Statistik und Katastrophe: Die Liste der Wannsee-Konferenz
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Flavia Citrigno und Christoph Kreutzmüller befassen sich mit der Liste noch lebender Jüdinnen*Juden in Europa auf Seite sechs des Protokolls der Wannsee-Konferenz als einer Möglichkeit der Annäherung an das Geschehen.
Von Flavia Citrigno und Christoph Kreutzmüller
Fast wie Auschwitz-Birkenau für den physischen Mord steht die Wannsee-Konferenz für die bürokratische Verfasstheit der Shoah. Entsprechend zieht die 1992 etablierte Gedenk- und Bildungsstätte trotz ihrer relativ abgelegenen Lage in normalen Zeiten mehr als 100.000 Besucher*innen im Jahr an.
Was die „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ in einer Villa am Ufer der Havel im Kern ausmacht, ist eine Frage, über die in der Fachwissenschaft seit Langem diskutiert wird und die schwer zu vermitteln ist. Neben Strukturen und den Teilnehmern kann eine Annäherung vor allem über das Protokoll erfolgen. Die fünfzehn maschinengetippten Seiten sperren sich allerdings gegen eine schnelle Lektüre. Entsprechend wird das Protokoll oft auf einige Kernzitate reduziert. Optisch hebt sich neben der Teilnehmerliste am Anfang nur eine Seite deutlich von den anderen ab. Dies ist die sechste Seite des Protokolls. Auf dieser Seite werden in tabellarischer Form die Zahl der noch lebenden *Jüdinnen*Juden in Europa auf- und die Zahl von über 11 Millionen eingeführt.
Die am 20. Januar 1942 als Tischvorlage ausgeteilte Liste ist in ihrem symmetrischen und mathematischen Aufbau für unsere Augen nicht fremd – anders als das sprachlich komplizierte Protokoll der Besprechung, das mit seinen Tarnbegriffen und langen Sätzen sperrig wirkt. Die strukturierte Ausführung der europäischen Länder in zwei Kategorien und die beistehenden Zahlen vermitteln den Eindruck, es handele sich dabei um eine klare, präzise Angabe, deren Erfassung deutlich und genau war. Wie der israelische Historiker Dan Michman 2018 festgestellt hat, ist diese Liste längst zu einer „Ikone“ geworden. Sie wurde und wird in zahlreichen Publikationen und Ausstellungen gezeigt. Der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz diente die Liste eine zeitlang sogar als Hintergrundmotiv für Informationsfaltblätter. Allerdings verstellt die symbolische Aufladung wie so oft den Blick auf das „Objekt“. Entsprechend ist die Liste in der Forschung kaum hinterfragt worden, obwohl sie einen großartigen Ausgangspunkt zu Fragen der Dimension des Mordens, der statistischen Repräsentanz von Menschen ebenso wie zu einer Auseinandersetzung mit Tätern und Tathorizonten der Shoah bietet. Wie jedes Dokument muss die Liste dazu kontextualisiert und letztlich dekonstruiert werden.
Wer listet?
Die Liste wurde vom Leiter des Judenreferats IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes, Adolf Eichmann, und seinen Mitarbeitern zusammengestellt. Wie waren Eichmann und seine Mitarbeiter aber an die Angaben gekommen? Da die schriftliche Überlieferung äußerst lückenhaft ist, können wir diese Frage gar nicht so einfach beantworten. Nachweislich diente Eichmann eine Aufstellung als Grundlage, die Ernst Simon, der Leiter der statistischen Abteilung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Anfang August 1941 quasi über Nacht erstellt hatte. Ganz offenbar hatte sich Eichmann nach der Ernennung Reinhard Heydrichs zum Chefplaner der „Gesamtlösung der Judenfrage“ durch Hermann Göring am 31. Juli 1941 einen Überblick verschaffen wollen und Simon den Befehl erteilt, eine solche Aufstellung zusammenzustellen. Bei seinem Prozess in Jerusalem sagte Eichmann fast 20 Jahre später aus, dass er sich zur Verifizierung des statistischen Materials der Kanäle des Reichssicherheitshauptamtes bedient und so beispielsweise die Berichte der Einsatzgruppen in seine Statistik eingearbeitet hatte.
Wann?
Im Protokoll wird der 31.10.1941 als „Stichtag“ der Sammlung statistischer Daten für das Deutsche Reich bzw. das Protektorat genannt. In Jerusalem gab Eichmann dann an, dass er seine Vorbereitungen im November 1941 erledigt habe. Dies deckt sich aber nicht mit der Anzahl der zu diesem Zeitpunkt noch im Deutschen Reich lebenden Juden. Anfang November 1941 lebten noch 150.925 Jüdinnen*Juden im sogenannten Altreich – und nicht 131.800, wie dann in der Liste steht. In Folge der Deportationen waren erst Anfang Januar 1942 nur noch so wenig Jüdinnen*Juden im Reich. Dass Eichmann in Jerusalem in dieser Beziehung falsche Angaben machte, zeigt sich auch an einer anderen Stelle. Insbesondere im Osten, wo die Kriegslage und somit die Grenzen und Mordpolitik extrem und dynamisch waren, waren die Zahlen noch lebender Jüdinnen*Juden verheerend gesunken. Estland wurde als erstes (und einziges) Land auf der Liste bereits als „judenfrei“ eingetragen. Dabei wurde Estland erst in einem Bericht von Anfang Februar 1942 offiziell so bezeichnet. Eichmann muss davon vorab – wahrscheinlich telefonisch – erfahren und diese Information eingearbeitet haben.
Auffällig sind außerdem einige Fehler: So ist Serbien unter den „nicht besetzten“ Ländern aufgeführt. Das Elsass und das Memelgebiet, die von Deutschland annektierten Teile Sloweniens und das Sudetenland hatte Eichmann ebenso wie Luxemburg entweder unter dem Begriff „Altreich“ gefasst oder – wie im Übrigen auch Island – einfach vergessen. Auch dies spricht letztlich dafür, dass die Liste erst kurz vor der Konferenz fertiggestellt und nicht mehr Korrektur gelesen worden ist.
Wen?
Die Liste ist in zwei Spalten geteilt. Unter „A“ sind die vom Deutschen Reich besetzen oder beeinflussten Länder aufgeführt. Unter „B“ werden die (noch) nicht besetzten oder neutralen Länder genannt. Die Anordnung der Namen wirft viele Fragen auf und legt nahe, dass es eine Liste vor der überlieferten Liste gab. Vor allem die Einträge am Anfang der Liste scheinen auf den ersten Blick keiner alphabetischen Anordnung zu folgen. Hier ist jedoch die quasi koloniale Perspektive der Täter auf Osteuropa zu berücksichtigen: Die Gebiete, die bald ein Teil des Reichs hätten werden sollen, wurden mit Absicht ganz hoch in die Liste gesetzt. Sich vorzustellen, wie Eichmanns ursprüngliche Liste aussah, hilft bei der Dekonstruktion der Täterziele nicht nur hinsichtlich der Ermordung der Jüdinnen*Juden, sondern auch der Vorstellungen der Herrschaft über Europa.
Seite 6 |
Die Liste vor der überlieferten Liste |
Altreich |
Deutsches Reich: · Altreich · Oesterreich · Ostgebiete |
Ostmark |
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Ostgebiete |
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Generalgouvernement |
Gebiete, die Teil des Deutschen Reichs werden sollten: · Polen (Generalgouvernement, Bialystok – von West nach Ost in der Tabelle eingegeben) · Tschechien |
Bialystok |
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Protektorat Böhmen und Mahren |
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Estland |
Baltische Staaten · Estland · Lettland · Litauen |
Lettland |
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Litauen |
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Belgien |
Belgien |
Das wohl wichtigste Merkmal der in der Forschung bislang weitgehendend vernachlässigten Liste ist ihr eigene Mischung aus Nachlässigkeit und Akkuratesse. Abgesehen von den erwähnten Fehlern zeigt die Liste auch verschiedene Ungenauigkeiten. Sogar die ikonische Angabe von „über 11 Millionen“ ist streng genommen ungenau. Eine Addition aller Zahlen der Liste ergibt 11.292.300. Warum rundete Eichmann ab, wo er sich doch vorher so viel Mühe gegeben hatte, genaue Zahlen vorzubereiten? Ist das ein Hinweis, dass Eichmann selbst wusste, dass seine Statistik nicht so genau war – oder dass es auf die Zahl eigentlich gar nicht ankam? Vermutlich war es ihm einfach egal, dass 292.300 Menschen mehr ermordet werden sollten.
Ein anderes grundlegendes Problem der Liste ergibt sich aus dem Umstand, dass eines der zentralen Themen der Besprechung am Wannsee die Frage nach der Definition von Jüdinnen*Juden war. Die Diskussion darüber, wie mit Menschen mit ein oder zwei jüdischen Großeltern umgegangen werden solle, die nach den Regelungen des Nürnberger Reichsbürgergesetzes von 1935 nicht als Jüdinnen*Juden galten, nimmt im Protokoll viel Raum ein. Die Frage der Definition hatte aber unmittelbare Auswirkungen auf die Zusammenstellung der Gesamtzahl der Jüdinnen*Juden. Hätten sich die rassistischen Hardliner am Wannsee oder auf den Folgekonferenzen durchgesetzt und die Definition erweitert, hätte Eichmann die Liste umschreiben müssen. Nur die Zahl für die Niederlande hätte dann Bestand gehabt, weil diese alle Menschen beinhaltete, die nur einen jüdischen Großelternteil hatten.
Von Zahlen und Fragen
„Ich spreche hier von unliebsamen Tatschen; und zu allem Übel verfüge ich, um meine Sicht der Dinge zu untermauern, ich nicht einmal über das einzige Argument, das Leute von heute beeindruckt: nämlich über Zahlenangaben“. Nicht ohne Ironie verwies Hannah Arendt 1943 in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ auf die starke Wirkung, die Zahlen haben. Eine Wirkung, die im Übrigen ganz ähnlich ist wie die von historischen Fotografien. Zahlen wie Fotos überzeugen auf den ersten Blick – und werden oft keines zweitens Blickes mehr gewürdigt.
Einer der Gründe, warum Eichmanns Liste zur Ikone geworden ist, ist sicherlich, dass die Liste unserem heutigen Verständnis einer rationalen Gesellschaft entspricht, die ihre Welt mit auf Statistiken und Fakten basierenden Zahlen ordnet und durchdringt. Allzu leicht nehmen wir den Anspruch der Täter der Besprechung am Wannsee, nachgerade wissenschaftlich und faktenbasiert zu arbeiten, gleichsam für bare Münze. So scheint die Liste „einfach“ zu belegen, wie viele Jüdinnen*Juden in den jeweiligen europäischen Ländern Ende 1941-1942 gelebt haben und wie viele ermordet werden sollten. Auf den zweiten, manchmal auch dritten oder vierten Blick kann die Seite 6 des Protokolls uns viel mehr verraten. Die Liste ermöglicht einen Einblick in zutiefst rassistische und kolonialistische Perspektiven der Täter und sie gibt Anknüpfungspunkte zum Verständnis eines – und ein Netzwerk einer – in Ansätzen über Europa hinausgehender – Zusammenarbeit von Statistikern, Rasseforschern, Beamten der Einwohnermeldeämter und Polizisten. Letztlich kann die Beschäftigung mit der Liste uns auch dabei helfen, das Bild der wissenschaftlich und effizient arbeitenden Bürokraten zu dekonstruieren, das sie selbst vermitteln wollten.
Diese Ziele verfolgt ein digitales Projekt des Hauses der Wannsee-Konferenz in Kooperation mit dem Warschauer Partner ENRS, „Statistics and Catastrophe – Questioning Eichmann´s Numbers“. Anhand einer interaktiven Website sollen Benutzer*innen erfahren, woher die Zahlen kamen, die auf Seite 6 aufgelistet sind. Hinter der Statistik verbergen sich aber Millionen von Katastrophen, Leid Verlust und Tot. Auch dies soll die Webanwendung abbilden.
Literatur
Bernlocher, Ludwig (Hg.): Geschichte und Geschehen, Oberstufe A/B, Stuttgart 2005, S. 349.
Abschriften der Aussagen Eichmanns finden sich unter anderem in: Norbert Kampe/Peter Klein (Hg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln/Weimar/Wien 2013.
Aufstellung der Reichsvereinigung der „Anzahl der Juden absolut und im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung in den einzelnen Ländern nach Erdteilen“, 7.8.1941, in: BArch, R 8150, 25.
Jüdische Bevölkerung in Deutschland, in: Statistik des Holocaust: http://statistik-des-holocaust.de/stat_ger_pop.html.
Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer, Stuttgart 2020.
Michman, Dan: Were the Jews of North Africa Included in the Practical Planning for the ´Final Solution of the Jewish Question?, in: Alex J. Kay/David Stahel, Mass violence in Nazi-Occupied Europe, Bloomington 2018, S. 59-78.
Kreutzmüller, Christoph: Eichmanns Zahlen für die Niederlande, in: Norbert Kampe/Peter Klein (Hg.), Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 357-378.
Weiss-Wendt, Anton: „Estland ist Judenrein!“ In: Murder without hatred. Estonians and the Holocaust. 2009 New York, S.123-151.
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- 26 Jan 2022 - 08:32