Empfehlung Zeitschrift

Vernichtung durch Hunger

Rudolf A. Mark, Gerhard Simon, Manfred Sapper, Volker Weichsel, Agathe Gebert (Hg.): Vernichtung durch Hunger - Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR, 207 S., 25 Abb., 3 Karten, Berlin 2004, Osteuropa, 54. Jg., Heft 12 /Dezember 2004, € 15,-

Die Zeitschrift Osteuropa analysiert und diskutiert Interdisziplinär aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in Ost- Mittel- und Südosteuropa. Sie behandelt darüber hinaus auf hohem akademischen Niveau gesamteuropäische Themen, ist eine der führenden Zeitschriften der internationalen Osteuropaforschung, Forum des Ost-Westdialogs und hat eine langjährige große Tradition. 1925 von Otto Hoetzsch in Berlin begründet, musste die Zeitschrift 1939 ihr Erscheinen einstellen. Von 1951-1975 leitete Klaus Mehnert, bis 2002 Alexander Steininger die Herausgabe.

Das Photo auf der Titelseite des Bandes zeigt das „Denkmal an die Opfer des Holodomor“ in Kiev und zugleich den Blick auf die im Dezember 2004 in der ukrainischen Hauptstadt mit blau-gelben Fahnen vor einem Denkmal gegen die manipulierten Wahlen demonstrierenden Menschen. Dieses Foto symbolisiert - so die Herausgeber - zugleich das Thema diese Heftes der Zeitschrift OSTEUROPA Erinnerung, Mobilisierung und Nation mit 13 hochinteressanten Einzelbeiträgen aus verschiedenen Perspektiven.

Besonders hervorzuheben ist, dass bereits in der Zeitschrift OSTEUROPA von 1932 die Hungerkatastrophe, erstmals schriftlich erwähnt wurde. Otto Auhagen schrieb damals von „dem furchtbaren Elend“, „das kein Berichterstatter verschweigen darf“. Doch Verschweigen war Methode in der UdSSR: Der Holodomor war ein Tabu. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit, die Erinnerung an die Opfer und die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit konnten erst mit der Unabhängigkeitsbewegung während der Perestrojka beginnen und eine ungeheure nationsbildende Kraft in der Ukraine entfalten. Obwohl bereits vorher bekannt, beschäftigten sich westliche Historiker erst seit der Perestroika mit der Holodomor genannten Massenvernichtung durch Hunger.

Es ist daher kein Zufall, dass es wieder die Zeitschrift OSTEUROPA ist, die den neuen empirischen Befunden der Holodomor-Forschung ein ganzes Heft gewidmet hat, das, obwohl bereits Ende 2004 erschienen, nichts an Aktualität hinsichtlich des Forschungsstandes eingebüßt hat. Die Vernichtung durch Hunger wurde in der UdSSR während der Zeit des Stalinismus neben dem Verschweigen propagandistisch durch Photographie und bildende Kunst zynisch verdeckt und umgedeutet mit Motiven von reichen Ernten und Nahrung während des ersten Fünfjahresplans. In der Spätphase des Stalinismus erhielt ein Gemälde Brot (1949) den Stalin-Preis. Die Bildsprache versprach eine paradiesische Zukunft von Überfluss, Sattheit und Glück im Sowjetreich. Die Realität war eine andere. Wasser und Brot als elementarste Bedingungen menschlichen Lebens wurden Millionen Menschen vorsätzlich entzogen und führte zu millionenfachem Verdursten und Verhungern. Die Vernichtung von sechs bis sieben Millionen Menschen in der Ukraine 1932/1933 während der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Etablierung des stalinistischen Systems in der UdSSR ist zu Recht ein integraler Bestandteil der Geschichte der Massenvernichtungen des 20. Jahrhunderts. Heute ist der Holodomor – in der Wortbedeutung Hungerkatastrophe - für das nationale Selbstverständnis der Ukraine ähnlich bedeutsam wie die Vernichtungserfahrung des Holocaust für das Selbstverständnis Israels.

Neben der Auseinandersetzung mit den historischen Fakten stellt sich dieses Heft daher zugleich einer zweiten wichtigen und aktuellen Debatte: Der Analyse des Holodomor im Rahmen vergleichender Studien über Genozide und andere Formen der Massenvernichtung im 20. und 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt ist dieses Themenheft der Zeitschrift OSTEUROPA für die Auseinandersetzungen im zusammenwachsenden Europa über die existierenden, unterschiedlich geprägten Erinnerungskulturen in Ost und West eine unverzichtbare Quelle für Schulen, die politische Bildung und den öffentlichen historisch-politischen Diskurs.

 

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