Von Ingolf Seidel
Mit Viola B. Georgi und Rainer Ohliger legen zwei, auf dem Gebiet der interkulturellen Pädagogik profilierte Wissenschaftler/innen einen interessanten Sammelband zum Geschichtslernen in der Einwanderungsgesellschaft vor. Der Ausgangspunkt der Herausgeber/innen ist die Feststellung, dass zur „gesellschaftlichen Teilhabe auch die Selbstverortung durch Auseinandersetzung mit Geschichte“ (S. 12) gehört. Dieser Prozess vervielfältigt sich in der Einwanderungsgesellschaft, womit die Geschichtsbilder und Narrative einen kaleidoskopartigen Charakter annehmen.
Die Leistung von Jugendlichen aus Familien mit Migrationserfahrung sich vor dem Hintergrund der familiären Erzählungen aus den Herkunftsländern der Eltern oder Großeltern zu positionieren ist kaum zu überschätzen. Zumal von ihnen erwartet wird sich in ein Verhältnis zur deutschen Geschichte, die nachhaltig durch die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust geprägt ist, zu setzen. Diese Positionierung hat, wie Viola Georgi schreibt, die Funktion eines Eintrittsbillets in die deutsche Gesellschaft (S. 67).
Der Band macht es sich zur Aufgabe den unterschiedlichen Herausbildungen von Geschichtsbewusstsein nachzuspüren. So wird offen gelegt, wie normative Setzungen durch mediale und unterrichtliche Kommunikation zu einer Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten beitragen können.
In vierzehn Aufsätzen schildern Erziehungswissenschaftler/innen, Museumspädagog/innen, Bildungsarbeiter/innen aus der (historisch-)politischen Bildung, Gedenk- und Museumspädagog/innen ihre Erfahrungen aus der praktischen Arbeit mit Jugendlichen und geben in theoretischen und biografischen Reflexionen Anregungen zur Auseinandersetzung um die Ausformungen historischen Bewusstseins von Jugendlichen.
Bodo von Borries stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob nicht „altdeutsche und zugewanderte Kinder“ sich in ihrem „rudimentären Geschichtsverständnis“ viel näher sind, als „Lehrer und Didaktiker glauben“ (S. 29). Gleichzeitig warnt er vor einer Durchsetzung eines hegemonialen und vereinheitlichenden Geschichtsbildes im Geschichtslernen, welches mit einer Kolonisierung der jugendlichen Lebenswelten verbunden sei.
Die deutsche Vereinigung und ihre Bedeutung für die Nachfahren der ersten Generation türkischer Gastarbeiter, die im Zuge des Anwerbevertrages von 1961 in die BRD kamen, wird von Nevim Çil reflektiert. Sie beschreibt den Mauerfall und seine Folgen als identitätsrelevantes Ereignis für türkische Einwanderer und als Gradmesser dafür „inwiefern die Geschichte der Migranten als Teil der >>offiziellen<< Geschichte anerkannt wird.“ In diesem Sinne kommt die Autorin zu dem Schluss, dass der vielfach vorzufindende Rückbezug von türkischstämmigen Migrantenkindern auf die Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft zurückgeht, „werdende Deutsche als bereits gewordene Deutsche zu begreifen“ (S.58f).
Im Anschluss daran hinterfragt Carlos Kölbl die Kategorie Migrationshintergrund und diskutiert die Frage was eine kollektive Vergangenheit in einer Einwanderungsgesellschaft überhaupt bedeutet. In diesem Zusammenhang weist er sinnvoll darauf hin, dass weder bei Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund von einem einheitlichen Bewusstsein für die Geschichte gesprochen werden könne.
Die wesentliche Anforderung an den heutigen Geschichtsunterricht ist für ihn „die Phänomene der Migration und der Globalisierung überhaupt ernst“ zu nehmen (S.71) wozu unter anderem das Erlernen von welt- und globalgeschichtlichen Perspektiven, die Entwicklung von Differenz- und Fremdheitssensibilität, die Erlangung der Kompetenz das „eigene im Fremden“ und das „Fremde im Eigenen“ zu erkennen, gehört.
Neben dem Beitrag von Johannes Meyer-Hamme, über Fallstudien zu historischen Identitäten und Geschichtsunterricht, enthält der Band Aufsätze der beiden Herausgeber/innen und ausführliche Beiträge zu biographischen Reflexionen junger Migrantinnen und Migranten und zur Praxis des Geschichtslernens von Basil Kerski, Ufuk Topkara, Martin Liepach, Gottfried Kößler, Karoline Georg, Mirko Niehoff und Aycan Demirel. Aus der Fülle der hoch interessanten Beiträge sollen hier nur zwei, bisher nicht erwähnte Autor/innen, herausgehoben werden.
Sergey Lagodinsky beschreibt in einem hochgradig persönlichen und reflektierten Portrait die „Wege einer jüdischen Familie nach und in Deutschland“ (S.131). Dabei handelt es sich um die Geschichte seiner Familie, mithin um die eigene Migrationsgeschichte. Lagodinsky weist darauf hin, dass Integration keine Einbahnstraße sei, sondern eine „rasende Autobahn“, auf der Unaufmerksame überfahren würden oder in einer Sackgasse enden würden. Dem lärmenden Hype um ein „neues deutsches Judentum“ zum Trotz weist er sensibel darauf hin, dass es gerade die Älteren seien, die unserer Aufmerksamkeit entgehen und als erste in den Untiefen der bundesdeutschen Gesellschaft standen (S. 136f).
Wo vom Leben in einer Einwanderungsgesellschaft die Rede ist, wären gerade Wahrnehmung der Erfahrungen und des Wissens dieser Älteren, oft hochgradig qualifizierten Menschen, die als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen, gesellschaftlich und individuell wertvoll.
Der zweite Beitrag von Elke Gryglewski, der hier ausdrücklich Erwähnung finden soll, beschreibt ein Geschichtsprojekt zum Thema Nationalsozialismus mit 16 Jugendlichen, aus dem arabischen Jugendclub Karame in Berlin-Moabit. Das Kooperationsprojekt zwischen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und dem Jugendclub mündete in einer gemeinsamen Fahrt der Gruppe nach Israel und in die palästinensischen Autonomiegebiete.
Die Autorin rückt manche vereinheitlichende Sichtweise auf Jugendliche Migranten zurecht. Sie widerspricht Sichtweisen seitens Pädagoginnen und Pädagogen aus der Mehrheitsgesellschaft, die Jugendliche mit muslimischem Familienhintergrund per se als Problemfälle bei der Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus sehen. Dabei stellt Gryglewski nicht in Abrede, dass sich Jugendliche Migrantinnen und Migranten problematisch bis antisemitisch äußern. Ein wesentlicher Bestandteil des beschriebenen Projekts war die Beschäftigung mit der Geschichte der Palästinenser und den eigenen Familiengeschichten. Hierin liegt auch der Unterschied zum durchschnittlichen Geschichtslernen. Ohne falsche Gleichsetzungen zu betreiben ist die Beschäftigung der Herkunftsgeschichte von Jugendlichen ein wesentlicher Bestandteil einer interkulturellen Pädagogik der Anerkennung. Damit entsteht auch die Offenheit bei den Jugendlichen sich auf andere Geschichtsgeschichten einzulassen und auch manche zu Beginn des Projektes formulierten "Wir" (Palästinenser)-Positionen zu hinterfragen.
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- 6 Okt 2010 - 10:00