Gegenwart und Zukunft des Geschichtswettbewerbs in einer Kultur der Digitalität. Zur Perspektive der Public History
von Christian Bunnenberg
Es ist eine Binsenweisheit: Die Digitalisierung – und damit ist ganz allgemein die Nutzung von digitalen Daten sowie von algorithmischen Systemen zur Verbesserung bestehender Prozesse oder zur Erschließung neuer Handlungsfelder gemeint – ergreift in einem rasanten Tempo fast alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Vor allem das Smartphone hat in Kombination mit einem flächendeckenden Ausbau der Mobilfunkinfrastruktur dazu geführt, dass eine signifikante Anzahl an Menschen dauerhaft ein solches mobiles Endgerät mit Internetzugang für die verschiedensten Aufgaben nutzt – unter anderem für Instant Messaging, Soziale Netzwerke, Online-Shopping, Mobile Payment, Entertainment, Websuchen und zur Navigation. Dieser Beitrag skizziert die Auswirkungen der digitalen Transformation auf Geschichtswissenschaft, Public History und den Geschichtswettbewerb und reflektiert den Umgang mit fragilen Fakten und Wahrheitskonkurrenzen in Zeiten der digitalen Transformation.
Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft
Auch Wissenschaft und Bildung sind den Einflüssen der Digitalisierung ausgesetzt und müssen sich dazu jenseits von begründeter und unbegründeter Ablehnungs- oder Zustimmungsrhetorik verhalten. Dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft als noch immer überwiegend textgebundenes Fach, das vor allem schriftliche Quellen und gedruckte Darstellungsformen bevorzugt und zu visuellen, auditiven und audiovisuellen Repräsentationen von Vergangenheit und Geschichte – trotz theoretischer und methodischer Auslassungen der Visual History, Sound History, Mediengeschichte oder Oral History – ein distanziertes Verhältnis pflegt. Allerdings ist der Arbeitsalltag zwischen der schriftlichen Quelle und den gedruckten Forschungsergebnissen bereits weitgehend digital: Historikerinnen und Historiker nutzen neben der gängigen technischen Büroinfrastruktur vor allem Datenverarbeitungsprogramme, Datenbanken und spezifische Programme zur Analyse und Visualisierung, die unter anderem auch von den Digital Humanities entwickelt werden (vgl. Hiltmann 2020: 41–45).
Darüber hinaus steht die Geschichtswissenschaft, und hier vor allem die Zeitgeschichte, unter einem gewissen Handlungsdruck, denn die Menschen im 21. Jahrhundert hinterlassen zunehmend digitale Spuren – sei es in Verwaltungsvorgängen, in der Medienlandschaft oder der individuellen Dokumentation von Alltag. Geschichtswissenschaft und Archive stehen daher, so der Zeithistoriker Malte Thießen, bereits jetzt vor Herausforderungen wie Datensicherung und -erhaltung, damit diese Spuren in der Zukunft als mögliche Quellen unserer Gegenwart erhalten bleiben (Thießen 2022: 40–46).
Digitalisierung als Phänomen der Public History
Weitaus sichtbarer ist der digitale Wandel im Feld der Darstellung und Vermittlung von Geschichte in und für die Öffentlichkeit: der Public History. Zu den klassischen Formaten wie dem historischen Fach- oder Sachbuch, dem Dokumentar- oder Spielfilm mit historischen Themen oder Bezügen, der Stadtführung, der musealen Ausstellung, dem Radiofeature und Spielzeug sind mediale Formate hinzugekommen – z.B. Website, Blog, Soziale Medien, Podcasts, Virtual Reality, digitale Spiele –, in denen Vergangenheit und Geschichte verhandelt werden. Auf der ersten Ebene, der Darstellung von Geschichte, mögen sich dabei zunächst wenig disruptive Veränderungen zeigen, schließlich ist eine mehrteilige Dokumentation auf YouTube zunächst auch nur eine audiovisuelle Darstellung von Geschichte. Auf den nachgelagerten Ebenen der Produktion, Distribution und Rezeption stellt sich das hingegen schon anders dar: Die Digitalisierung ermöglicht seit dem Web 2.0 und dem Social Web nicht mehr nur die Teilnahme, sondern auch die Teilhabe einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren an der Geschichtskultur. Die Trennung zwischen Produzierenden und Konsumierenden verliert immer mehr an Klarheit, da letztlich jede und jeder Inhalte erstellen und verbreiten kann. Dies begünstigt die Verbreitung von „alternativen“ Fakten, Halbwahrheiten und Verschwörungserzählungen und lässt die Nutzerinnen und Nutzer mit der Bewertung derselben allein (vgl. dazu beispielsweise die Diskussion um das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl in Berg und Kuchler 2023: 235–244).
Zusammenfassend lässt sich zu diesem durch die Digitalisierung angestoßenen medialen Wandel aus der Perspektive von Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik und Public History positiv gewendet feststellen, dass mit den erweiterten Produktionsmitteln, Distributionswegen und Zugriffsmöglichkeiten neben den etablierten Akteurinnen und Akteuren noch weitere Personenkreise an der Darstellung und Vermittlung von Geschichte teilhaben können und es somit eine gesellschaftliche Demokratisierung von Geschichte gibt. Negativ gewendet entsteht jedoch zu viel Angebot mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen von zu vielen Beitragenden mit stark ausdifferenzierten Professionen und Intentionen, so dass bisherige Instanzen der Geschichtskultur und sogar die Geschichtswissenschaft gezwungen werden, ihre Inhalte verstärkt zu legitimieren (Bunnenberg/Logge/Steffen 2021: 267–283).
Geschichtswettbewerb und Digitalisierung
Welche Konsequenzen lassen sich aus diesen Beobachtungen zur Digitalisierung und dem damit verbundenen medialen Wandel für den Geschichtswettbewerb ableiten? Der Geschichtswettbewerb versteht sich zunächst als Ort, an dem im Idealfall Schülerinnen und Schüler aus eigenem Interesse, durch engagierte und im Fach kompetente Tutorinnen und Tutoren begleitet, in eine eigenständige forschend-entdeckende Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte in ihrem lokalen oder biografischen Umfeld eintreten. Durch die Themensetzung versucht der Wettbewerb zudem, gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Gegenwart aufzugreifen, aus denen heraus möglichst viele junge Menschen auf unterschiedlichem Niveau Fragen an die Vergangenheit entwickeln sollen, um sich in Gegenwart und Zukunft orientieren zu können und ihre Ergebnisse in einer von ihnen gewählten Form zu präsentieren. In Abgrenzung zu einer Begabtenförderung liegt der Schwerpunkt also auf einem Empowerment zur kritischen und reflektierten Teilhabe an der Konstruktion von Geschichte und damit auch zum Umgang mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen, denen die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler nicht nur in zunehmendem Maße in den digitalen Medien ausgesetzt sind, sondern auch in der von ihnen untersuchten Vergangenheit begegnen können.
Galt in der Vergangenheit vor allem die an den Standards des wissenschaftlichen Arbeitens in der Geschichtswissenschaft orientierte schriftliche Ausformulierung als maßgebliche Form des Wettbewerbsbeitrags, reagiert der Geschichtswettbewerb inzwischen auf die vielfältigen medialen Formate geschichtskultureller Repräsentationen in der Public History mit der Möglichkeit, sogenannte kreative Beiträge einzureichen – darunter Filme, Audiofeatures, Theaterstücke, Websites und Ausstellungen. In der aktuellen Wettbewerbsrunde 2022/23 waren das gemessen an allen Einreichungen immerhin 52%, davon 9% Audio, 11% Digital (z.B. Websites, Apps), 15% Film und 17% Sonstiges (Ausstellung, Tagebuch, Modell u.Ä.).
Beitragsformate und Beiträge nach Schulart im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2022/23 zum Thema „Mehr als ein Dach über dem Kopf. Wohnen hat Geschichte“, aus: spurensuchen H. 37/2023, S. 32.
Bei der Aufbereitung ihrer Ergebnisse unter den Bedingungen der jeweiligen medialen Eigenlogiken erwerben die Teilnehmenden Einblicke in die vielfältigen Entscheidungsprozesse während der Produktion von medialen Angeboten und können in ihrem Alltag den Angeboten Dritter dadurch kritischer begegnen: Welche Akteurinnen und Akteure haben welches Thema für welches Medium aufbereitet und erzählen welche Ausschnitte aus der Vergangenheit auf welche Weise, für wen und mit welcher Absicht?
Gleichzeitig müssen die Teilnehmenden dafür sensibilisiert werden, in ihren eigenen Beiträgen hinsichtlich dieser Fragen Transparenz herzustellen, denn die auf den ersten Zugriff weniger wissenschaftlich anmutenden Beiträge stellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Tutorinnen und Tutoren sowie Jurorinnen und Juroren im Vergleich zu schriftlichen Einreichungen vor zusätzliche Herausforderungen bei der Erstellung und Bewertung. Während in Texten die Recherche und Auswertung von Quellen und Literatur über die Belege in Fuß- oder Endnoten sowie im Quellen- und Literaturverzeichnis und mit dem ergänzenden Arbeitsbericht transparent gemacht werden, bleiben diese Aspekte bei den kreativen Beiträgenweitgehend unsichtbar, da hier die medialen Eigenlogiken Belege im Regelfall nicht vorsehen. Abhilfe könnte und müsste hier eine konsequente Verlagerung in den Arbeitsbericht schaffen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer benötigen daher für die Erstellung der kreativen Beiträge nicht nur (wie für die anderen Beitragsformate auch) historische Kompetenzen hinsichtlich der Wahrnehmung, Erschließung und Interpretation, der narrativen Umsetzung sowie der Beurteilung des betrachteten historischen Sachverhaltes. Sondern sie brauchen zudem eine ausgeprägte Medien- sowie geschichtskulturelle Kompetenz, die es ihnen erlauben, das ausgewählte mediale/digitale Format hinsichtlich seiner Eigenlogiken zu befragen und zu analysieren sowie die Potenziale und Herausforderungen für die Darstellung von Geschichte in ebendiesem Medium zu erkennen. Dass die technischen Fertigkeiten für Teilnehmende aller Schulstufen und -formen zumeist kein Problem darstellen, zeigen viele Beiträge aus den vergangenen Wettbewerbsrunden. Die Herausforderung liegt vielmehr in der Auswahl eines passenden medialen Formates – mit visuellen Quellen lässt sich nur bedingt ein Podcast gestalten und mit schriftlichen Quellen nur bedingt ein Film – und in der an geschichtswissenschaftlichen Standards und geschichtsdidaktischen Prinzipien orientierten Umsetzung. Entspricht der schriftliche Beitrag dem Grundsatz form follows function, muss dies im Rahmen des Wettbewerbs auch für die kreativen Darstellungsformen gelten; ein function follows form, bei der das mediale Format nur ein Selbstzweck ist, ist nicht zielführend.
Wie kann der Wettbewerb damit umgehen – und: Wie muss er damit umgehen? Die Körber-Stiftung bietet den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Zusatzmaterialien und Arbeitsblätter für kreative/digitale Darstellungsformen und die Methoden des forschend-entdeckenden Lernens. Möglicherweise ließe sich dies noch ergänzen um Hinweise zur konkreten medienkompetenten Recherche im digitalen Raum und zum kritischen Umgang mit den vielfältigen Darstellungsformen aus der (digitalen) Geschichtskultur, vielleicht in Form kurzer Filmfeatures mit Beispielen aus gelungenen Beiträgen. Die Kinder und Jugendlichen würden so an das Phänomen medialer Eigenlogiken herangeführt, in ihrer formalen und inhaltlichen Dekonstruktion geschult und damit zur eigenständigen reflektierten und kritischen Produktion – Stichworte: Handlungs- und Produktorientierung – befähigt. Die Notwendigkeit, die Wahl der Darstellungsform in Bezug auf die Quellenlage und auf geschichtskulturelle Teilhabe im Arbeitsbericht als Schlüssel für die Jurys zum Aufbau des Beitrages zu begründen, müsste noch deutlicher ins Bewusstsein der Teilnehmenden gerückt werden.
Dies alles sind wohlfeile Forderungen, die sich vom Schreibtisch aus leicht formulieren lassen – die konkrete Umsetzung aber liegt bei den Teilnehmenden und den Tutorinnen und Tutoren. Allerdings sollte auf diesen Aspekten ein Schwerpunkt bei der Weiterentwicklung des Wettbewerbs und auch des Geschichtsunterrichts liegen, gerade um angesichts des medialen Wandels mit allen positiv und negativ zu bewertenden Veränderungen kompetent mit medial vermittelter Geschichtskultur umgehen zu können, und zwar alsKonsumierende wie auch als Produzierende.
Digitalisierung konkret: Beispiel einer Wettbewerbsarbeit
Dass dies im Sinne des Wettbewerbs gelingen kann, soll am Beispiel der Website mehr-als-nur-ein-hallenbad.de exemplarisch aufgezeigt werden, die 2021 von dem damals 17-jährigen Alexander Lueg als Beitrag zur Geschichte des Stadtbades in Bochum erstellt worden ist.
Screenshot der Homepage mehr-als-nur-ein-hallenbad.de, Körber-Archiv GW 2021-1456.
Die Homepage zeigt, dass der Schüler die medialen Eigenlogiken einer Website kannte und seine Inhalte – Bild-Text-Kombinationen, Teasertexte, Websitegliederung, Einbindung audiovisueller Inhalte – in ästhetisch ansprechender Form umzusetzen wusste. Auch inhaltlich wusste der Beitrag zu überzeugen und konnte die Geschichte des Stadtbads in unterschiedlichen Facetten darstellen. Eine besondere Leistung lag zudem in der Einbindung eines Belegsystems durch Verweise auf Interviews, Quellen und Literatur. Gerade wenn sich der Wettbewerb nicht als Begabtenförderung oder als Instrument zur akademischen Nachwuchsgewinnung versteht, liegt hier das besondere Potenzial, die Teilnehmenden an historische Projektarbeit, wissenschaftliche Methoden, aber auch an die Herausforderung der medialen Aufbereitung heranzuführen und im Sinne einer historischen Medienkompetenz für die Perspektivität, Selektivität und Intentionalität geschichtskultureller Repräsentationen zu sensibilisieren.
KI oder die Zukunft des Wettbewerbs
Im Frühjahr 2023 sorgte ein Bild von Papst Franziskus, bekleidet mit einem dicken weißen Daunenmantel, in den Sozialen Medien für Aufmerksamkeit.
Screenshot von der Plattform X, wo das Bild u.a. geteilt wurde.
Auf den ersten Blick war es für die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer ersichtlich, dass es sich dabei um ein von einer KI generiertes Bild handelte, das aber trotzdem mit dem Authentizitätsanspruch hausieren ging, der gemeinhin an eine Fotografie herangetragen wird – auch wenn nicht zuletzt dank der Visual History inzwischen geklärt ist, dass Fotografien zwar an sich authentisch sind, das für die abgebildeten Inhalte aber nicht zwangsläufig gilt.
Das Papstbild kann stellvertretend für eine mögliche Zukunft stehen, in der nicht nur die Geschichtswissenschaft, die Public History und der Geschichtswettbewerb, sondern letztlich die gesamte Gesellschaft mit der drängenden Frage konfrontiert sein wird, was überhaupt noch als echt bezeichnet werden kann. Die Leistungsfähigkeit der gegenwärtig verfügbaren KI-Anwendungen – und ChatGPT sei hier nur stellvertretend für eine Vielzahl an Programmen genannt – lässt nur erahnen, wie sich die Produktion medialer Produkte weiter beschleunigen und bereits etablierte Formate kapitulieren lässt.
Der Begriff „fragile Fakten“ dürfte den Möglichkeiten der mit KI zu produzierenden Medien sehr wahrscheinlich nicht mehr im Geringsten gerecht werden – mit KI ist das „postfaktische Zeitalter“ endgültig erreicht. Zu den ausdifferenzierten digitalen Verbreitungswegen für jegliche denkbaren Inhalte, die Auflösung klarer Rollenzuweisungen von Produzierenden und Konsumierenden tritt nun in zunehmender Geschwindigkeit, Qualität und Quantität maschinell erzeugter Content, bei dem verstärkt Algorithmen als Creator tätig werden. Angesichts dieser Entwicklungen bedarf es Kompetenzen zur kritischen und reflektierten Einordnung der dargebotenen Fakten, die angesichts ihrer Fragilität immer wieder dahingehend befragt werden müssen, ob sie plausibel und triftig sind. In einer aus rasant wachsenden Datenmengen bestehenden digitalisierten Lebenswelt braucht es daher ein gesamtgesellschaftliches medien- und quellenkritisches Empowerment – eine Aufgabe, der sich auch der Geschichtswettbewerb zukünftig weiter annehmen sollte.
Literatur
Berg, Mia und Kuchler, Christian (Hrsg.): @ichbinsophiescholl. Darstellung und Diskussion von Geschichte in Social Media, Göttingen 2023.
Bunnenberg, Christian/Logge, Thorsten/Steffen, Nils: SocialMediaHistory. Geschichtemachen in sozialen Medien, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag Jg. 2 (2021), H. 29, S. 267–283.
Hiltmann, Torsten: Daten, Daten, Daten … Wie die Digitalisierung die historische Forschung verändert, in: VHD-Journal H. 9/2020, S. 41–45.
Thießen, Malte: Das Internet archivieren. Digitale Überlieferungen als Voraussetzung zeithistorischer Forschungen, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe H. 96/2022, S. 40–46.
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- 20 Mär 2024 - 09:17