Empfehlung Fachbuch

Weiße Barbarei

Rosa Amelia Plumelle-Uribe: Weisse Barbarei - Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis. (2004) Rotpunktverlag Zürich, 369 S.

Ausschluss, Verbannung und Vernichtung ganzer Völker ist fester Bestandteil der europäischen Zivilisation - oder Barbarei. Eine der Thesen dieses Buches lautet: Mit der Rassenpolitik der Nationalsozialisten trat etwas ans Licht der europäischen Öffentlichkeit, was lange zuvor seinen Anfang genommen hatte: das System der Vernichtung von Menschen und ganzen Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer vermeintlichen "Rassen"-Zugehörigkeit, wie es bis dahin nur die kolonialisierten, nicht-weißen Völker erlitten hatten.

Die in Kolumbien geborene und aufgewachsene, heute in Frankreich lebende Autorin Rosa Amelia Plumelle-Uribe - sie selbst ist Nachfahrin deportierter und versklavter Afrikaner und indigener Einwohner Amerikas - analysiert den Holocaust vor dem Hintergrund einer eigentlich europäischen "Kultur der Vernichtung" und zeigt, wo die Rassenpolitik der Nazis in der Tradition des Kolonialrassismus steht und wo sie aus ihr ausbricht.

Dabei geht es ihr nicht um eine Relativierung der Naziverbrechen, sondern darum zu zeigen, dass die kolonialen Menschheitsverbrechen eben nie Bestandteil des westlichen Geschichtsbewusstseins geworden sind: die sich über Jahrhunderte erstreckende Geschichte der millionenfachen Vernichtung von Männern, Frauen und Kindern in Afrika und Amerika durch weiße Europäer, die all diesen Menschen das Menschsein absprachen. Die Fakten sind bekannt, doch über die Dimensionen dieser Verbrechen findet man in den Geschichtsbüchern der weißen Welt kaum etwas.

Lebten um 1500 noch etwa achtzig Millionen Menschen in Amerika, so waren es Mitte des 16. Jahrhunderts nur noch zehn Millionen. Allein in Mexiko sank die Bevölkerungszahl von 25 Millionen vor der Eroberung (conquista) auf eine Million um 1600. Ähnlich im Kongo: unter dem Terrorsystem König Leopold II. wurden zwischen 1885 und 1908 zehn Millionen Menschen mit auch für damalige Verhältnisse beispielloser Grausamkeit getötet.

Der Autorin geht es vor allem um die Analyse der Motive und Interessen der Täter, die Techniken der Terrorisierung und Vernichtung und ihre Rechtfertigungsstrategien. Ihre überzeugend belegte These besagt, dass gerade hier verblüffende Ähnlichkeiten und Verbindungen zum NS-System zu finden sind. Mit Recht wird daher aus der Perspektive der kolonisierten Welt der vielzitierte Begriff des "Zivilisationsbruchs" von Dan Diner für die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Juden in Frage gestellt ebenso wie die These Daniel Goldhagens, der Genozid an den Juden sei auf eine spezifische, durch die Reformation Luthers begonnene kulturelle Fehlentwicklung der Deutschen zurückzuführen.

Der Unterschied zwischen der über dreihundertjährigen Barbarei in Afrika und Amerika und der zwölf Jahre dauernden des NS-Regimes liegt nach Plumelle-Uribe darin, dass erstmals weiße Menschen als "minderwertig" definiert zu Opfer von Vernichtungspolitik wurden. Doch während die Verbrechen der Nationalsozialisten nach 1945 juristisch geahndet wurden und durch Entschädigung und Erinnerung wenigstens versucht wurde, den Opfern moralisch Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, wird Anerkennung und Gerechtigkeit den Opfern der Sklavenhalter und Kolonialherren noch immer vorenthalten.

Nicht zuletzt wirkt der Kolonialrassismus wegen der mangelnden Aufarbeitung auch nach dem Holocaust bis heute nach, wie die Autorin an Beispielen der Apartheidpolitik in Südafrika und den rassistischen Strukturen der US-amerikanischen Rechtsprechung überzeugend belegt. Auch wenn man trotz der kaum zu bestreitenden Analogien die These der Autorin nicht teilt, es bestehe eine Kausalität zwischen den Völkermorden, ist das Buch aufklärend und wichtig im Kontext der Debatten um multikulturelle Gesellschaft und historische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft.

Das Urteil des französischen Historikers Alfred Grosser über Rosa Amelia Plumelle-Uribes Buch ist ebenso provokant wie bemerkenswert, weil zutreffend: "Das Buch macht bewusst, dass das Verbot eines Vergleiches mit dem Holocaust, das Tabu, dessen Vokabular zu benutzen, auf einen uneingestandenen weißen Rassismus zurückzuführen ist."

Zu einer ähnlichen Thematik gibt es eine Rezension zur Publikation von Peter Martin und Christine Alonzo (Hg.): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus. (2004) Dölling und Galitz Verlag München, 790 S. in diesem Webportal: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/4002/2009-...

 

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