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Zum Verhältnis von "Gedenken" und "Lernen"

Kann man das Gedenken lernen?

Gottfried Kößler ist Pädagogischer Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt.
Von Gottfried Kößler

„Gedenken“ ist eine Hinwendung zu den Toten oder es bezieht sich auf ein bedeutendes vergangenes Ereignis, das mit Trauer im Zusammenhang steht. Eine solche Hinwendung setzt in jedem Fall voraus, dass die Handelnden über Wissen verfügen, um mit den Toten oder mit dem Ereignis, dessen sie gedenken, etwas zu verbinden. Denn das Gefühl der Trauer kann sich nur entwickeln, wenn der Verlust des betrauerten Objektes erfahrbar ist. So verstanden, hängen die beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Themen „Gedenken“ und „Lernen“ zusammen. Das Lernen schafft die Voraussetzungen, um Gedenken zu ermöglichen.

Es bedarf einer Reihe von unterschiedlichen Lernschritten, um die Voraussetzungen zu schaffen, die das Gefühl der Trauer tragen können. Die Vermittlung von Fakten zum Holocaust – zum Beispiel über eine jüdische Familie und ihr Schicksal in der NS-Zeit – genügt dazu freilich nicht. Ein viel weiterer Horizont von Wissen und Vorstellungen über die Geschichte der jüdischen Minderheit in der europäischen Geschichte kann erst die Dimensionen der Brutalität erahnen lassen, mit der Rassenantisemitismus und die NS-Vernichtungspolitik auf Menschen und Menschenrechte einschlugen.

Ebenso ist es mit der Geschichte der NS-Euthanasie. Allein das Wissen um eine Biografie genügt nicht, um die Dimension der ethischen Katastrophe zu erfassen, die wir in dem Gedenken an den Tod eines Opfers betrauern. Erst die Erweiterung der Perspektive auf den Kontext des Mordes, die lange Geschichte der Bio-Ethik und des biologistischen Rassismus, kann Grundlage eines Gedenkens sein, das für die Gedenkenden eine persönliche Relevanz erhält.

Denn es ist ein doppeltes Gefühl der Trauer, das beim Holocaust-Gedenken erreicht werden muss: Die Trauer um die Toten und die Trauer um den Verlust der Menschlichkeit auf Seiten der Täter. Das Lernen ist im Feld der Vermittlung der Fähigkeit zum Gedenken also mit hohen Anforderungen an die moralische Bildung verknüpft und sein Gegenstand grenzt oft an Grundfragen der Ethik.

Auf dieser Grundlage möchte ich die Frage, ob man Gedenken lernen kann, versuchsweise beantworten: Ja, man kann das Gedenken lernen. Wer an einem biografischen Beispiel eine Vorstellung über die Dimensionen des Holocaust erarbeitet hat, könnte die Fähigkeit zum Gedenken besitzen. Aber ob diese sich als Gefühl realisiert, entzieht sich jedem pädagogischen Handeln. Hier ist die Autonomie des einzelnen entscheidend.

Aber es gibt noch eine zweite Antwort: Man kann nicht aus dem Akt des Gedenkens lernen. Die kurzschlussartige Verbindung aus Gedenken und Lernen blockiert die Chancen, die in einem bedachtsamen Aneignungsprozess von Wissen über die Geschichte von Minderheiten und Mehrheiten, Volksgemeinschaft und Ausgeschlossenen, der Konstellation aus Tätern-Opfern-Zuschauern und Helfern liegen können. 

 

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