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Das Lager schreiben

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea Huterer (Hg.): Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag, Osteuropa , 57.Jg., Heft 6/ 2007, 440 S., Berlin 2007, € 24,-

Dem russischen Schriftsteller Varlam Šalamov ist der umfangreiche Band der Zeitschrift Osteuropa anlässlich dessen hundertstem Geburtstag im Jahr 2007 gewidmet. Er war 18 Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern des GULAG und in sibirischer Verbannung inhaftiert. Sein Schreiben über die Bedingungen des GULAG bezeichnete er selbst als Dokumentarprosa. Seismografisch genau schildert er menschliches Verhalten und die Bedingungen des Lebens und Sterbens in den sibirischen Straflagern. Sein gesamtes Leben über beschäftigten ihn die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens über das, was er in den Lagern der Kolyma erlebte.

Die philosophische Ebene seines Nachdenkens über das Dasein des Menschen unter Extrembedingungen von Hunger, Kälte, Gewalt und unmenschlicher physischer Arbeit wollte er jedoch bis zu seinem Tod 1982 - im Unterschied zu Alexander Solschenizyn, mit dem er sich zerstritt- , nicht für eine politisch- moralische Abrechnung mit dem Sowjetsystem instrumentalisiert sehen. Šalamov ging es darum, die Fragwürdigkeit und Zerbrechlichkeit dessen aufzudecken, was für gewöhnlich als Zivilisation oder Kultur verstanden wird. Salamov, dessen Bedeutung als Schriftsteller über diese Thematik mit der von Jorge Semprum, Primo Levi oder Imre Kertéz vergleichen werden kann, blieb bislang außerhalb des russischen Sprachraums weitgehend unbekannt.

Ihn und sein Werk kann man nun durch das Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa neu entdecken, das zu der ebenfalls 2007 erschienenen fünfbändigen Werkausgabe Šalamov umfangreiches historisch-politisches und biografisches Hintergrundwissen vermittelt. Exemplarisch sind dafür von Franziska Thun-Hohenstein, der Herausgeberin der Werkausgabe, der Beitrag „Poetik der Unerbittlichkeit. Varlam Šalamov- Leben und Werk Šalamovs“ sowie der von Nicolas Werth „Der Gulag im Prisma der Archive. Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse“ hervorzuheben. Wie Nicolas Werth darstellt, konnte erst 1989/90 damit begonnen werden, erstes Archivmaterial der GULAG- Bürokratie über das sowjetische Lagersystem zu bearbeiten. Aus diesen dann zugänglichen Quellen lassen sich seither jahrzehntelang unbeantwortete Fragen klären. Auf dem Höhepunkt dieses Lagersystems Anfang der 1950er Jahre waren 2,5 Mio. Menschen in GULAGS inhaftiert. Zwischen 1930–1953 waren insgesamt 20 Millionen Menschen Opfer der Repression. Der Anteil der Zwangsarbeit an der Energie- und Industrieproduktion der sowjetischen Volkswirtschaft betrug acht bis zehn Prozent. Kennzeichen des Systems waren niedrige Produktivität und Desorganisation.

Obwohl die Personalakten des Innenministeriums und der Geheimpolizei bis heute gesperrt sind, gibt es erste Untersuchungen über die Täter in der NKVD und GULAG- Nomenklatura. Von denen, die den Großen Terror 1937–1939 überlebten, wurde keiner strafrechtlich je belangt. Ergänzend dazu schildert Anne Hartmann den Umgang in Russland heute mit dieser Vergangenheit in ihrem Beitrag „Ein Fenster in die Vergangenheit“- Das Lager neu lesen. Die Lagerliteratur ist heute ins Abseits geraten. Die russische Gesellschaft ist voll und ganz mit der Gegenwart beschäftigt. Šalamovs Erzählungen wurden gerade wieder aus den russischen Lehrplänen der Schulen entfernt.

Doch auch für den Westen hat sich der Sensationswert der GULAG-Enthüllungen längst erschöpft, so weit, dass die junge Generation heute, wie gerade eine Befragung Jugendlicher in Schweden über ihre Kenntnisse vom Sowjetregime ergab, dass sie z.B. mit dem Begriff GULAG nichts anzufangen weiß. Für andere westliche Länder würde das Ergebnis einer solchen Befragung wohl kaum anders ausfallen. Um dem Gedächtnisverlust entgegenzuwirken gilt es, das „Lager neu zu lesen, denn die Sowjetzivilisation ist ohne ihre Schattenwelt nicht zu begreifen.“ Jenseits des etablierten Kanons von Erinnerungstexten über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es eine Literatur zu entdecken, die vielfältig und eigenwillig auf das Lager als Existenz- und Denkform reagiert.

Das Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa Nr. 6/ 2007 ist daher nicht allein für Schulen und die außerschulische politische Bildung, sondern für jeden an Zeitgeschichte und der Literatur des 20. Jahrhunderts Interessierten Leser eine unverzichtbare Lektüre ebenso wie die Werkausgabe: Varlan Šalamov „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I“. Aus dem russischen von Gabriele Leupold. Hrsg. Und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein, 342 Seiten (Matthes&Seitz) Berlin 2007.

 

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