Gesprächspartner:innen:  Judith Märksch, Leiterin des Projektbüros Jugend erinnert bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie ist dort für die organisatorische Umsetzung des Bundesprogramms sowie die inhaltliche Beratung, Begleitung und Unterstützung von mehr als vierzig Projekten der nationalen Programmschiene SED-Unrecht zuständig. Florian Kemmelmeier, Projektmitarbeiter im Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors. Er ist für die Vernetzung von rund dreißig Jugend erinnert-Projekten im Rahmen der Programmschiene Auseinandersetzung mit der NS-Zeit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) zuständig.

Das Bundesprogramm Jugend erinnert gliedert sich in drei Programmschienen – der internationale Programmteil wird von der Stiftung EVZ betreut. In Deutschland befassen sich zwei Programmschienen mit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem SED-Unrecht. Auch hier stehen zeitgemäße wie innovative Bildungsformate für und mit einer jungen Zielgruppe im Mittelpunkt.

Wir haben Judith Märksch und Florian Kemmelmeier als Vertreter:innen der nationalen Programmschienen zum Gespräch über Möglichkeiten einer partizipativen historischen Bildungsarbeit getroffen.

Katharina Trittel (LaG): Liebe Frau Märksch, lieber Herr Kemmelmeier: Was macht für Sie ein gutes Projekt der historisch-politischen Bildung für junge Menschen aus?

Florian Kemmelmeier: Mir erscheinen drei Punkte zentral: Es muss die Teilnehmenden interessieren und es braucht eine gewisse Relevanz. Außerdem sollte es ausreichend niedrigschwellig sein, also nicht zu viel voraussetzen und dadurch Barrieren schaffen. Und drittens zeigt sich immer wieder, wie wichtig und lohnend es ist, die Teilnehmenden einzubeziehen, durch interaktive Methoden und Partizipation. Dass sie aktiv werden und wir diese Aktivität sehr umfassend denken: Etwa bei künstlerischen Projekten, wo vorher nicht klar ist, was am Ende herauskommt. Oder bei Rundgängen über ein Gedenkstättengelände oder durch den Stadtraum, wo die Teilnehmenden selbst entscheiden, wie gehen sie damit um.

Judith Märksch: Was ich noch ganz wichtig finde: Sich nicht nur über die Zielgruppe zu unterhalten, sondern mit ihr. Dass Bildungsarbeit immer auf Augenhöhe stattfinden sollte und wir von dem Duktus wegkommen, dass wir die jungen Menschen erziehen wollen oder dass wir etwas vermitteln, übermitteln wollen. Sondern, dass wir anfangen, voneinander zu lernen und unterschiedliche Perspektiven einfließen zu lassen und davon auch profitieren. Wichtig ist ebenfalls eine längere Förderdauer, um Strukturen aufzubauen und Nachhaltigkeit zu schaffen – ein großer Vorteil des Bundesprogramms Jugend erinnert.

LaG: Sie haben den Punkt vom gegenseitigen Lernen angesprochen. Unser Magazin heißt „Lernen aus der Geschichte“– Vergangenheit und Gegenwart stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Welche Rolle spielen Gegenwarts- und Lebensweltbezüge in der historisch-politischen Bildung?

Kemmelmeier: Historisch-politisches Lernen ist genau an dieser Schnittstelle aufgehängt. Man könnte die Frage aber – wenn ich etwas querschlagen darf – auch umgekehrt formulieren: Wie viel Vergangenheitsbezug brauchen wir überhaupt in der politischen Bildung? Ich bin vor einiger Zeit auf ein Zitat von Gottfried Kößler gestoßen: „Der Gegenwartsbezug ist nicht das Ziel pädagogischen Handelns, sondern eine seiner Bedingungen.“ Das fand ich sehr richtig. Wir beschäftigen uns ja deshalb mit Geschichte, weil wir eine Relevanz in der Gegenwart sehen. Weil die Themen, über die wir sprechen, keine bloß historischen Themen sind, wie etwa Diskriminierung und Rassismus. Gegenwarts- und Lebensweltbezug wird dann relevant, wenn Vermittlung nicht nur Vermittlung in eine Richtung hin zu den Teilnehmenden meint, sondern es um – wie Judith Märksch eben schon angesprochen hat – Vermittlung auf Augenhöhe geht, und damit Vermittlung in beide Richtungen. Da sehe ich Geschichte als einen wertvollen Reflexionsraum, wo das Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart immer wieder neu bestimmt werden muss.

Märksch: Ich habe das Gefühl, dass der Begriff Lebensweltbezug mittlerweile sehr inflationär genutzt wird. Ich glaube, junge Menschen kommen schnell dahinter, wann etwas authentisch ist und wann vielleicht eher konstruiert. Es ist sehr wichtig, abzuwägen, wann können wir dieses Tool nutzen, wann ist es sinnvoll und wann nicht.

Kemmelmeier: Bei einem unserer Treffen mit Vorstellungen von zwei wirklich gelungenen Projekten mit ausgeprägtem Gegenwartsbezug habe ich danach gefragt, was bei den jugendlichen Teilnehmenden am stärksten in Erinnerung geblieben sei. Interessanterweise waren das in beiden Fällen überhaupt nicht die Gegenwartsbezüge, sondern die historische Ebene. Der Eindruck des Ortes, oder auch der „Aha-Effekt“ für die Teilnehmenden: „Bei uns in der Nähe war auch ein Konzentrationslager!“ Das fand ich interessant und etwas überraschend. Wir dürfen das Potenzial der Orte nicht vergessen. Und außerdem bieten Geschichte und historische Bildung eben die Chance, auf irritierende Momente zu stoßen, die dann umso mehr in Erinnerung bleiben.

LaG: Ist es wichtig, Betroffenheit bei jungen Menschen auszulösen?

Märksch: Ich glaube, wir tun uns in Deutschland ein bisschen schwer mit Betroffenheit oder Emotionen. Wobei ich sagen würde, dass Emotionen sehr wichtig sind, weil sie eine Möglichkeit bieten, Zugang zu bekommen zu einem Thema. „Betroffenheit“ ist hier allerdings nicht das richtige Wort.

Kemmelmeier: Dem würde ich zustimmen. Betroffenheit ist als pädagogisches Ziel nicht das Richtige. Aber Betroffenheit zu erlauben und eine Nähe auch zum historischen Geschehen und zu den Erfahrungen der Menschen zu ermöglichen, die da im Mittelpunkt stehen, das ist wichtig.

LaG: Ihre Projekte beziehen sich auf unterschiedliche Zeitabschnitte: auf den Nationalsozialismus und auf die SED-Diktatur mit ihren Folgen. Was verbindet diese beiden Projektbereiche, was unterscheidet sie und was können sie voneinander lernen?

Märksch: Was sie verbindet, ist die Möglichkeit, Kontinuitäten in Bezug auf die Funktionsweise und die Strukturen diktatorischer Systeme und all der Bereiche, die das betrifft, aufzuzeigen: den Alltag in der Diktatur, das Machtgefüge, die Parteienlandschaft. All das sind Phänomene, die systemübergreifend zusammengedacht werden können. Weil wir aber in der Betrachtung von Geschichte dazu tendieren, uns an Zahlen festzuhalten und zu sagen: „von ‘33 bis ‘45, von ‘45 bis ‘89“, verlieren wir aus den Augen, dass Mentalitäten weiter vorherrschen, dass eine Kultur weitergetragen wird.

LaG: Wäre eine Verflechtung beider Bereiche sinnvoll, so dass sie voneinander lernen könnten?

Märksch: Ich denke, dass sie schon stattfindet, aber noch viel zu sehr durch Begrifflichkeiten voneinander abgegrenzt wird. Wir haben Jugend erinnert als Bundesprogramm, aber wir haben unterschiedliche Programmschienen, die auch erstmal voneinander getrennt umgesetzt werden. Ich finde es schön, dass es auf Initiative von Florian Kemmelmeier dazu kam, die Separierung etwas aufzubrechen. So können wir auch gemeinsam darüber nachdenken, was beide Phasen in der deutsch-deutschen Geschichte verbindet. Und auch darüber hinausschauen: Was hat beispielsweise die Transformationszeit mit den Menschen gemacht? Hier lassen sich sicherlich viele Grenze überwinden.

LaG: Herr Kemmelmeier: Was war Ihre Intention, als Sie das angestoßen haben?

Kemmelmeier: Am Anfang stand die Überlegung, wie wertvoll es ist, voneinander zu erfahren, voneinander zu lernen. Ich würde sagen, dass natürlich der größere erinnerungspolitische Hintergrund dafür verantwortlich ist, dass das Verhältnis zwischen NS-Erinnerung und DDR-Erinnerung auch ganz stark in einem Konkurrenzverhältnis zu stehen scheint und nicht in einem Kooperationsverhältnis. Das Gespenst der Totalitarismustheorie ist immer ein bisschen im Hintergrund. Also die Befürchtung, dass die Unterschiede der jeweiligen Bereiche zu wenig wahrgenommen werden und in einer „Einheitssauce“ verschwimmen, wo sich das negative Erinnern einfach gleichermaßen auf irgendetwas bezieht, was halt schlimm war.

LaG: Unterscheiden sich die Methoden und die Formate in den beiden Bereichen?

Märksch: Nein, ich glaube nicht. Das ist auch der Zeit geschuldet. Podcast ist eine Sache, die oft genutzt wird. Es werden Instagram-Kanäle entwickelt. Es werden Erklärvideos konzipiert und umgesetzt. Aber auch analoge Formate.

Kemmelmeier: Also ich sehe methodisch auch überhaupt keine Spezifik. Da gäbe es keine großen Hindernisse für gemeinsame Projekte.

Märksch: Ein Punkt, der sich allerdings in Zukunft ändern wird, ist die Arbeit mit Zeitzeug:innen. Da könnte ich mir vorstellen, dass es bei euch unterschiedliche Ansätze gibt und auch geben muss. Einfach aufgrund der Zeit, die gegen die Arbeit mit Zeitzeug:innen in Präsenz arbeitet, wohingegen wir noch die Möglichkeit haben, mit den Menschen zusammenzuarbeiten. Aber für uns ist spannend zu sehen, wie löst ihr dieses Problem? Auch hier kann es nur von Vorteil sein, wenn man im Austausch ist und voneinander lernt.

LaG: Inwiefern können wir in Deutschland von europäischen Partner:innen lernen, wenn wir davon ausgehen, dass wir eingebunden sind in eine gesamteuropäische Erinnerungslandschaft?

Kemmelmeier: Wenn wir über Multiperspektivität sprechen, wenn wir über Geschichte nicht nur als etwas sprechen, was gelehrt werden soll, sondern als etwas, mit dem man sich auseinandersetzen kann, dann kommen vielfältige Perspektiven zum Tragen. Wir haben es seit den 1980er Jahren bereits mit einer transnationalen Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen zu tun, mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen. Unser Hintergrund, vor dem wir uns mit Geschichte beschäftigen, lässt sich ohne diesen transnationalen Zusammenhang nicht adäquat verstehen. Der Wert besteht darin, dialogische Formate zu realisieren, wo auch die Unterschiede zum Tragen kommen, wo auch Erinnerungskonflikte thematisiert werden können.

Märksch: Es ist im Hinblick auf die aktuelle Weltsituation wichtig, den Austausch innerhalb Europas zu fördern und die Perspektiven der Anderen zu kennen. Dass wir uns über Parallelen einigen können und uns Unterschiede bewusst sind. Darin liegt eine große Dringlichkeit. Ich habe neulich bei einem Besuch in Poznań beispielsweise die polnische Sicht auf die Transformationszeit kennengelernt und war überrascht, wie viele Dinge ähnlich betrachtet werden wie bei uns. Wo aber auch große Unterschiede waren. Für mich war es ein schöner Moment, die Perspektive zu öffnen. Und nicht immer „den Westen“ als Referenzrahmen zu haben, weil das bei mir, in Bezug auf meine ostdeutsche Herkunft, oftmals zu einem eher defizitären Denken geführt hat. Und ich fand es schön, dass dieser Austausch es mir ermöglicht hat, meine Perspektive ein bisschen zu korrigieren und andere Erklärungsmuster zu finden.

LaG: Was bedeutet für Sie eine wertebasierte Bildungsarbeit und Erinnerungskultur?

Märksch: Ich finde die Frage tricky und musste bei „Werten“ sofort an die Fußball-WM in Katar denken. Ja, Menschenrechte sollten nicht in Frage gestellt werden, dennoch kommt es immer wieder dazu. An dieser Stelle sollten Erinnerungsorte nicht allein Orte sein, die sagen: „Wir vermitteln euch die Unverhandelbarkeit von Menschenrechten“, sondern vielmehr Orte, an denen ausgehandelt und darüber diskutiert wird, wie und in welcher Form ich mich zu ihnen positioniere, vor allem in Konfliktsituationen wie etwa in Katar.

Kemmelmeier: Natürlich ist es Aufgabe historisch-politischer Bildung in einem Gemeinwesen wie dem unseren, Menschen zur Reflexion und zur Partizipation anzuregen. Beides hängt zusammen. Wenn man fragt, welche Werte sind uns wichtig, dann kann man natürlich immer schnell sagen: Menschenrechte, Grundgesetz und so weiter. Ich möchte aber versuchen, noch ein bisschen stärker zu bestimmen, was das in der pädagogischen Arbeit heißt, weil man ansonsten leicht auf der Ebene der salbungsvollen Worte bleibt. Gedenkstätten spielen eine Rolle als „Speichergedächtnis“ oder als „Stabilisatoren der Erinnerung“, um Begriffe von Aleida Assmann zu verwenden. Gesellschaftlich sind sie also auch Instanzen, wenn es um Verzerrung von Geschichte oder ihre Instrumentalisierung geht. Doch diese wichtige Korrekturfunktion reicht nicht aus. Sich immer auf der richtigen Seite gegen „das Böse“ zu wähnen, Erinnerungskultur als Wert vor sich herzutragen, das würde für mich zu kurz greifen. Man kann mit einer Infragestellung der Erinnerungskultur auch produktiv umgehen, sie als Chance sehen. In meinen Augen ist es auch ein Wert, zu versuchen, den Dialog zu führen, wo immer es nur geht. Mein Plädoyer wäre, so viel wie möglich andere Stimmen miteinzubeziehen, ohne gleichzeitig darauf zu verzichten, die Frage nach den Werten und nach der Haltung in der Gegenwart auch ganz konkret einzufordern.

LaG: Ich bedanke mich herzlich für das lebendige und anregende Gespräch!

 

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