Empfehlung Fachdidaktik

Karl-Hermann Rechberg: Täterschaft in der Gedenkstättenpädagogik. Empirische Rekonstruktion der Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schüler

Karl-Hermann Rechberg: Täterschaft in der Gedenkstättenpädagogik. Empirische Rekonstruktion der Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schüler. Wiesbaden: Verlag Springer VS, 2020, 295 Seiten, 46,99 Euro (eBook)/59,99 Euro (Taschenbuch).

Von Thomas Hirschlein 

Die Auseinandersetzung mit Täter*innenschaft ist eine zentrale Aufgabe der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus. Wer nach den Ursachen für die Verbrechen fragt, muss die Täter*innen in den Fokus rücken und untersuchen, welche Faktoren wie Antisemitismus, Sozialisation und situative Gruppendynamiken sie in ihrem Handeln beeinflusst haben. Gleichzeitig wird davor gewarnt, dass Täter*innen und ihre teils propagandistischen Formen der Selbstinszenierung nach wie vor eine Faszination ausüben können. Es bestehe folglich das Risiko, dass Lernende, insbesondere jüngere Menschen, unkritisch deren Perspektive übernehmen könnten. Empirische Studien zu dieser Ambivalenz in der Bildungsarbeit zu NS-Täter*innen gab es bislang keine. Mit seiner Untersuchung Täterschaft in der Gedenkstättenpädagogik. Empirische Rekonstruktion der Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schüler füllt Karl-Hermann Rechberg nun diese Lücke. Erschienen ist die gut 290 Seiten lange Dissertation 2020 im Verlag Springer VS.

Rechbergs Forschungsfrage lautet: „Welche kollektiven Orientierungen zeigen sich bezüglich der Lern- und Bildungsprozess von Schulklassen, die im Rahmen einer Geländebegehung den Täterort „ehemaliges Reichsparteitagsgelände“ besucht haben?“ (S. 3) Aus seiner Sicht sprechen zwei Gründe für die Analyse der Lernprozesse an diesem historischen Ort in Nürnberg: Er geht erstens davon aus, „dass die Täterperspektive hier dominant wahrgenommen wird, da die Opfer auf den Reichsparteitagen selbst abwesend waren“ (S. 61). Das ehemalige Gelände der Reichsparteitage steht zweitens wie kaum ein anderer Ort für die Selbstinszenierung der Täter*innen. Die Großbauten dienten den Nationalsozialist*innen zu Propagandazwecken und zur physischen Demonstration ihrer Macht. Aufgrund der besonderen Gestaltung dieses Ortes besteht laut Rechberg ein erhöhtes Risiko für die unkritische Übernahme der Täter*innenperspektive.

Für seine Studie wertet er 36 Gruppendiskussionen mit insgesamt 206 Schüler*innen aus, die zuvor an einem pädagogisch geführten Rundgang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände teilgenommen haben. Nicht alle der Gruppen haben auch das Dokumentationszentrum und seine Ausstellung besucht. Rehberg interessiert sich vor allem für den Umgang der Jugendlichen mit dem historischen Ort und wie sie die Überbleibsel der nationalsozialistischen Großbauten wahrnehmen.

Aus den transkribierten Gesprächen arbeitet er im zentralen vierten Kapitel seiner Studie heraus, dass die kollektiven Orientierungen, die die Lernprozesse der Schüler*innen strukturieren, zweidimensional angelegt sind (S. 109 ff.). Die erste Dimension umfasst drei verschiedene Formen, wie sich die Schüler*innen mit dem Ort auseinandersetzen: In der sinnesbezogenen Auseinandersetzung liegt der Fokus auf der Beschaffenheit der historischen Bauwerke und ihrer sinnlichen Wahrnehmung. In der kontextuellen Auseinandersetzung fungieren das Gelände und die Gebäude als Bezugspunkte für Kontextinformationen, die die Schüler*innen im Rahmen des Rundgangs erworben haben. In einer dritten Form steht der historische Ort nicht selbst im Zentrum, sondern erfüllt lediglich eine Funktion, um zum Beispiel eine praktische Aufgabe zu erledigen, die die Lehrer*innen an die Schüler*innen gestellt haben. Die Schüler*innen wissen zum Teil gar nicht, an welchem historischen Ort sie sich gerade aufhalten. Die zweite Dimension von Rehbergs Basistypik betrifft die Resonanz der Schüler*innen auf Elemente der Machtinszenierung. Hier unterscheidet er einerseits zwischen einer kritischen und andererseits einer affirmativen Reaktion auf das Gelände und die historischen Gebäude. Außerdem gibt es Schüler*innen, die im untersuchten Material gar keine Reaktion auf diese Elemente zeigen.

Auf Grundlage der zwei Dimensionen und ihren internen Unterscheidungen identifiziert Rechberg sieben Typen von Lern- und Bildungsprozessen bei den Schüler*innen. Diese Typen können nicht jeweils einzelnen Gruppen zugeordnet werden. Vielmehr tauchen sie in den Gruppengesprächen hinter- und durcheinander auf, nehmen jedoch je nach Gruppe unterschiedlich viel Raum ein. Um seine Typologie zu verdeutlichen, seien zwei dieser Typen kurz vorgestellt. Der Typ „Eindrucks-Brechung“ zeichnet sich laut Rechberg dadurch aus, „dass sich die Lernenden auf einer sinnesbezogenen Ebene mit dem Ort auseinandersetzten und sich anhand der Machtinszenierung von den Tätern distanzieren“ (S. 121). Die Schüler*innen tauschen sich in dem Gespräch zum Beispiel über die Größe der ehemaligen Kongresshalle aus, brechen diesen Eindruck aber, indem sie sich über die Baufälligkeit des Gebäudes und Hitlers Größenwahn lustig machen. Auch der Typ „Eindrucks-Affirmation“ befasst sich primär auf der sinnesbezogenen Ebene mit dem historischen Ort. Im Unterschied zum ersten Typ bejahen die Schüler*innen hier jedoch die Macht und äußern teilweise explizit ihre Bewunderung für die Machtinszenierung. Das Gelände sei beeindruckend, das Erleben der Reichsparteitage vor Ort sei bestimmt „krass“ und „große Klasse“ gewesen (S. 136). Dieser Unterschied zwischen einer kritischen und einer affirmativen Resonanz zeigt sich auch auf der Ebene der kontextuellen Auseinandersetzung mit dem historischen Ort (S. 149 ff.).

Die empirischen Befunde von Rechbergs Studie bestätigen demnach, dass bei der Erkundung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes das Risiko besteht, dass Schüler*innen unkritisch die Perspektive der Täter*innen übernehmen können oder zumindest Bewunderung für Architektur und Gestaltung ausdrücken und diese Faszination zugleich ihr Bild von den Täter*innen prägen kann. In den beiden letzten Kapiteln diskutiert Rechberg diese empirischen Erkenntnisse und formuliert Ideen, wie in der Bildungspraxis mit diesen Risiken und Herausforderungen umgegangen werden könnte. Er nennt beispielsweise das Identifizieren von Potenzialen zur affirmativen Identifikation mit Täter*innen, denen gezielt Distanzierungsangebote entgegengesetzt werden sollten (S. 235 ff.). Zudem schlägt er vor, ambivalente Emotionen der Lernenden im Lernprozess anzuerkennen und einen Raum zu schaffen, in dem auch Gefühle der Faszination und Bewunderung bearbeitet werden können.

Soweit grob zusammengefasst der rote Faden der Studie. Gemäß den akademischen Gepflogenheiten bietet die Dissertation aber noch mehr: Sie kontextualisiert die Forschungsfrage und stellt den Forschungsstand vor, beschreibt und begründet die Methode und geht auf die theoretische Rahmung sowie das Sample der empirischen Untersuchung ein. Wer angesichts des Charakters der Studie als akademische Qualifikationsarbeit zögert, direkt mit der Lektüre loszulegen, sich aber für das Thema der Studie und die Bildungsarbeit zu NS-Täter*innenschaft interessiert, der*dem sei als Entscheidungshilfe ein knapp halbstündiger Vortrag empfohlen, in dem Rechberg die zentralen Schritte und Erkenntnisse seiner Dissertation vorstellt.

 

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