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Man wird nicht als Homosexuelle_r geboren, man wird es?! Diskurse um Homosexualität_en im Deutschen Kaiserreich um 1900

Tanja Gäbelein ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin mit einem Schwerpunkt in queerer und feministischer Geschichte. Aktuell leitet sie das Projekt „FrauenOrte im Land Brandenburg“ und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin.

von Tanja Gäbelein

Die Entstehung der Kategorie „Homosexualität“ lässt sich in den sexual- und rechtswissenschaftlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts verorten. Selbstredend gab es auch zuvor schon Menschen, die gleichgeschlechtlich begehrt, geliebt und sexuelle Handlungen vollzogen haben. Bis in die Frühe Neuzeit galt die „Sodomiterey“ (hier verstanden im Sinne jeglicher sexueller Handlung, die nicht der Fortpflanzung dient) jedoch vorwiegend als sündige und daher verbotene Handlung, die wenig über die einzelne Person aussagte. Erst im 19. Jahrhundert wurden diese Handlungen ebenso wie die damit verbundenen Gefühle durch die neu entstehende Sexualwissenschaft auf einen „innewohnenden Drang“ zurückgeführt und daraus eine Identität abgeleitet. Der französische Philosoph Michel Foucault brachte diese Veränderung auf die Formel: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies“ (Foucault 1977: 58).

Vorwiegend männliche Sexualforscher und Rechtswissenschaftler beschäftigten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Frage, ob Homosexualität angeboren sei oder im Lauf des Lebens erworben werde (etwa durch Verführung oder negative heterosexuelle Erfahrungen) und ob sie ein „degeneratives Element“ darstelle. Von besonderer Wirkmächtigkeit war die Vorstellung, Homosexualität sei auf eine „geschlechtliche Inversion“ zurückzuführen – also auf Anteile des jeweils anderen Geschlechts im Körper. Homosexuelle Männer wurden vielfach als effeminierte Männer verstanden, homosexuelle Frauen als „männliche Frauen“. Um die Jahrhundertwende entstand überdies das Konzept der Homosexuellen als „Drittes Geschlecht“.

Bis 1890 blieb das Thema jedoch Gegenstand einer weitgehend männerzentrierten Debatte: Seit 1851 kriminalisierte der § 143 des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten explizit die „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts […] verübt wird“. Diese Formulierung wurde mit Gründung des Kaiserreichs 1871 in den § 175 RStGB übernommen und ist für den weiteren Verlauf der Geschichte von großer Bedeutung. Die Vorstellung, Frauen könnten eine eigenständige, von Mann und Penetration unabhängige Sexualität haben, war mit den „bürgerlichen Geschlechtscharakteren“ (Karin Hausen) nicht vereinbar. Erst in den Jahrzehnten um 1900 vollzog sich eine vergeschlechtlichte (und klassenspezifische) Ausdifferenzierung der Diskurse um Homosexualität: die Konstruktion verschiedener „Homosexualität_en“.

Männliche Homosexualität_en um 1900

Einerseits überschritten die Debatten um männliche Homosexualität_en den sexual- und rechtswissenschaftlichen Diskursraum und wurden nun verstärkt politisch verhandelt. So gründete sich 1897 in der Charlottenburger Wohnung des Sexualforschers Magnus Hirschfeld mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) die weltweit erste Organisation für die Rechte Homosexueller. Bis in die Weimarer Republik hinein setzte sich das Komitee auf Basis sexualwissenschaftlicher Forschungsergebnisse für die Akzeptanz und Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität ein. Hirschfelds Argumentation war dabei, dass es sich bei der männlichen Homosexualität um eine angeborene Anomalie handelte, die moralisch nicht zu verurteilen sei. Als konstitutives Anderes entwarf Hirschfeld beispielsweise in seiner 1904 erschienenen Studie „Berlins Drittes Geschlecht“ die Figur des erpresserischen männlichen Sexarbeiters, in dessen Fänge der zu Unrecht verfolgte bürgerliche oder aristokratische homosexuelle Mann durch den § 175 getrieben werde.

Titelblatt der Publikation „Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen“, Leipzig 1901, Magnus Hirschfeld. Quelle: Wikimedia Commons, URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0a/Aufklaerungsschrift_magnus_hirschfeld.jpg

Eine andere Perspektive auf männliche Homosexualität vertrat die 1903 durch den Verleger Adolf Brand gegründete „Gemeinschaft der Eigenen“. In einer zunehmend maskulinistischen und antisemitischen Argumentation zeichnete Brand den Homosexuellen als besonders virilen Mann, dessen Männerbünde dem Wohle der Nation dienten.

Allgemeine Bekanntheit erreichte die Kategorie „Homosexualität“ schließlich durch zwei große Skandale um homosexuelle Angehörige der preußischen Elite, in denen das öffentliche Outing als politisches Druckmittel genutzt wurde: 1902 veröffentlichte der Sozialdemokrat Kurt Eisner im Vorwärts den Artikel „Krupp auf Capri“, der über sexuelle Kontakte des Großindustriellen Alfred Krupp zu jungen Männern berichtete. Schon einige Jahre hatte die SPD versucht, Krupp als politischen Gegner zu diskreditieren. Dessen Selbstmord in der folgenden Woche führte zu einer Welle öffentlichen Mitleids mit diesem aufgrund seiner Homosexualität als schwach empfundenen Mann.

Demgegenüber führte die „Eulenburg-Affäre“ zu einer Welle des öffentlichen Hasses auf Homosexuelle. 1906 warf der Journalist Maximilian Harden einem engen Berater des Kaisers, Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld, eine auf dessen Homosexualität zurückzuführende Weiblichkeit vor, die das Kaiserreich außenpolitisch schwächen würde. Infolge einer langen Reihe skandalträchtiger Gerichtsprozesse musste sich Eulenburg schließlich aus dem Staatsdienst zurückziehen. Die männliche Homosexualität in staatstragenden Kreisen wurde somit aufgrund des unterstellten Kausalzusammenhangs mit Weiblichkeit zur Staatsgefahr erhoben. Bemerkenswert ist hierbei, dass sowohl die SPD als auch Harden zugleich die Forderung nach einer Abschaffung des § 175 unterstützten.

Weibliche Homosexualität_en um 1900

Demgegenüber (er)fand die Sexualwissenschaft die Kategorie der „weiblichen Homosexualität“ erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Begünstigt wurde dies durch die veränderten Lebensumstände insbesondere bürgerlicher Frauen. Diese blieben um die Jahrhundertwende in wachsender Zahl unverheiratet. Einige organisierten sich in der bürgerlichen Frauenbewegung und forderten den Zugang zu Bildung und Lohnarbeit. Innerhalb der Frauenbewegung etablierte sich das Zusammenleben von Frauen als Alternativmodell zur bürgerlichen Ehe. Aufgrund der anhaltenden Vorstellung einer grundlegenden weiblichen Asexualität wurden diese Verbindungen gemeinhin nicht als sexuell verstanden und galten daher als respektabel. Mit dem Aufkommen der Kategorie der weiblichen Homosexualität veränderte sich dies, denn die Homosexualität wurde insbesondere bei Frauen gesucht, die in ihrem Verhalten und Auftreten von der erwarteten weiblichen Geschlechterrolle abwichen. Im Besonderen traf dies Sexarbeiterinnen und bürgerliche Frauenrechtlerinnen.

Erstere wurden in der Folge vermehrt für sexualwissenschaftliche Studien zur weiblichen Homosexualität befragt und untersucht. Aufgrund der häufigen Kasernierung von Sexarbeiterinnen konnten sich diese den Forschenden kaum entziehen. Letztere sahen in den aufkommenden Homosexualitäts-Vorwürfen an die bürgerliche Frauenbewegung vielfach eine antifeministische Strategie, der sie sich verweigerten, indem sie sich mehrheitlich nicht öffentlich zum Thema äußerten. Aufgrund der Nicht-Kriminalisierung im § 175 hatte die Kategorie Homosexualität für den Großteil der bürgerlichen Frauenpaare keinen befreienden oder identitätsstiftenden Wert wie etwa für Männer der Homosexuellenbewegung. Vielmehr stellte die unerbetene Sichtbarkeit ihr Lebensmodell in Frage.

Studentinnen in ihrer Freizeit, Inszenierung mit Sophia Goudstikker. © Hofatelier Elvira, München (Fotoatelier) / AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung / Gemeinfrei

Vereinzelt finden sich positive Bezugnahmen, wie etwa in dem Roman „Sind es Frauen? Roman über das dritte Geschlecht“ von Minna Wittstein-Adelt alias Aimée Duc aus dem Jahr 1903, in den Schriften der Frauenrechtlerin Johanna Elberskirchen und in einer Rede der Frauenrechtlerin Theo Anna Sprüngli vor dem WhK im Jahr 1904. Es gab also durchaus weibliche Beiträge zur Homosexualitäts-Debatte. Jedoch beteiligten sie sich weniger an der Erstellung sexualwissenschaftlicher Diagnosen, sondern nutzten die neuen Erkenntnisse argumentativ, um rechtliche Verbesserungen für homo- wie auch heterosexuelle Frauen zu begründen.

Ringen um Deutungshoheit: die Debatte um die Neufassung des § 175–250

Diese vielfältigen und bis dato weitgehend getrennt verhandelten Entwicklungen zu männlichen und weiblichen Homosexualität_en aus der Aristokratie, dem Bürgertum und der Arbeiter_innenklasse wurden ab 1909 in ein historisch neues Näheverhältnis gerückt. Im § 250 des „Vorentwurfes zu einem Deutschen Strafgesetzbuch“ schlugen Juristen im Staatsdienst die Ausweitung und Binnendifferenzierung des § 175 vor:Fortan sollte auch die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Frauen unter Strafe stehen. Überdies sollte die homosexuelle Sexarbeit als eigenständiges Delikt eingeführt werden, welches schwerer bestraft werden sollte als die nicht-gewerbliche homosexuelle Handlung.

Der „Vorentwurf“ war Teil einer groß angelegten Strafrechtsreform und sollte zur öffentlichen Debatte anregen. Zwischen 1909 und 1913 wurde er daher in Fachzeitschriften der Sexual- und Rechtswissenschaft, der Frauen- und der Homosexuellenbewegung sowie der Sozialdemokratie diskutiert. Im Vorentwurf lassen sich drei Verteidigungslinien erkennen, an denen die Verfasser um die Deutungshoheit der vermeintlich natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Staates ringen.

Erstens sollte die Heterosexualität als naturgegebene Norm gegen Vertreter_innen der Sexualwissenschaft und der Homosexuellenbewegung verteidigt werden, die in der Homosexualität lediglich eine bemitleidenswerte, aber natürliche Anomalie sahen. So heißt es in der Begründung des Vorentwurfs: „Die in der neusten Zeit mehrfach betonte Auffassung, als handele es sich bei der gleichgeschlechtlichen Unzucht um einen unwiderstehlichen krankhaften Naturtrieb, […] lehnt der Entwurf als unbewiesen und mit den Erfahrungen des praktischen Lebens im Widerspruch stehend ab“ (Begründung des VE 1909: 690).

Zweitens galt es aus Sicht der Verfasser des Vorentwurfs, die Wehrhaftigkeit und Männlichkeit des deutschen Staates zu verteidigen: „Die widernatürliche Unzucht, insbesondere zwischen Männern, ist eine Gefahr für den Staat, da sie geeignet ist, die Männer in ihrem Charakter und in ihrer bürgerlichen Existenz auf das Schwerste zu schädigen, das gesunde Familienleben zu zerrütten und die männliche Jugend zu verderben“ (ebd.). Hier zeigt sich die Wirkmächtigkeit des in der Eulenburg-Affäre entstandenen Bildes der männlichen Homosexualität als Staatsgefahr. Männlichkeit wurde dabei mit Stärke, Weiblichkeit mit Schwäche verbunden. Homosexuelle Männer bedrohten in dieser Konzeption den als männlich und wehrhaft imaginierten preußischen Staat, da sie als Männer mit weiblichen, ergo „schwachen“ Anteilen galten.

Des Weiteren fällt auf, dass die Verfasser des Vorentwurfs zwar über die Existenz der weiblichen Homosexualität informiert waren und ihre Kriminalisierung durchaus ins Auge fassten. Zugleich aber verbanden sie diese lediglich mit einer „Gefahr für das Familienleben und die Jugend“. Eine staatsgefährdende Relevanz wollten sie den homosexuellen Frauen offenbar nicht zuschreiben, da dies den Frauen – gerade in Zeiten einer starken Frauenbewegung – Macht über den Staat zuerkannt hätte.

Drittens sollte mit dem Vorentwurf die Respektabilität von Angehörigen der bürgerlichen und aristokratischen Kreise gegenüber Sexarbeiter_innen geschützt werden. So habe sich „eine männliche Prostitution herausgebildet, die […] damit fortgesetzte Erpressungen verbindet“ (Begründung des VE 1909: 691). Um solche zu unterbinden, sei die männlich-homosexuelle Sexarbeit in besonderer Weise zu bestrafen.

Gruppenbild Atelier Elvira. © Atelier Elvira / DDF-Archiv: externe Quellen / Gemeinfrei

Auch die Respektabilität der bürgerlichen Frauen war von zentraler Bedeutung in der Debatte. So war ein wichtiges Argument von Frauenrechtlerinnen, Homosexuellen-Aktivisten und Sozialdemokrat_innen gegen die Kriminalisierung der weiblichen Homosexualität, dass unklar war, welche Handlungen genau zwischen Frauen als sexuell zu gelten hätten.

Der Jurist Wolfgang Mittermaier erklärte zur weiblichen Homosexualität, dass „man sich nicht vorstellen kann, wie sie vorgenommen werde, obwohl Psychiater uns lehren, daß sie sehr häufig sei und die verschiedensten Formen kenne“ (Mittermaier 1906: 153). Neben der Zurückweisung der Vorstellung, dass Frauen eine relevante Rolle im Staat spielten, war es daher auch das bürgerliche Unbehagen an der weiblichen Sexualität, das der Kriminalisierung entgegenstand.

Im Kommissionsentwurf aus dem Jahr 1913, der die Ergebnisse der Debatte zusammenfassen sollte, verwarfen die Juristen daher die Kriminalisierung sexueller Handlungen zwischen Frauen. Weiterhin bestraft werden sollte die „einfache“ homosexuelle Handlung zwischen Männern. Neu eingeführt werden sollte das besonders schwer zu bestrafende Delikt der männlichen Sexarbeit.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs im darauffolgenden Jahr verhinderte jedoch die Inkraftsetzung dieser Beschlüsse. In der Weimarer Republik blieb der § 175 trotz weiterer Reformbemühungen unverändert bestehen, vom nationalsozialistischen Regime wurde er dann 1935 auf Basis eigener Rechtsgutachten massiv verschärft. Dennoch darf die Bedeutung der untersuchten Debatte nicht unterschätzt werden. So findet sich hier erstmals eine größere Zahl an Stellungnahmen von Frauenrechtlerinnen zur Homosexualität. Aus dem Umfeld des WhK gründeten sich darüber hinaus 1918 zwei Institutionen, die in der Weimarer Republik das Bild der Homosexualität_en maßgeblich mitprägen sollten: Der „Bund für Menschenrecht“ als weltweit größte Massenorganisationen homosexueller und trans Personen, der zeitweise 48.000 Mitglieder zählte, und das Berliner „Institut für Sexualwissenschaft“, welches unter Hirschfelds Leitung die entstigmatisierende Forschung zur sexuellen und geschlechtlichen Varianz fortführte und professionalisierte. Auch die blühende lesbische und schwule Subkultur der 1920er Jahre wäre ohne ihre Vorläufer im Kaiserreich so nicht denkbar gewesen.

Zudem zeigt dieser Blick in die Geschichte: Die homosexuelle Erfahrung gibt es nicht und gab es nie. Wer zu welchem Zeitpunkt als homosexuell bezeichnet wurde oder sich selbst so bezeichnete, welche Bedeutung und welche Auswirkungen dies für das eigene Leben hatte, war stets auch abhängig von der jeweiligen geschlechtlichen und klassenspezifischen Positionierung.

 

Literatur

Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977.

Gäbelein, Tanja: Homosexualität_en im Deutschen Kaiserreich um 1900, Hamburg 2024.

Heinrich, Elisa: Intim und respektabel. Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900, Göttingen 2022.

 

Quellen

Mittermaier, Wolfgang: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Besonderer Teil. Band 4: Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit, Berlin 1906.

Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen-Kommission. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizamts, Berlin 1909.

Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. Besonderer Teil. Bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen-Kommission. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizamts, Berlin 1909.

 

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