Deutsche Geschichtspolitik nach 1989
Sechzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und nach siebzehn Jahren Diskussion wurde am 12. Mai 2005 in Berlin das von Peter Eisenman entworfene Denkmal für die ermordeten Juden Europas der Öffentlichkeit übergeben. Bisher haben über 100 000 Menschen den unterirdischen Ort der Information besucht.
Durchschnittlich 2000 Besucher pro Tag reihen sich ein in die Schlange vor dem Eingang und nehmen wegen der begrenzten räumlichen Kapazität zum Teil erhebliche Wartezeiten in Kauf. Wie viele Besucher in diesen ersten Wochen darüber hinaus das rund um die Uhr zugängliche Stelefeld durchwandert haben, ohne den Ort der Information aufgesucht zu haben, wurde statistisch nicht ausgewertet.
Das Mahnmal ist damit nach dem Jüdischen Museum zu einem neuen Anziehungspunkt in Berlin geworden. Aussagen darüber, mit welchen Erwartungen die Besucher kommen, mit welchen Gefühlen sie das Mahnmal erleben, welche Erkenntnisse sie mitnehmen, ob sie der Ermordeten gedenken wollen, oder ob sie einfach nur hingehen, weil das Mahnmal ein Touristenattraktion ist, sind noch verfrüht. Es ist jedoch zu erwarten, dass Meinungsforscher bald entsprechende Untersuchungen anstellen werden. Bundeskanzler Schröder wünschte sich, dass das Berliner Mahnmal künftig ein Ort sein möge, zu dem die Menschen "gerne" hingehen. Diese seltsame Formulierung des Kanzlers, die Leggewie und Meyer für ihrem Buchtitel verwendet haben, wirft diverse Fragen auf, die das Buch allerdings nicht beantwortet:
- Wieso soll ein solcher Ort des schwierigen Gedenkens eigentlich ein Ort sein, zu dem man gerne hingeht?
- Kann solches Erinnern vom Staat verordnet werden?
- Wird dieser Ort zur Erinnerung an jenes Verbrechen des Holocaust auch in Zukunft das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik prägen?
- Wie verhält es sich zu den anderen Opfern des Nationalsozialismus?
Die Politologen Claus Leggewie und Erik Meyer beschreiben einleitend im ersten Kapitel den erbitterte Streit, der der Realisierung des Mahnmals vorausging. Der Schwerpunkt ihrer Darstellung ist das Kapitel, in dem der komplizierte Weg nachgezeichnet wird, der zur Entscheidung für Eisenmanns Mahnmal führte, und, wie die Öffentlichkeit mit der Erinnerung an den Holocaust in den vergangenen 15 Jahren umgegangen ist.
Das Schlusskapitel ist der Versuch eines Resümees und Ausblicks, der gegenwärtig in der etablierten Gedenkstättenszene und im politischen Gedenkdiskurs erörterten Topoi. Auch hier vermeiden die Autoren jenes ideologisch heiße Eisen, die Kernfrage nämlich, ob es in dem Land mit einer Vielzahl von authentischen Erinnerungsorten sinnvoll, d.h. richtig oder falsch war, dieses "künstliche" Denkmal an einem ambivalenten Ort zu errichten.
Ein Faktum ist, dass mit der Entscheidung für das Mahnmal an diesem Ort der Holocaust in der Deutung als "einzigartiges und unvergleichliches" Verbrechen sichtbar aus dem Kontext der NS-Massenmordpolitik gelöst und eine Hierarchisierung im Gedenken an die Opfer realisiert wurde, auch wenn dies wortreich nicht besonders überzeugend bestritten wird.
Die Auseinandersetzungen waren ja vor allem deshalb so kontrovers, weil Befürworter und Gegner über die Frage stritten, "wer" baut "wem" zu "welchem Zweck" ein Mahn-/Denkmal. Wäre dieser Fragenkomplex vor der Entscheidung des Bundestages, das Mahnmal zu errichten, klar und eindeutig formuliert worden, dann hätten viele Missverständnisse bereits früh aus der Welt geräumt werden können. Das wollte man nicht. Die Autoren wollen ihr Buch verstanden wissen als eine Nahaufnahme der Bundesrepublik, die so gerne ein ganz normaler Staat wäre - und ganz genau weiß, dass sie das nicht werden kann. Für sie sind die Kontroversen, die um die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas im Zentrum Berlins geführt wurden, symptomatisch für die Schwierigkeiten Deutschlands im Umgang mit seiner diktatorischen Vergangenheit.
Die Autoren zeigen, was man aus diesen Auseinandersetzungen über Deutschland und seine Erinnerungskultur lernen kann. Seine Entstehung verdankt das Buch als politikwissenschaftliches Projekt im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereiches. Ob es mit seinem Umfang - 396 Seiten, und leider ohne Register - tatsächlich eine breitere Leserschaft ohne Vorkenntnisse erreicht, mag man den Autoren wünschen, ist aber auch angesichts der bisweilen zu akademischen Politologensprache eher zweifelhaft.
Zu den Autoren
Claus Leggewie, geboren 1950, ist Professor für Politikwissenschaften in Gießen. Erik Meyer, geboren 1968, ist promovierter Politikwissenschaftler, Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich "Erinnerungskulturen" an der Universität Gießen und arbeitet dort zum Thema Geschichtspolitik. Eine Sammelrezension zu den 2005 erschienen Publikationen zum Holocaust-Mahnmal finden Sie auch unter H-soz-u-kult.
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- 26 Nov 2009 - 01:49