Empfehlung Lebensbericht

Wiedersehen mit Nesthäkchen

Barbara Asper, Hannelore Kempin, Bettina Münchmeyer-Schöneberg: Wiedersehen mit Nesthäkchen. Else Ury aus heutiger Sicht. (2007) text verlag edition Berlin, 160 S., 14,90 €

Else Ury war als Erfinderin des "Nesthäkchen", einer der bekanntesten Romanfiguren der wilhelminischen und Weimarer Zeit, mit 39 Büchern und einer Auflagenhöhe von fast 7 Millionen eine der erfolgreichsten Jugendschriftstellerinnen ihrer Epoche. Ihre Bücher wurden von inzwischen drei Generationen von Mädchen - und auch Jungen gelesen. Doch bei aller Popularität der Bücher war die Autorin Else Ury selbst weitgehend vergessen, ihr tragisches Schicksal Jahrzehnte lange verdrängt.

Nicht zuletzt trug zu den Fehlurteilen über Urys schriftstellerisches Werks bei, dass die Nesthäkchenbücher nach 1945 stark überarbeitet und gekürzt neu verlegt wurden. Das ZDF sendete Weihnachten 1983 eine "Nesthäkchen-Serie" in sechs Teilen, die fast 13 Millionen Zuschauern sahen. Mit keinem Wort wurde dabei auf den Mord an Else Ury in Auschwitz hingewiesen.

Erst 50 Jahre nach ihrem Tod wurde Else Urys Schicksal durch Veröffentlichungen und Ausstellungen allmählich ihren Leserinnen und Lesern bekannt: 1992 erschien von Marianne Brentzel "Nesthäkchen kommt ins KZ - Eine Annäherung an Else Ury 1877-1943". Damit erfuhr eine breite Öffentlichkeit erstmals, dass Else Ury als Jüdin von den Nationalsozialisten mit Schreibverbot belegt, schließlich am 12. Januar 1943 im Alter von 65 Jahren ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde.

Doch auch Brentzel recherchierte und urteilte in ihrer "Annäherung" an Else Ury abwertend und oberflächlich wie Kritiker vor ihr. Sie unterstellt ihr Kriegshetze, Kaiserfrömmelei, sogar Hitlergläubigkeit(!) und bekennt, dass Else Ury als Frau ihr kein Vorbild sein könne. Brentzel wurde mit dem Buch weder Else Ury als Mensch noch ihrem Werk gerecht. Inwieweit ihr das in ihrem neuen Buch gelingt "Mir kann doch nichts geschehen." - Das Leben der Nesthäkchenautorin Else Ury ist eher fraglich.

Brentzel kann auch erst in dem neuen Buch zugeben, dass sie damals Rechercheergebnisse von Schülern einer Projektgruppe des Robert-Blum-Gymnasiums in Berlin Schöneberg verarbeitete, ohne diese zu zitieren. Die Schüler hatten z.B. im Museum Auschwitz den Koffer von Else Ury und das genaue Todesdatum ausfindig gemacht. Damit hinaus leisten sie schon damals einen beachteten Beitrag zur Ury-Forschung. Ihr Projekt wurde in eine Ausstellung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz integriert.

Am 65. Todestag Else Urys eröffnete die Gemeinde Letschin im Oderbruch zur Erinnerung an die Mädchenbuchautorin erneut die Ausstellung "Wiedersehen mit Nesthäkchen - Else Ury aus heutiger Sicht", die das Heimatmuseum Charlottenburg-Wilmersdorf 1997 erarbeitete und als Wanderausstellung seither zur Verfügung stellt. 

Die Ausstellung ist nicht nur eine Rekonstruktion der Biografie Else Urys, sondern sie stellt vor allem ihr Werk vor, das vielen heute immer noch unzureichend oder gar nicht bekannt ist. Im November 2007, zum 130. Geburtstag von Else Ury, brachten die Autorinnen, die die Berliner Ausstellung des Bezirksmuseums Charlottenburg-Wilmersdorf 1997 konzipiert hatten, unter dem Ausstellungstitel die vorliegende Publikation heraus.

Gegenüber dem Buch von Marianne Brentzel aus dem Jahr 1992 zeichnet sich dieser Band zur Ausstellung durch äußerst sorgfältige historische Recherche und fundierte, werkbezogene Interpretation aus, wofür die Autorinnen bisher unbekannte Dokumente, Informationen aus dem familiären Umfeld Else Urys sowie neueste Erkenntnisse über den Umgang mit dem schriftstellerischen Werk einbeziehen. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel von Barbara Asper, das Einblick in die Rezeptionsgeschichte des Gesamtwerks von Else Ury bis hin zu Internetportalen wie Wikipedia heute gibt.

Else Ury - das wurde allzu lange verkannt - war nicht die unpolitische konservative Verfasserin bürgerlich-romantischer "Backfischliteratur". In einer Zeit mangelnder oder gänzlich fehlender Bildungs- und Berufschancen für junge Frauen und der daraus folgenden finanziellen Abhängigkeit setzte sie sich für eine selbstbestimmte Rolle der Frau in Gesellschaft, Beruf und Familie ein.

Mit ihren in viele ihrer Bücher eingegangenen emanzipatorischen Vorstellungen und Forderungen, die in den Nachkriegsedition überwiegend wegredigiert wurden, reiht sie sich in die Gruppe der Streiterinnen für die Gleichberechtigung der Frau ihrer Zeit ein, ohne ihre Forderungen so offensiv und öffentlich zu verfechten wie bekannte Frauenrechtlerinnen.

Das Buch und die Ausstellung widerlegen hoffentlich nachhaltig das Vorurteil, Else Urys habe lediglich sentimental-kitschige Mädchenbüchern geschrieben, die als nicht zeitgemäß zu Recht in der Versenkung verschwunden sind. Toleranz, soziales Engagement, gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen waren Werte, die Else Ury in ihren Romanen und Erzählungen thematisiert und verteidigt hat.

Die Heldinnen ihrer Bücher sind auch nicht nur brav und angepasst, sondern eigensinnig, sogar widerspenstig und entsprechen damit eben nicht, und nicht nur dem Frauenbild der damaligen Zeit. Es ist zu empfehlen, Auszüge aus Else Urys Büchern als literarische Quellen z.B. auch im Geschichtsunterricht einzusetzen.

Der vorliegende beeindruckende Band zeichnet ein aktuelles Bild der "Nesthäkchen"-Autorin Else Ury und befreit ihr literarisches Schaffen gleichzeitig von häufig politisch motivierten Fehlinterpretationen: Als Fazit am Ende des Buches heißt es: "Else Ury und ihr Werk sind immer kritisiert worden: in den 20er Jahren, weil ihre Bücher zu dem verachteten Genre Mädchenliteratur gehörten. In der Nazizeit aus stark antisemitischen Gründen und weil ihrem Werk die nationalsozialistische Ideologie fehlte. In der DDR passten Urys Bücher nicht in das sozialistische Weltbild, in der Bundesrepublik galten die als zu konservativ bis präfaschistisch. In der Forschung der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur wird Ury bis auf die wenigen jüdischen Erzählungen gar nicht erwähnt."

Es ist zu hoffen, dass bisherige Fehlinterpretationen und falsche biographische Darstellungen durch dieses Buch ad acta gelegt werden.

 

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