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Widerstand von Jugendlichen im Nationalsozialismus – Zur Vielfalt im Widerstandshandeln von Jugendlichen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Christine Müller-Botsch ist stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Sabine Sieg MA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Von Christine Müller-Botsch und Sabine Sieg

„Lasst euch euren freien Willen, das kostbarste, was ihr besitzt, nicht nehmen.“ Im Winter 1941 formulierte der damals 16-jährige Helmuth Hübener diesen Satz für ein Flugblatt, das sich vor allem an Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ richtete. Helmuth Hübener verfasste und verteilte noch zahlreiche weitere Flugschriften in Hamburg und versuchte damit Jugendliche, aber auch Erwachsene aufzurütteln und zum Widerstand gegen das NS-Regime zu bewegen.

In der Dauerausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ist dieses Zitat in großen Buchstaben auf einer Wand zu lesen. Es findet sich im Raum 13 und dient häufig als Gesprächsanlass. Der Raum 13 gehört zu den am meisten besuchten Räumen der Ausstellung. Besonders Schul- und Jugendgruppen wünschen sich bei Führungen und Seminaren den Besuch dieses Raums, der sich dem Widerstand von Jugendlichen widmet.

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand befindet sich in Berlin-Tiergarten am historischen Ort des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944. In ihrer Dauerausstellung beleuchten 18 Themenbereiche die gesellschaftliche Breite und soziale Vielfalt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

Die meisten Deutschen folgten nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten dem neuen Regime begeistert oder passten sich an. Nur wenige Menschen stellten sich der kontinuierlichen Verletzung von Menschenrechten entgegen und wehrten sich gegen die Diktatur und die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Unter ihnen waren auch Jugendliche.

Die Geschichten dieser Jugendlichen zeigen eindrucksvoll, dass es nicht nur Erwachsene gab, die sich gegen das Mitmachen im Nationalsozialismus entschieden hatten. An diese widerständigen und mutigen jungen Menschen wird in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand erinnert. 

Vielfältige Motive und Handlungsformen im Widerstand von Jugendlichen 

Die gesellschaftliche Breite und Vielfalt des Widerstandes bilden sich in besonderer Weise im Ausstellungsbereich „Widerstand von Jugendlichen“ ab. Erkennbar wird, dass sich der Widerstand von Jugendlichen durch alle Gesellschaftsschichten und Milieus zog und in seinen Orientierungen und Formen sehr vielfältig war. An den Ausstellungswänden und in den Medienstationen im Bereich 13 finden sich Fotos, Dokumente und Kurzfilme, die auf zahlreiche Beispiele von jungen Menschen im Widerstand hinweisen. Thematisiert werden hier die Lebenssituation von Jugendlichen im Nationalsozialismus und ihre Handlungsspielräume, unterschiedliche Motive der Gegnerschaft und sehr verschiedene Widerstandsformen.

Widerstand ab 1933

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 wurden innerhalb weniger Monate fast alle Jugendverbände aus der Zeit der Weimarer Republik verboten, zur Selbstauflösung gezwungen oder der „Hitler-Jugend“ angegliedert. Die „Hitler-Jugend“ sollte zur einzigen Jugendorganisation in Deutschland werden. Die massive Verfolgung von politischen Gegner*innen und die Zerschlagung ihrer Organisationen betraf in vielfacher Weise auch die Jugendlichen.

Vor diesem Hintergrund versuchten politische Jugendgruppen, in der Illegalität zusammenzuhalten oder sich neu zu formieren. Die Gestapo verfolgte dies rücksichtslos. Bis Mitte der 1930er Jahre fanden zahlreiche Prozesse gegen Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands (KJVD) und der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) statt. Zu nennen wäre hier beispielsweise die Gruppe G, die sich im Herbst 1933 gründete. Die Jugendlichen waren zwischen 15 und 18 Jahre alt und hatten zumeist einen kommunistischen oder sozialistischen Hintergrund. Sie waren oft in Stuttgart und Umgebung auf Wanderungen und nutzten diese für Netzwerkbildung und Planung von Widerstandshandlungen. Bereits 1935 sind viele von ihnen verhaftet worden, wie der 16-jährige Hans Gasparitsch, der regimekritische Parolen auf ein Denkmal schrieb und daraufhin bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern in Haft war.

Auch christliche Jugendliche aus den verschiedenen Kirchen versuchten, sich frühzeitig gegen die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu wehren. Einige Jugendliche organisierten sich beispielsweise in kleinen Bibelkreisen, um ihren Zusammenhalt und kritische Distanz zu wahren. 

Die Abgrenzung von der „Hitler-Jugend“ konnte ein grundlegendes Motiv für Widerstand oder widerständiges Handeln von Jugendlichen sein. „Bündisch“ orientierte Jugendliche versuchten, ihre Traditionen aufrechtzuerhalten, und gerieten damit zunehmend in Konflikt mit der „Hitler-Jugend“. Auch Gruppen wie die Leipziger Meuten wollten eigenständig ihre Freizeit gestalten und setzten sich mit Angehörigen der „Hitler-Jugend“ mitunter auch handgreiflich auseinander.

Viele Jugendliche nutzten bekannte Mittel wie Flugblätter oder Aufschriften auf Wänden für ihren Widerstand. Teilweise wurden die Flugblätter mit der Hand geschrieben, weil keine Schreibmaschine oder kein Vervielfältigungsapparat zur Verfügung stand. Andere Jugendliche, die mit Maßnahmen der Nationalsozialisten nicht einverstanden waren, suchten beispielsweise in Sportvereinen und unter Mitschüler*innen nach Gleichgesinnten und bildeten Widerstandsnetzwerke, die sich gegenseitig bestärken konnten. Für Jugendliche, die als Jüdinnen*Juden immer stärker verfolgt wurden, boten solidarische Netzwerke Austausch und Stärkung und wurden oftmals überlebenswichtig. 

Widerstand während des Krieges

Während des Krieges verschärften die Nationalsozialisten die Verfolgung von Jugendlichen, die ihr Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung außerhalb der „Hitler-Jugend“ verteidigten. Bereits seit Mai 1939 mussten alle Jugendlichen, die im Sinne der nationalsozialistischen „Rassen“-Politik für die „NS-Volksgemeinschaft“ gewonnen werden sollten, dem „Bund Deutscher Mädel“ oder der „Hitler-Jugend“ angehören. Sie sollten die nationalsozialistischen Feindbilder übernehmen und wurden zu unbedingtem Gehorsam angehalten. Nicht alle akzeptierten diese totale Vereinnahmung durch das NS-Regime.

Gruppen wie die Edelweißpiraten oder Swing-Jugendliche, die eher dem Spektrum der nicht-angepassten Jugendlichen zuzurechnen sind, widersetzten sich dem Anpassungsdruck durch die nationalsozialistische Gesellschaft und gerieten zunehmend in Konflikt mit dem NS-Regime. Über Kleidung, Auftreten, Sprache und Musik grenzten sie sich ab und wollten sich damit ihre Individualität bewahren.

Zum Teil entwickelten diese Gruppen auch eigenständige Widerstandsformen. So inszenierten beispielsweise Hamburger Swing-Jugendliche im Sommer 1941 die Begrüßung des von ihnen erfundenen „Reichsstatistenführer”. Lautstark und mit großen Gesten empfingen sie ihn am Hamburger Hauptbahnhof und fuhren ihn anschließend in einer offenen Pferdekutsche durch die Stadt. Mit dieser Aktion kritisierten sie sehr pointiert den Pomp und das Repräsentationsbedürfnis der Nationalsozialisten.

Das Erleben des Krieges mit allen seinen Folgen konnte Jugendliche zudem in den Widerstand führen. Einige erkannten früh die Lügen der nationalsozialistischen Propaganda, die den Kriegsverlauf beschönigten. An diesem verbrecherischen Krieg wollten sie nicht teilnehmen. Sie hörten heimlich die deutschsprachigen Sendungen der sogenannten Feindsender wie BBC London und informierten sich über die tatsächliche Kriegslage. Jugendliche wie der bereits zitierte Helmuth Hübener aus Hamburg oder Walter Klingenbeck aus München verteilten Streuzettel und Flugblätter mit den gehörten Nachrichten. Beide wurden festgenommen, zum Tod verurteilt und ermordet.

Während des Krieges wurden jüdische Jugendliche immer stärker verfolgt. Uschi Littmann, deren Familie aus Polen nach Berlin migriert war, war in den 1930er Jahren in einer oppositionellen jüdischen Jugendgruppe in Berlin aktiv. Mit knapp 17 Jahren flüchtete sie Ende 1938 nach Amsterdam. Im Exil gehörte sie nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande 1940 einem Widerstandskreis an, der Verfolgten half, gefälschte Papiere zu bekommen und untergetaucht zu überleben. Jüdische Jugendliche versuchten während des Holocaust immer wieder, durch Flucht oder Untertauchen Widerstand gegen ihre Deportation und Ermordung zu leisten. Auch jugendliche Sinti und Roma wehrten sich gegen den Völkermord an ihrer Minderheit. Otto Rosenberg beteiligte sich beispielsweise im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz an einer Widerstandsaktion von Sinti und Roma.

Bildungsangebote der Gedenkstätte Deutscher Widerstand: dialogisch, biografisch, menschenrechtsorientiert

In den Bildungsangeboten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand lernen die Besucher*innen diese Widerstandsgeschichten kennen. Die kostenfreien Angebote (Rundgänge, Seminare, Projektbegleitungen) für Jugendliche ab 14 Jahren orientieren sich stets am Vorwissen und an den Interessen der Teilnehmenden und sind dialogisch und partizipativ angelegt.

Dabei nehmen biografische Ansätze in der Bildungsarbeit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand einen besonderen Stellenwert ein. Dies gilt mit Blick auf die Ausstellungskonzeption ebenso wie für die Konzeption von Seminar- und Lernmaterialien. An ausgewählten Biografien von bekannten und wenig bekannten Widerstandskämpfer*innen lernen Jugendliche und Erwachsene verschiedene Wege in den Widerstand kennen. Sie beschäftigen sich mit der Frage, was Menschen bestärken konnte, Erwartungen des NS-Regimes nicht nachzukommen und Widerstand zu leisten. 

Multiperspektivisch geraten neben frühen, entschiedenen Regimegegner*innen auch Menschen in den Blick, die sich erst nach längerer Passivität, Zustimmung oder Unterstützung des NS-Regimes dem Widerstand zuwandten. In diesen konkreten Auseinandersetzungen erscheinen dann Menschen im Widerstand weniger als „entrückte Helden“, sondern vielmehr als konkrete Menschen in ihrer Entwicklung mit ihren Ambivalenzen, Stärken, Schwächen, Ängsten und Ressourcen, deren Handeln in vielerlei Hinsicht Anlass zur Diskussion gibt. 

Schließlich scheinen Bezüge zur Gegenwart an vielen Stellen der Arbeit mit Widerstands-Biografien auf: Was war Menschen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus wichtig? Was ist uns heute wichtig? Welche zentralen Unterschiede gibt es zwischen den Handlungsbedingungen in der nationalsozialistischen Diktatur und dem demokratischen Rechtsstaat heute? Wo sehen wir  gegenwärtige politische und gesellschaftliche Herausforderungen? Wie können Demokratie und eine Kultur der Menschenrechte heute und im konkreten Lebensumfeld gestärkt werden? Oder: Welche Bedeutung kann die Beschäftigung mit Menschen aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus für uns heute haben? Wie wollen wir an sie künftig erinnern? 

Biografische Lernmaterialien am historischen Ort und Online

In den Seminaren der Gedenkstätte Deutscher Widerstand werden vor Ort nach einem einführenden Ausstellungsrundgang unterschiedliche biografisch angelegte Lernmaterialien eingesetzt. Diese ermöglichen entdeckendes Lernen, das niveaudifferenziert besonders gut in Kleingruppenarbeit durchgeführt werden kann. Die Materialien enthalten Texte, Fotos und Dokumente, auch Zeitzeug*inneninterviews stehen zur Verfügung. In der Arbeit mit diesen biografischen Materialien können verschiedene Kompetenzen gefördert werden: neben der Sach-, Sozial- und Urteilskompetenz beispielsweise auch die Empathiefähigkeit und die narrative Kompetenz der Lernenden. Unterschiedliche Dimensionen historisch-politischen Lernens können angesprochen und vertieft werden: So können anhand von Biografien Aspekte der Ereignis- und Strukturgeschichte ebenso erörtert werden wie normative Dimensionen im Handeln von Menschen und deren Reflexion mit Blick auf die Entwicklung eigener Orientierungen. 

Auch Online stellt die Gedenkstätte Deutscher Widerstand biografisch orientierte Lernmaterialien zur Verfügung und erweitert diese ständig. Für Gruppen können auch Online-Seminare mit unterschiedlichen Schwerpunkten gebucht werden. 

Mehr zu den Bildungsangeboten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand für Jugendliche und Multiplikator*innen erfährt man unter https://www.gdw-berlin.de/angebote/bildungsangebote/.

Anfragen können auch an bildung [at] gdw-berlin [dot] de gerichtet werden.

Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Informationen zur politischen Bildung (Heft 330), 2/2016 (auch als Download erhältlich).

Lange, Sascha: Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung (Bd. 12405), Bonn 2015.

Müller-Botsch, Christine: Menschen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Möglichkeiten biografischer Annäherungen, Beilage zu den Informationen 85 – Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933 – 1945, 2017.

Online-Angebote auf der Webseite der Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit einem Schwerpunkt auf den Widerstand von Jugendlichen:

https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/themen/13-widerstand-von-jugendlichen/

Videorundgang: https://www.gdw-berlin.de/rundgang/

Lernmaterialien: https://www.gdw-berlin.de/angebote/bildungsangebote/lernmaterialien/sinti-u-roma/

Wanderausstellung: https://www.was-konnten-sie-tun.de/

 

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