1956 – 68 Jahre danach. Die antiwestliche Umdeutung von Erinnerung in Ungarn?
Árpád v. Klimó
Als am 24. Februar 2022 russische Panzer in die Ukraine eindrangen, erinnerte das an den 4. November des Jahres 1956, als 15 sowjetische Divisionen in Ungarn einmarschierten. In beiden Fällen hatte die Führung in Moskau den Einmarsch deshalb befohlen, weil in den Nachbarländern Massendemonstrationen neue Regierungen an die Macht gebracht hatten, die eine neue, nach Westen orientierte Außenpolitik versprachen, vor allem aber im Inneren mehr Demokratie ermöglichen wollten. Das wurde in Moskau als Bedrohung für das eigene, autoritäre politische System angesehen, vermutlich auch, weil der Führung die geringe Attraktivität ihres eigenen politischen Modells bewusst war.
WAS 1956 IN UNGARN GESCHAH...
Am 1. November 1956 hatte der damalige kommunistische Ministerpräsident Imre Nagy Forderungen der antistalinistischen Protestbewegung nach mehr Demokratie akzeptiert, und zugleich den Austritt Ungarns aus dem von Moskau kontrollierten Warschauer Pakt verkündet. Obwohl die Proteste der Studierenden, der überwiegend jüngeren Arbeitenden sowie von Teilen der ungarischen Armee sich zunächst vor allem gegen die brutale stalinistische Diktatur und deren Symbole richteten – am 23. Oktober hatten Demonstrierende eine Statue von Stalin in Budapest gestürzt –, war klar, dass eine Demokratisierung Ungarns kaum von der außenpolitischen Ausrichtung des Landes zu trennen war.
Die stalinistische Diktatur mit ihrer allgegenwärtigen Propaganda, ihren gewaltsamen Umerziehungsmethoden und ihrem umfangreichen Unterdrückungssystem hatte sich nach Stalins Tod 1953 leicht geöffnet. Sie schränkte jedoch weiterhin fast jegliche Möglichkeit ein, sich als Individuum außerhalb des starren kommunistischen Rahmens zu bewegen.
In Kijv (Kiew) hatten 2014 blutige Kämpfe am Maidan-Platz zu einer Kursänderung der ukrainischen Regierung, zum Versprechen für mehr Demokratie, und vor allem für eine Annäherung an die Europäische Union geführt. Die russische Führung reagierte mit der gewaltsamen, militärischen Besetzung der Krim sowie weiterer ukrainischer Gebiete. In beiden Fällen hatten sich die Demonstrationen an der Frage entzündet, ob in Ungarn bzw. in der Ukraine eine freiheitliche, demokratische Ordnung möglich sein könnte, oder ob die weitere Entwicklung der beiden Länder von Moskau aus diktiert werden würde. Dies ist jedenfalls eine mögliche Deutung der Ereignisse von 1956 und 2014. Doch weil historische Begebenheiten immer komplex sind, kann das Damals auch über andere Erzählungen mit der heutigen Zeit verknüpft werden.
VIKTOR ORBÁN UND 1956
Die heutige ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán deutet die Revolution von 1956 anders. Sie sieht keine Parallele zwischen dem Angriff der Sowjetunion von damals und dem brutalen Angriffskrieg von heute. In einer Rede, die Orbán 2023 anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Revolution von 1956 hielt, erwähnt er den im Nordosten tobenden Krieg eher am Rande. Er betont vielmehr, dass seine Regierung für den Versuch gescholten worden sei, die Völker Europas davon abzubringen, „in einen Krieg zu marschieren“. Orbán bezieht sich damit auf seine Entscheidung, im Unterschied zu Polen, Tschechien, der Slowakei oder den baltischen Staaten sowie der überwiegenden Mehrheit der Europäischen Union und der NATO, die Ukraine nicht militärisch zu unterstützen. Stattdessen lässt sich Orbán 2024 auf Wahlplakaten zeigen, auf denen er unter vier riesigen, blauen Buchstaben zu sehen ist, die das Wort „BÉKE“ (Frieden) bilden. Denn, so Orbán: Brüssel sei in einen Krieg hineingerast, „aus dem es nicht wieder herauskommt“. Kein Wort davon, dass Russland die Ukraine, einen souveränen Nationalstaat, dessen Grenzen Moskau vertraglich garantiert hatte (Budapester Erklärung 1994), willkürlich überfiel.
In seiner Rede in Veszprém geht der selbsternannte Friedens-Premier aber noch weiter: Statt die Sowjetunion mit der derzeitigen russischen Führung unter dem ehemaligen KGB-Mann Vladimir Putin zu vergleichen, zieht er Parallelen zwischen dem kommunistischen Moskau und der EU-Zentrale in Brüssel! In Abwandlung eines Zitates von Karl Marx, wonach sich historische Tragödien als Farce wiederholen (vgl. Marx 1852: 115. Das Originalzitat lautet: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“), konstatiert Orbán: Brüssel sei zwar nicht Moskau, aber auch Brüssel wolle Ungarn diktieren, was es zu tun habe, und wörtlich: „Moskau war eine Tragödie; Brüssel ist nur eine schlechte, heutige Parodie. Wir mussten nach Moskaus Pfeife tanzen. Aber wenn Brüssel pfeift, tanzen wir, wie wir wollen; und wenn wir nicht wollen, tanzen wir einfach nicht“ (Rede in eigener Übersetzung).
Zugleich betrauert Orbán die Opfer von 1956, besonders Studierende und einen jungen Lehrer aus Veszprém, der an Demonstrationen teilnahm und später hingerichtet wurde. Diesen Märtyrern und Helden setzt er die damaligen ungarischen Kommunisten gegenüber, die während der Revolution treu an der Seite der Sowjets blieben. Solche „nationalen Verräter“ seien nach 1989 in der Sozialistischen Partei zu finden gewesen, die Ungarn in den 1990er und frühen 2000er Jahren regierte. Letztlich seien es aber die Opfer von 1956 gewesen, die langfristig zur friedlichen Wende von 1989 beigetragen hätten. Dabei klammert er die wichtige Rolle der Reformkommunisten aus, die den Übergang in die Demokratie ganz entscheidend unterstützt hatten.
Vertreterinnen und Vertreter der marginalisierten ungarischen Opposition betonen dagegen die Parallelen zwischen der sowjetischen Invasion von 1956 und dem russischen Einmarsch in die Ukraine von 2014 bzw. 2022. So etwa der ungarisch-amerikanische Politiker Daniel Berg, Vizepräsident der Allianz von Liberalen und Demokraten (ALDE) im Europäischen Parlament und Vizebürgermeister des II. Bezirks der Hauptstadt Budapest, der Orbáns prorussischen Kurs als Verrat an 1956 bezeichnet (vgl. The Guardian, 23.10.2023). Es sei traurig, so Berg, dass der Geist von 1956 heute eher in Kijv als in Budapest zuhause sei.
NACH DEN WAHLEN VON 2024:
ORBÁN BLEIBT POPULÄR
Orbáns Partei Fidesz hat in den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 ihre Mehrheit mit 45 % behaupten können. Das bedeutete zwar einen Stimmenrückgang für die Regierungspartei, doch Daniel Bergs Partei Momentum bekam lediglich 3,7 % der Stimmen, während die neu gebildete, eher konservative Oppositionspartei TISZA auf fast 30 % kam. Wie erklärt sich also die relativ geringe Unterstützung für das scheinbar einleuchtende antirussische Narrativ der Ereignisse von 1956 bzw. warum wird Orbán, der seit 2010 stets wiedergewählt wurde, noch von einem großen Teil der ungarischen Gesellschaft unterstützt? Auch wenn die Wahlen durch große Hindernisse für die Oppositionsparteien nicht gleich waren und im Kontext eines von der Regierung fast vollständig kontrollierten Mediensystems geschahen, lässt es sich nicht leugnen, dass Orbán und seine Ideen weiterhin von sehr vielen Ungarinnen und Ungarn unterstützt werden. Wie lässt sich das im Hinblick auf die verschiedenen Erinnerungen an 1956 erklären?
Die Erinnerung an 1956, die bis 1988 unterdrückt und nur in der Diaspora und von einigen Dissidenten gepflegt wurde, war 1989 zentral für den Übergang zur Demokratie. Das wichtigste symbolpolitische Ereignis im Sommer 1989 war die feierliche Wiederbestattung von Imre Nagy und den anderen 1958 hingerichteten Führungsfiguren der Revolution. In einer bewegenden Feier auf dem Budapester Heldenplatz, unter der Teilnahme von Hunderttausenden vor Ort und Millionen an den Fernsehgeräten, erinnerten Redner, die sowohl den Reformflügel der kommunistischen Partei als auch die damalige demokratische Opposition repräsentierten, an die Tragödie von 1956 und richteten ihren Blick auf eine demokratische Zukunft des Landes. Aber bald danach degenerierte das Gedenken zu einem Reservoir für parteipolitische Streitereien. Jede politische Gruppierung versuchte, sich selbst als „wahre“ Repräsentanten der Heldinnen und Helden von damals und den jeweiligen politischen Gegner als Erben der „Verräter“ von 1956 darzustellen.
Viktor Orbán, damals erst 26 Jahre, sprach als Vorsitzender der 1988 neu gegründeten Partei Bund Junger Demokraten (ungarisch Fiatal Demokraták Szövetsége, daraus das Akronym Fidesz) leidenschaftlich und mit wehenden langen Haaren. Seine Rede wurde berühmt, da er der einzige Redner war, der es wagte, die „russische Besetzung und die kommunistische Diktatur“ direkt anzusprechen und den Abzug der „russischen“ Truppen zu verlangen.
Seinen kämpferischen Antikommunismus behielt er über die Jahrzehnte bei, doch bringt Orbán das heutige, postkommunistische russische Regime nicht mit 1956 in Verbindung (selbst Putin hat jüngst die sowjetische Invasion von 1956 als „Fehler“ bezeichnet). Diese rhetorische Unterscheidung zwischen russisch und kommunistisch geht einher mit der heutigen Kritik Orbáns an Brüssel. Er behauptet, nicht gegen die EU zu sein, sondern gegen die derzeitige politische Mehrheit in den europäischen Zentralen, die Ungarn dafür kritisiere, an seinen Werten und Traditionen festzuhalten, dem Land zugleich aber Ideen wie die „Gender-Ideologie“ aufzwingen wolle. Eine solche Kritik ist indes nicht nur in Ungarn, sondern auch in der Slowakei, in Ostdeutschland und sogar in vielen Teilen Westeuropas (wie z.B. Italien) durchaus populär. In Orbáns Erzählung hält Ungarn an eher konservativen europäischen Idealen (Nation, Tradition, Familie, Christentum) fest, wie sie seiner Ansicht nach 1989 noch bestanden, heute in Brüssel jedoch nicht mehr von einer Mehrheit vertreten würden. Sein Blick auf die Ukraine, so könnte man daraus folgern, ist frei von Empathie, da die Ukrainerinnen und Ukrainer in seinen Augen quasi für eine „falsche“, „woke“ europäische Idee kämpfen würden.
STABILITÄT NACH SCHWEREN KRISEN
Man kann die Popularität des autoritären, konservativen Systems, dass Orbán seit 2010 in Ungarn aufgebaut hat, auch mit den schweren ökonomischen und sozialen Krisen und damit einhergehenden Enttäuschungen erklären, die das Land seit 1989, und besonders seit dem Beitritt zur EU und zur NATO im Jahr 2004, heimgesucht haben. Orbán verspricht der ungarischen Gesellschaft politische Stabilität und eine unabhängige, national-egoistische Außenpolitik in einer krisengeplagten, unsicheren Welt. Dabei verschränkt er die Westbindung des Landes mit der Hoffnung, dass der Westen sich dem ungarischen kulturpolitischen Sonderweg annähern würde, was die Europawahl in Italien, den Niederlanden und andernorts vielleicht sogar bestätigen. Damit knüpft Orbán unausgesprochen an die Politik János Kádárs an, jenes kommunistischen Führers, der 1956 mit brutalen Mitteln, gestützt auf die Sowjetarmee, die Macht übernahm und blutige Rache an den Aufständischen, einschließlich Imre Nagy, übte. Allerdings, und das war auf lange Sicht wichtiger, lockerte er ab den 1960er Jahren die Diktatur, ermöglichte mehr kulturelle Freiheiten, begrenzte Propaganda und Umerziehungsmaßnahmen und baute einen Wohlfahrtsstaat auf Pump auf, den viele Ungarinnen und Ungarn heute in relativ positiver Erinnerung haben. Dieser Gesellschaftsvertrag – politische Abstinenz gegen soziale Sicherheit und relative private Freiheit – erscheint rückblickend, angesichts eines derzeit herrschenden Gefühls großer politischer und ökonomischer Unsicherheit, für viele Menschen in Ungarn nicht als die schlechteste Option.
QUELLEN UND LITERATUR
Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Marx-Engels-Werke, Band 8, S. 115.
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- 28 Aug 2024 - 06:31