7.1 Neu ist das alles nicht. Zur Geschichte des Impfens und der Impfkritik
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Tanja Gäbelein
Im aktuellen Corona-Diskurs regen sich vermehrt impfskeptische und impfgegnerische Stimmen. Ein Blick in die Geschichte des Impfens und der Impfkritik zeigt dabei, dass ihre Sorgen vor Nebenwirkungen, Impfunfällen oder der Einführung einer Impfpflicht weder neu sind, noch spezifisch für die Impfung gegen das Corona-Virus gelten.
Die Entdeckung des Impfens: Von der „Inokulation“ zur „Vakzination“
Bei einer Impfung werden Krankheitserreger absichtlich in einen gesunden Körper eingeführt, um diesen vor einer nachfolgenden schweren Krankheit zu schützen (vgl. Jütte 2020: 9).
Die erste heute bekannte Schutzimpfung richtete sich gegen die Pocken, an denen bis ins 19. Jahrhundert hinein jedes fünfte Kind in deutschen Landen starb (vgl. Meyer/Reiter 2004: 1183). In Indien, China und dem Kaukasus wurde bereits im 11. Jahrhundert die sogenannte „Inokulation“ praktiziert. Dabei wurde die Pockenmaterie eines infizierten Kindes durch einen Schnitt in die Haut auf gesunde Kinder übertragen. In Europa verbreitete sich diese Form der Impfung im 18. Jahrhundert im englischen Adel und der Oberschicht. Die Landbevölkerung war von dieser Entwicklung ausgenommen. Zentrale Gründe hierfür waren zum einen die religiöse Ablehnung des menschlichen Eingreifens in den vermeintlich gottgewollten Krankheitsverlauf und die hohen Kosten der Maßnahme. Zum anderen regten sich Zweifel an der Wirksamkeit sowie Sorgen vor schweren Impfreaktionen. Tatsächlich war der Verlauf der Impfreaktion bei der Inokulation schwer abzusehen, auch wenn die Todesrate mit 1:182 deutlich geringer war als jene bei einer echten Pockenerkrankung (vgl. Jütte 2020: 9-10).
Zugleich wussten große Teile der englischen Landbevölkerung um die schützende Wirkung von Kuhpocken. Im Jahr 1796 schließlich erbrachte der englische Landarzt Edward Jenner den Beweis, dass eine Impfung mit den für Menschen ungefährlichen Kuhpocken vor der Infektion mit Menschenpocken schützt. Angelehnt an den lateinischen Begriff für Kuh „vacca“ nannte er diese Praktik „Vakzination“ (vgl. Meyer/Reiter 2004: 1183).
In deutschen Landen führte diese Entdeckung zu heftigen Debatten. Vielerorts setzen sich zunächst die Befürworter*innen der Vakzination durch. Es folgten erste Impfzwänge für Säuglinge, etwa in Bayern (1807), Baden (1815) und Württemberg (1818) (vgl. Jütte 2020: 10).
Formierung einer impfkritischen Bewegung im 19. Jahrhundert: Zentrale Argumente
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich wuchsen die einzelnen impfkritischen Stimmen zu einer nationalen und internationalen Bewegung in England, den USA und den deutschen Landen. Mit Demonstrationen, Petitionen, der Gründung impfgegnerischer Vereine und der Herausgabe diverser Publikationen, Zeitschriften und Monatsblätter machten sie gegen die Vakzination mobil (vgl. Berek 2021).
Wie schon bei der Inokulation war eine verbreitete Argumentation die unterstellte Unwirksamkeit der Vakzination. Begründet wurde dies etwa mit dem Ausbruch verschiedener Pocken-Epidemien im beginnenden und endenden 19. Jahrhundert trotz zunehmender Verbreitung der Impfung. Für diese Ausbrüche gibt es zwei zentrale Erklärungen. Zum einen wurde die Notwendigkeit einer Auffrischungsimpfung erst im Jahre 1820 entdeckt. Zum anderen trugen geimpfte deutsche Soldaten und französische Kriegsgefangene die Pocken im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in die zuteilen ungeimpfte Zivilbevölkerung (vgl. Jütte 2020: 11).
Des Weiteren fürchteten zahlreiche Impfkritiker*innen die Nebenwirkungen der Vakzination. Tatsächlich kam es dem Medizinhistoriker Malte Thießen zufolge regelmäßig zu allergischen Reaktionen, die bleibende Schäden hervorrufen oder gar tödlich enden konnten (vgl. Thießen 2013: 37). Auch lassen sich im Laufe der Impfgeschichte verschiedene Impfunfälle nachzeichnen, bei denen aufgrund von Verunreinigung oder falscher Lagerung des Impfstoffes schwere Krankheitsverläufe oder Todesfälle auftraten (vgl. Jütte 2020: 12). In dieser Hinsicht unterscheiden sich Impfungen nicht von anderen medizinischen Produkten, die zu keinem Zeitpunkt eine vollständige Sicherheit garantieren können (vgl. Betsch et al. 2019: 404).
Eine weitere Sorge bestand in der Möglichkeit des Auslösens neuer Erkrankungen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Sorge insofern berechtigt, als das für die Vakzination menschliche Lymphe und teils unsaubere Instrumente genutzt wurden. Hierdurch konnten Krankheiten wie Syphilis übertragen werden. Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden jedoch tierische Lymphen verwendet, bei denen dieses Risiko nicht mehr bestand (vgl. Jütte 2020: 11).
Neben der anhaltenden religiösen Ablehnung des Eingriffs in den natürlichen Krankheitsverlauf bezog sich ein größer werdender Teil der Impfkritik zudem auf die Einschränkung der Freiheit durch einen bestehenden oder befürchteten „Impfzwang“. Im Kaiserreich erfüllte sich diese Sorge mit dem Beschluss des Reichsimpfgesetzes im Jahr 1874 (vgl. Jütte 2020: 13).
Debatten um die Zwangsimpfung im deutschen Kaiserreich
Als Folge der Pockenepidemie von 1870/71 erließ der deutsche Reichstag am 5. Februar 1874 das Reichsimpfgesetz. Damit wurde der „Impfzwang“ für Säuglinge und Kinder im Alter von 12 Jahren eingeführt. In sich wandelnder Anwendung blieb diese Pflicht zur Pockenimpfung in der BRD bis zum Jahre 1976 bestehen (vgl. Jütte 2020: 13-14).
Das Gesetz wurde im Reichstag heftig debattiert. Dabei lagen die Positionen zu Impfung und Impfpflicht quer zu den politischen Parteien, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen. So kritisierten beispielsweise Sozialdemokrat*innen und Liberale den Eingriff in die Persönlichkeitsrechte durch die Zwangsimpfung. Gleichzeitig wurde das Impfen aus dem selben politischen Spektrum als Akt der Solidarität zu Zwecke der Herdenimmunität verteidigt (vgl. Thießen 2013: 39-40). Im völkisch-nationalistischen Spektrum hingegen betonten einige den militärischen Nutzen einer immunisierten Armee, während andere im Impfen eine sogenannte „Rassenschande“ sahen, die den „Volkskörper“ vergifte (vgl. Thießen 2021).
Letztere Position reihte sich ein in die zunehmend antisemitischen Töne der impfkritischen Bewegung. So vermutete etwa der bekannte Antisemit Eugen Dühring 1881 in seiner Hetzschrift „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ hinter der Impfung eine Verschwörung jüdischer Journalist*innen und Politiker*innen. Sie sei erfunden worden, damit sich jüdische Ärzt*innen an den Kosten bereichern könnten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich radikalisierte sich die Bewegung und verbreitete eine regelrechte Angst vor dem Impfen durch Publikationen wie Hugo Wegeners „Impf-Friedhof“ von 1912 oder dem medienwirksamen Präsentieren von Patient*innen mit Impfschäden (vgl. Berek 2021).
Vom Impfzwang zum „pragmatischen Paternalismus“: Entwicklungen in der Weimarer Republik
Trotz abnehmender Fallzahlen und zunehmender Impfkritik wurde die Impfpflicht auch in der Weimarer Republik zunächst rigide umgesetzt. Thießen zufolge war dies neben bevölkerungspolitischen Überlegungen auch einem staatlichen Wunsch nach sozialer Kontrolle geschuldet. Überdies argumentiert der Medizinhistoriker, in der Durchsetzung des Impfzwangs sei die Interventionskompetenz der neuen Republik sowie die staatliche Autorität über den sogenannten „Volkskörper“ demonstriert worden (vgl. Thießen 2013: 41-44).
Weiterhin lagen dabei die Positionen zur Impffrage quer zu den politischen Parteien. Hierbei lässt sich zwischen Impfskeptiker*innen und Impfgegner*innen unterscheiden. Erstere bezweifelten (und bezweifeln) nicht grundsätzlich die Wirksamkeit von Impfungen. Wie der damalige Sozialmediziner Julius Moses standen sie jedoch der Pflicht zur Impfung kritisch gegenüber. Militante Impfgegner*innen wie etwa der „Deutsche Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung“ hingegen lehnten jegliche Impfung ab und argumentierten zunehmend völkisch-antisemitisch. In einer wachsenden Zahl Publikationen, aber auch in Volksversammlungen mobilisierten sie gegen einen vermeintlichen „Impfwahn“ (vgl. Thießen 2013: 43).
Übereinstimmend bezeichnen Forscher*innen dabei die Impfung als Opfer des eigenen Erfolges: Je mehr die Pocken (und später auch andere Krankheiten) mithilfe von Impfungen zurückgedrängt wurden, desto geringer war auch die Risikowahrnehmung in der Bevölkerung und umso vehementer wurde die Impfkritik (vgl. Berek 2021; Betsch et al. 2019: 405).
Eine Zäsur in der Impfpolitik der Weimarer Republik und ein massiver Auftrieb für die impfgegnerische Bewegung war das sogenannte „Lübecker Impfunglück“ von 1930. Aufgrund der Verunreinigung eines Tuberkulose-Impfstoffes starben hierbei 77 Kinder, während weitere 131 Kinder zum Teil schwer erkrankten. In der Folge setzte ein pragmatischer Umgang mit Impfungen ein. Die Pflicht zur Impfung bestand fort, wurde jedoch nicht mehr mit staatlicher Gewalt durchgesetzt (vgl. Jütte 2020: 13). Diese Entwicklung setzte sich auch im Nationalsozialismus fort.
Impfen für die Volksgemeinschaft: Die Impfpolitik des Nationalsozialismus
Anders als auf den ersten Blick zu erwarten gewesen wäre, setzte der NS-Staat in seiner Impfpolitik weniger auf direkten Zwang, sondern nahm eine zunehmend appellative Instanz ein. Die Impfpflicht blieb bestehen, wurde jedoch legerer gehandelt. Dies zeigt eine Anweisung des Reichsgesundheitsamtes von 1935, derzufolge ein Kind impfunwilliger Eltern im Zweifelsfall nicht zu impfen sei, um „unnötige Hetze und Feindschaft gegen die Durchführung des Impfgesetzes zu verhüten“ (zitiert nach: Thießen 2013: 49).
Diese Vorgehensweise ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass einige hohe NS-Funktionäre erklärte Impfgegner*innen waren. Der NSDAP-Gauleiter Julius Streicher beispielsweise bezeichnete das Impfen als sogenannte „Rassenschande“, deren Implementierung maßgeblich auf jüdische Abgeordnete im deutschen Kaiserreich zurückginge. Die Immunisierung widerspreche dabei der vermeintlich natürlichen Auslese der Schwächeren. Überdies waren die Pocken (aufgrund einer hohen Durchimpfungsrate im Kaiserreich) bereits weitgehend zurückgedrängt und stellten dadurch kein akutes Problem dar. Nicht zuletzt nahm die NS-Führungsriege auch eine verbreitete Impfablehnung in der Bevölkerung wahr, die seit dem Lübecker Impfunglück stark zugenommen hatte. Wehrpolitische Überlegungen gaben dennoch den Ausschlag, die Impfpflicht offiziell beizubehalten (vgl. Thießen 2013: 46-48).
Ab Mitte der 1930er Jahre schließlich setzte die NS-Führung auf ein koordiniertes Zusammenwirken von Medien, Gesundheitsämtern, Ärzt*innen und Lehrer*innen, um die explizit als freiwillig deklarierte Diphtherieimpfung propagandistisch zum „Dienst an der Volksgemeinschaft“ zu erheben. Der so entstandene soziale Druck wirkte dabei stärker als jeder Impfzwang. Zugleich wurden Juden*Jüdinnen ebenso wie Zwangsarbeiter*innen von den Impfungen gegen Diphtherie, später auch gegen das Fleckfieber ausgeschlossen (vgl. Thießen 2013: 53-54).
Entwicklungen nach 1945
Nach Ende des Nationalsozialismus behielten sowohl die DDR als auch die BRD die Pflicht zur Pockenimpfung zunächst bei. In beiden Systemen wurde die Pflicht dennoch pragmatisch gehandhabt. In der BRD wird insbesondere seit der Aufhebung der Impfpflicht im Jahr 1976 an das „präventive Selbst“ (Thießen 2021) appelliert: Jede Einzelperson soll dabei freiwillig die eigene Lebensführung an gesundheitlichen Kriterien ausrichten.
Lernen aus der Geschichte
Wir haben gesehen, dass die impfkritische Bewegung seit ihrer Entstehung im frühen 19. Jahrhundert wiederkehrend ähnliche Sorgen und Argumente vorbringt.
Dabei scheint zum einen die Sinnhaftigkeit einer staatlich verordneten Pflicht zur Impfung mindestens fraglich, wenn nicht sogar kontraproduktiv. Vielmehr braucht es gute Informationen, Transparenz und Vertrauen in die impfausführenden Institutionen.
In der Auseinandersetzung mit der heterogenen Bewegung der Impfkritiker*innen lohnt es sich zum anderen, zwischen verschwörungsmythisch, antisemitisch oder sozialdarwinistisch argumentierenden Impfgegner*innen und moderaten Impfskeptiker*innen zu unterscheiden. Mit Ersteren scheitert eine zielführende Auseinandersetzung bereits am Fehlen eines gemeinsamen Grundsatzes: dem unhinterfragbaren Wert eines jeden Menschenlebens. Mit Letzteren hingegen kann es sich lohnen in den Dialog zu treten. So ist die Sorge vor Nebenwirkungen und Impfunfällen historisch durchaus berechtigt. Die Gefährdung durch Unfälle und allergische Reaktionen muss jedoch in Relation zu den Auswirkungen einer Erkrankung mit dem tatsächlichen Virus sowie den Folgen des anhaltenden pandemisch bedingten gesellschaftlichen Stillstandes gesetzt werden. Klar ist: Eine absolute Sicherheit der Impfung kann es nicht geben. Zur Beendigung der aktuellen Pandemie und zum Schutz insbesondere von immunschwachen Personen aber braucht es eine möglichst hohe Zahl an Menschen, die sich impfen lassen.
Literatur
Berek, Mathias (2021): „Verunreinigtes Blut“, in: Die Zeit vom 04.02.2021, 15.
Betsch, Cornelia/Schmidt, Philipp/Korn, Lars/Steinmeyer, Lisa/Heinemeier, Dorothee/, Eitze, Sarah/Küpke, Nora Katharina/Böhm, Robert (2019): Impfverhalten psychologisch erklären, messen und verändern, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz: 62, 400-409.
Meyer, Christiane/Reiter, Sabine (2004): Impfgegner und Impfskeptiker. Geschichte, Hintergründe, Thesen, Umgang, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz: 47, 1182-1188.
Jütte, Robert (2020): Zur Geschichte der Schutzimpfung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 70: 46-47, 9-14.
Thießen, Malte (2021): Das Lebensgefühl Immunität ist erschüttert, in: BR KulturBühne, unter: https://www.br.de/kultur/impfung-thiessen-corona-100.html; 16.03.2021.
Thießen, Malte (2013): Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“. Impfen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 61:1, 35-64.
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- 23 Feb 2022 - 08:05