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1. Einleitung: Verschwörungsdenken in Vergangenheit und Gegenwart

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Von Marcus Funck

Diese Online-Publikation steht am vorläufigen Ende eines Gemeinschaftsprojekts. Sie entstand aus einem Seminar über Verschwörungsdenken am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Das Seminar fand statt im Wintersemester 2020/21, dem zweiten Corona-Semester, also unter Zoom-Bedingungen, und mit einer deutlich überdurchschnittlichen Teilnehmer*innenzahl. Rasch wurde klar, dass nicht nur die allgemeinen Umstände ein anderes als die herkömmlichen Seminararbeits-Formate erforderten, sondern dass die teilnehmenden Studierenden auch sehr gerne dazu bereit waren, Leistungen weit über die herkömmliche und routinisierte Seminararbeit hinaus zu erbringen. Herausgekommen ist diese Ausgabe von „Lernen aus der Geschichte“.

Diese Ausgabe erhebt nicht den Anspruch, den Forschungsstand zum Themenbereich „Verschwörungstheorien“ umfassend und abschließend wiederzugeben. Vielmehr bietet sie einen Einblick in die Werkstätten universitären Arbeitens. Die Themenschwerpunkte wurden von den beteiligten Studierenden selbst bestimmt, über Begriffe oder Konzepte wurde durchaus kontrovers diskutiert und gerungen, die daraus entstandenen Texte reflektieren wiederum eine Vielfalt von wissenschaftlich belastbaren Ansätzen und Positionen, ohne den Anspruch Gewissheiten zu formulieren. Auch diese folgende kurze Einleitung hat nicht zum Zweck, Positionen in Stein zu meißeln. Vielmehr soll in ihr zum Ausdruck kommen, dass wissenschaftliches Arbeiten zuvörderst die Befassung mit unterschiedlichen, mitunter kontroversen Ansätzen, Methoden und Deutungen bedeutet. Gerade ein derart gegenwartspolitisch aufgeladenes Thema wie Verschwörungstheorien erfordert einen souveränen, d.h. distanziert-reflektierten Umgang, wie in den Texten dieser Ausgabe von „Lernen aus der Geschichte“ beispielhaft vorgeführt wird.

Die Krisen der ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts, von 9/11 bis zur gegenwärtigen Pandemie, haben breite öffentliche Diskussionen über Verschwörungsdenken und dessen negative Wirkungen auf öffentliche Diskurse, auf vernunftgeleitetes politisch-soziales Handeln und auf die demokratischen Institutionen, ja die Demokratie selbst veranlasst. Dieses erneuerte Interesse hängt eng zusammen mit einem wachsenden Bewusstsein über die akuten Bedrohungslagen der liberalen Demokratie, mit dem massiven Bedeutungsanstieg sozialer Medien und, damit einhergehend, dem Auftreten neuer Akteure bei der öffentlichen Wissensproduktion sowie schließlich mit der zunehmenden Verformung von Wahrheits- und Faktenbegriffen, die sich im Verschwörungsdenken finden lässt, dessen öffentliche Wirkkraft aber auch erst ermöglicht.

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass das Verschwörungsdenken im Allgemeinen zugenommen habe. Eher ist umgekehrt der Fall, dass zumindest für die westliche Geschichte bis ins 18. Jahrhundert hinein das Denken in Verschwörungen und der Verschwörungsglaube in allen Sphären der Gesellschaft weit verbreiteter Normalfall war. Es war Karl Popper, der ganz im Zeichen des Kalten Krieges sich intensiv mit Verschwörungstheorien befasste und diesen Begriff auch popularisierte, der zwischen einem voraufklärerischem „Aberglauben“ und den modernen „Verschwörungstheorien“ unterschied. Allerdings trachtete Popper explizit danach, den Marxismus und marxistische Theorie auf diese Weise mit dem Odium der Verschwörungstheorie zu versehen, ohne seine eigenen – möglicherweise verschwörungstheoretischen – Voraussetzungen reflexiv zu bedenken. Noch bedeutender allerdings scheint mir, dass das Verschwörungsdenken bei Popper als eine Regression verstanden wird, als Rückfall in den Aberglauben im Zeitalter aufgeklärten Denkens. Eine umfassende Geschichte des Verschwörungsdenkens jedenfalls sollte die strukturellen und teilweise auch inhaltlichen tiefen Kontinuitäten ebenso erklären können, wie das tatsächlich moderne Phänomen, dass selbst die abstrusesten verschwörungstheoretischen Annahmen in ein Theorie simulierendes Erklärungsgeflecht eingebunden werden.

Es scheint eine Besonderheit der deutschsprachigen akademisierten Diskussion zu sein, dass der Fokus so sehr auf Begriffen liegt. Die von Popper eingeführte conspiracy theory oder das conspirational thinking stößt im englisch-amerikanischen Sprachraum kaum auf Widerspruch. Im deutschen Sprachraum hingegen wird darüber ein regelrechter Wörterkrieg geführt. Unterschiedliche Begriffe werden automatisch unterschiedlichen Denk- und Zugriffsweisen zugeordnet, was so lange kein Problem darstellt, wie damit kein ideologisch begründeter Überlegenheitsanspruch verbunden wird. Wie oben erwähnt, macht die Verwendung des Begriffs “Verschwörungstheorie” durchaus Sinn, wenn man sich insbesondere mit dem Phänomen der mitunter aufwändigen Theoriesimulation im Verschwörungsdenken beschäftigt. Der Begriff “Verschwörungsideologie” hingegen fokussiert auf Weltbilder, die Verschwörungstheorien begründen und zirkulär angelegt sind, sodass von außen angetragene inhaltliche Kritik gar nicht erst wirksam werden kann. Umstrittener schon ist der Begriff „Verschwörungsmythos“, zumal er häufig in einer nur sehr reduktionistischen Bedeutung verwendet wird, der insbesondere dann eingesetzt werden kann, wenn der Fokus der Betrachtung auf der sinnstiftenden und Orientierung gebenden erzählenden Handhabbarmachung von komplexen Wirklichkeiten liegt.

Schon diese kurzen Ausführungen zu den Begrifflichkeiten verweisen darauf, dass es die eine gültige Begriffsbedeutung nicht gibt, sondern Geltung immer nur in bestimmten, klar definierten Hinsichten beansprucht werden kann. Deshalb haben wir uns in diesem Themenschwerpunkt dafür entschieden, den Begriff gewissermaßen freizugeben. Mag diese pragmatische Unverbindlichkeit auch ihre Schwächen haben, so wird sie doch dem Umstand gerecht, dass in den folgenden Texten „Verschwörungsdenken“ in je unterschiedlichen Hinsichten betrachtet wird – und erst die Zusammenschau der Vielfalt der Ansätze und Schwerpunktsetzungen allgemeine Geltung beanspruchen kann. In der Praxis bedeutet dies, dass es den Autor*innen überlassen blieb, sich für eine Begriffsbedeutung zu entscheiden.

Neben den unterschiedlichen Begriffen bewegte die Autor*innen auch die Frage, was eine „Verschwörungstheorie“ eigentlich sei. Denn schon im Alltagsverständnis begegnet uns der Begriff fortwährend: das Tor in letzter Minute gegen die eigene Mannschaft, ein Missgeschick entgegen aller Erwartung oder auch der Umstand, dass man sich unverhofft und selbstverständlich völlig entgegen der tatsächlichen Verhältnisse manchmal auf der Seite einer hoffnungslosen Minderheitenposition befindet, dies alles lädt zu verschwörungstheoretischen Erklärungen ein, die wir im Zweifelsfall situativ dankbar annehmen. Dies macht aber noch keine Verschwörungstheorie aus. „Verschwörung“ ist also keineswegs einfach nur die Vorstellung von einer geheimen Machenschaft, einem plotgegen das Erwartete, das Reale, das Eigentliche. Vielmehr verweist verschwörungstheoretisches Denken an die Existenz einer machtvollen Struktur – eine soziale Gruppe, eine Organisation, ein System oder eine Technologie ­­–, die unerkannt und im Geheimen die Weltläufe im je eigenen Interesse steuert. Verschwörungstheorien artikulieren demnach eine Ohnmacht – die Handlungsunfähigkeit des Einzelnen in einer unüberschaubar komplexen Welt, die wiederum auf die Ebene der Strippenzieher reduziert wird.

Dieser Befund führt unmittelbar in die Denkwelten des Antisemitismus. Eines der zentralen Muster antisemitischen Denkens in der Moderne ist die Vorstellung von der jüdischen Manipulation eines als natürlich gedachten Verlaufs der Weltgeschichte. Der moderne Antisemitismus, wie er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ausbildete, ist in der Tat zutiefst geprägt von der jüdischen Weltverschwörung, d.h. der idée fixe geheimer jüdischer Machenschaften zur Erlangung der Weltherrschaft. Berühmtestes historisches Beispiel solchen Denkens mögen die fiktiven „Protokolle der Weisen von Zion“ sein, und auch postnazistisches verschwörungstheoretisches Denken ist durchzogen von derartigen Vorstellungen. Dies führt schließlich zu der Frage, in welchem Verhältnis verschwörungstheoretisches Denken und Antisemitismus stehen. An der sichtbaren Oberfläche haben insbesondere die Proteste gegen die Corona-Politik zahlreiche Beispiele geliefert, die zumindest auf eine Gleichgerichtetheit von Verschwörungsdenken und Antisemitismus deuten. Insofern ist die Rede von einem strukturellen Antisemitismus, der jeder Verschwörungstheorie eigen ist, durchaus plausibel. Doch verweist gerade eine historische Betrachtungsweise darauf, dass Verschwörungsdenken sich auch immer wieder gegen ganz andere als „fremd“ markierte Gruppen richtet. Die Struktur des Ungleichheitsdenkens, das allen Verschwörungstheorien eigen ist, kann sich also in sehr unterschiedliche Richtungen bewegen.

Diese Ausgabe von „Lernen aus der Geschichte“ erscheint zum Ende des vierten „Corona-Semesters“. Im universitären Raum hat keine Gruppe mehr unter den Auswirkungen dieser Krise gelitten als die Studierenden. Es war eine Kraftanstrengung dieses Heft überhaupt zu realisieren. Dafür gedankt sei den beteiligten Studierenden, die im Einzelnen unter den Beiträgen alle namentlich genannt sind, den Mitarbeiter*innen von „Lernen aus der Geschichte“ und dem geduldsam-behutsamen Redakteur des Heftes Ingolf Seidel.

 

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