges Interesse verwandelte. Zu all dem war ein Anstoß nötig. Die Pläne, die gemacht wurden, als es um den Friedhof laut wurde, halte ich für einen großen Erfolg, zumal sich immer mehr Menschen für die Geschichte des Objekts interessieren. Auch die Tatsache, dass die Einwohner beabsichtigen, an den Friedhof zu erinnern, ist ein Grund zur Freude; denn das bedeutet, dass ihnen diese Sache zu denken gibt und dadurch im Gedächtnis bleibt und nicht verloren geht.
Trotz der Bemühungen, die Spuren vollständig zu tilgen – Bemühungen, die im Namen einer höheren Räson und der verkündeten Ideologie dazu führten, in die barbarische Verwüstung eines Begräbnisplatzes einzuwilligen – , gelang es, einen Ausschnitt der Geschichte wieder herzustellen und zugleich ein neues Kapitel über die strittige Erinnerung an die Vergangenheit hinzuzufügen.
Der Friedhof in Osowo – ein Jahr später
Als ich die Arbeit über den Friedhof in Osowo fertig geschrieben hatte, rechnete ich überhaupt nicht damit, dass sie einen Preis gewinnen könnte. Ich meinte, dass zu einem solchen Wettbewerb Hunderte von Arbeiten eingesendet würden, die mit Sicherheit besser seien als meine. Aber ... es kam anders. Offen gesagt war mir das damals nicht das Wichtigste. Die Grabsteine, die ich freigelegt hatte, wurden zum Problem. Die damalige Direktorin des Muzeum Ziemi Złotowskiej [Museum der Region Złotów], Frau Małgorzata Chołodowska, und ihr Mann Marek Chołodowski, mein Geschichtslehrer, die mir beide sehr geholfen hatten, die Geschichte des Friedhofs zu rekonstruieren, hatten den Gedanken, die Grabsteine sollten an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren. Ähnlicher Meinung waren auch die Einwohner von Osowo gewesen. Ich beschloss also, in dieser Angelegenheit tätig zu werden. Ich ging zum Gemeindebürgermeister von Lipka, Herrn Wojciech Kurdzieko, der den Gedanken unter der Bedingung unterstützte, dass die Einwohner des Dorfes ihre Einwilligung gäben. Also wandte ich mich an den Bürgermeister von Osowo, Herrn Marian Tomke, der den Gedanken ebenfalls unterstützte. Wir vereinbarten, dass die Sache Mitte Juni auf der Dorfversammlung verhandelt würde. Schließlich war der Versammlungstag gekommen. Es war eine Nervenprobe, als ich vor dem ganzen Dorf das Wort ergreifen musste. Doch ich hatte mir unnötig Sorgen gemacht. Alles ging glatt, und die Einwohner willigten ohne jeden Widerspruch ein, die Bruchstücke der Grabsteine auf das Gelände des früheren Friedhofs zu bringen.
Das erfolgte Anfang Juli 2004. Die Anzahl der Freiwilligen, die helfen wollten, überraschte mich völlig. Man kann sagen, dass jeder, der dazu im Stande war, kam und half (siehe Bilder). Beim Transport der Grabsteine wurden noch weitere entdeckt, die ebenfalls wieder auf den alten Friedhof kamen. Später, bereits in einem engeren Kreis, gelang es, sie zusammenzusetzen und zu ergänzen; einige konnten sogar bis zu einem gewissen Grad restauriert werden, z.B. wurden die eingelassenen Buchstaben mit Goldfarbe nachgezogen. Ich freue mich, dass so vielen Menschen das Schicksal des Friedhofs nicht mehr gleichgültig ist, wovon auch die Grablichter zeugen, die an Allerheiligen bei den Grabsteinen angezündet werden.
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- 13 Mai 2010 - 12:08