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Detlef Garbe (Hrsg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik

Detlef Garbe (Hrsg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik. Bornheim-Merten: Lamuv Verlag, 1983, 230 Seiten, antiquarisch erhältlich.

Von Thomas Hirschlein

Im Jahr 2022 gehört die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den deutschen Verbrechen zum demokratischen Grundverständnis der Bundesrepublik. Dass sich KZ-Gedenkstätten mittlerweile zu „staatstragenden Lernorten“ entwickelt haben, ist hierfür ein eindringlicher Beleg. Diese Entwicklung war lange Zeit nicht absehbar. Die ersten Initiativen zur Gründung von KZ-Gedenkstätten gingen von ehemaligen Häftlingen aus, die vielerorts auf Widerstand aus der lokalen Bevölkerung trafen. Auch in den 1970er- und 1980er-Jahren stieß man vorwiegend auf Schweigen und Verdrängen, wenn man an historischen NS-Tatorten nach deren Geschichte in den Jahren von 1933 bis 1945 fragte. Etwa zur gleichen Zeit begannen Initiativen aus der Zivilgesellschaft unter den Mottos „Geschichte von unten“ und „Grabe dort, wo du stehst“, die eigene Lokalgeschichte aufzuarbeiten.

Ein Zeugnis aus dieser Zeit ist der im Jahr 1983 erschienene Sammelband Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik. Auf knapp 230 Seiten berichten Mitarbeiter*innen aus Gedenkstätteninitiativen in dieser „Chronik des Schweigens“ über die Nachgeschichte der Konzentrationslager Neuengamme, im Emsland, Oberer Kuhberg in Ulm, Moringen, Sachsenhausen, Dachau und Niederhagen/Wewelsburg und dokumentierten „die vielerorts beginnende Aufklärung“ (S. 24). Detlef Garbe, damals Mitarbeiter bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Mitglied in der Initiative Dokumentationsstätte Neuengamme, hat den Band im Lamuv Verlag herausgeben. Sechs Jahre nach der Publikation im Jahr 1989 übernahm Garbe die Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die er bis zum Jahr 2019 innehatte. Seit dem Jahr 2020 ist er Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen.

In der Einleitung erläutert Garbe den Anlass und die Stoßrichtung des Sammelbandes. 50 Jahre nach der Errichtung des ersten großen Konzentrationslagers in Dachau im März 1933 werfen die Beiträge einen kritischen Blick auf die Nutzung der ehemaligen Lagergelände nach 1945 – die „organisierte Vergesslichkeit“ (S. 25), wie Garbe schreibt. Zugleich zeichnet er ein Bild von der erinnerungskulturellen Konstellation und den Debatten Anfang der 1980er-Jahre. Seine Diagnosen sind nach wie vor relevant. Oder anders gesagt: Manche Herausforderungen und Probleme haben sich in den vergangenen 40 Jahren wenig geändert. „Die Erfahrungen im Bildungsbereich, wo als Reaktion auf den zunehmenden Neonazismus, die in Umfragen deutlich gewordene hohe Affinität von Einstellungen breiter Bevölkerungskreise mit einem rechtsextremistischen Weltbild und die erschütterndere Bestandsaufnahme des Nicht- beziehungsweise Falsch-Wissens von Schülern über das ‚Dritte Reich‘ mehr Unterrichtsanstrengungen und eine bessere Geschichtslehrerausbildung gefordert wurden, zeigen, daß es mit Information und kognitiver Aufklärung alleinund mit dem ‚Einpauken‘ von Daten und Fakten schon gar nicht getan ist.“ (S. 29) Demgegenüber stellt Garbe lebendige geschichtliche Erfahrung und entdeckendes Lernen in Form von lokalgeschichtlicher Spurensicherung.

Um das Suchen von Spuren geht es auch in seinem Beitrag zur Nachgeschichte des KZ Neuengamme, für Garbe ein „Musterbeispiel für Vergessen und Verdrängen“ (S. 37). Ausführlich schildert er darin seinen ersten Besuch auf dem ehemaligen Lagergelände im Spätsommer 1978 und seine Verwunderung, als er an eben jener Stelle die meterhohen Mauern, Scheinwerfer und Wachtürme der Jugendstrafanstalt Vierlande entdeckt. Zwei der Gefängnisbauten dienten bereits dem Konzentrationslager als Häftlingsunterkünfte, wie er später erfährt. 

Nach einem Überblick über die Geschichte des KZ von 1938 bis 1945 und der frühen Nachnutzung des Geländes widmet sich Garbe den vielfältigen, in den 1970er-Jahren einsetzenden Initiativen, die im nahe gelegenen Hamburg die Aufmerksamkeit auf die NS-Vergangenheit lenkten. Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) brachten Bücher und einen Film über den Widerstandskampf im Nationalsozialismus in die Schulen und organisierten Gespräche mit Zeitzeug*innen. Erste alternative Stadt- und Hafenrundfahrten wurden angeboten. Schließlich begann selbst die Hamburger Kulturbehörde, Gedenkzeichen im Stadtraum anzubringen. Zur gleichen Zeit gab es Fortschritte in Neuengamme. Im Jahr 1981 eröffnete das neue Dokumentenhaus, es folgte die Gründung eines Förderkreises für die KZ-Gedenkstätte und der Aufbau eines pädagogischen Betreuungsdienstes für die steigende Anzahl an Besucher*innen.

„Totgeschwiegen (S. 99) wurde die KZ-Vergangenheit auch in Moringen, wie Wolf-Dieter Haardt in seinem Beitrag berichtet. Von einem Konzentrationslager erfährt der neue Pastor in der niedersächsischen Kleinstadt beiläufig in einem Gespräch im Sommer 1973. Er will mehr darüber wissen und macht sich auf die Suche. Der Friedhofsverwalter der Gemeinde zeigt ihm daraufhin die Stellen, an denen mehr als 50 Jugendliche begraben liegen, die im „Jugendschutzlager“ gestorben sind. In Moringen diente ein ehemaliges Waisen- und Arbeitshaus vom Sommer 1940 bis zur Befreiung im April 1945 als Jugendkonzentrationslager. In dem Gebäude waren im Jahr 1933 bereits für einige Monate Männer und zwischen Sommer 1933 und Frühjahr 1938 Frauen inhaftiert. 

Haardt erkundigt sich auch bei Gemeindemitgliedern nach dem KZ: „Wenn ich bei meinen Hausbesuchen davon anfange und nach dem KZ frage, oft die gleiche Reaktion: man spricht nicht (gern) darüber. Trotzdem bekomme ich nach und nach einiges heraus: Etliche der damals als ‚Jugendschutzlager‘ genutzten Gebäude stehen noch. Heute ist dort das Niedersächsische Landeskrankenhaus. Eine geschlossene Anstalt …“ (98) Diese Recherchen sind nur der Anfang. Der im Beitrag skizzierte Weg führt über Nachforschungen in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz, den Austausch mit Historiker*innen, eine kontroverse Debatte innerhalb der Gemeinde bis zur Errichtung eines Gedenksteins auf dem Friedhof für die dort begrabenen Jugendlichen im Jahr 1980.

Die zwei Geschichten aus Neuengamme und Moringen verdeutlichen exemplarisch, wie vielerorts ehemalige Konzentrationslager oder Teile davon nach 1945 weitergenutzt und ihre Funktionen in der NS-Zeit verschwiegen und vergessen wurden. Zur Geschichte dieser Orte gehört auch, dass heute Gedenkstätten über die deutschen Verbrechen informieren und an die Menschen erinnern, die in den Konzentrationslagern gelitten haben und getötet wurden. An den Anfängen dieses Erinnerns standen die Forderungen und Initiativen der überlebenden Häftlinge und das Engagement von Mitarbeiter*innen aus Gedenkstätteninitiativen, die im Sammelband Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik ihre persönlichen Erfahrungen erzählen.

 

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