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„Ich fühle mich wie Sophie Scholl“. Anmerkungen zu Geschichtsrevisionismus und Verschwörungsmythen in der Querdenken-Bewegung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Tom Uhlig ist politischer Referent und Mitherausgeber von "Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie" (Psychosozial Verlag, Gießen).

Von Tom Uhlig

„Ich bin Jana aus Kassel und ich fühle mich wie Sophie Scholl“, verkündete eine junge Rednerin im November 2020 bei einer Kundgebung der Querdenken-Demonstration in Hannover. Ein Videomitschnitt der Rede wurde in den Sozialen Medien viral, weil ein Ordner daraufhin lautstark den Dienst quittierte. Nach einiger Aufregung setzte Jana aus Kassel jedoch ein zweites Mal an – und auch diesmal verglich sie sich mit Sophie Scholl.

Die Relativierung des Nationalsozialismus und insbesondere der Shoah ist ein Grundsound, der Querdenken von Anfang an begleitet und ständig mitschwingt. Wenige Tage vor der Demonstration in Hannover verglich sich unter Aufsicht ihrer Mutter ein 11-jähriges Mädchen mit Anne Frank, da sie Schwierigkeiten gehabt habe, in Pandemiezeiten ihren Geburtstag zu feiern. Ken Jebsen, einer der einflussreichsten Verschwörungsideologen in Deutschland, verglich die Sicherheitsmaßnahmen der Bundesregierung gegen die Pandemie mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Auf zahlreichen Plakaten und Transparenten der Protestierenden werden ähnliche Vergleiche gezogen,. Man vergleicht den Virologen Christian Drosten mit Josef Mengele, Angela Merkel mit Hitler und sich selbst mit Stauffenberg. Bereits als die Proteste noch unter dem Namen Hygiene-Demos firmierten, wurden bei Teilnehmenden T-Shirts mit aufgedruckten „Judensternen“ gesichtet, auf denen „ungeimpft“ zu lesen war. Das Milieu inszeniert sich systematisch selbst anstelle der Opfer des Nationalsozialismus, während die völkische und antisemitische Ideologie innerhalb der Querdenken-Bewegung gedeiht. 

Der Geschichtsrevisionismus der Querdenken-Bewegung erfüllt mindestens zwei Funktionen: Zum einen dient der Vergleich zum Nationalsozialismus, bisweilen auch zur DDR, der Dämonisierung des politischen Gegners. Man wähnt sich in einer Diktatur, die sämtliche Widerstandsformen angemessen erscheinen lässt. Zum anderen wird durch die Identifizierung mit den Opfern des Nationalsozialismus versucht, Kritik an der eigenen völkischen Ideologie im Vorhinein zu entkräften. Wenn man den politischen Gegner*innen entgegenschleudert, Nazis zu sein, lenkt das von den Nazis in den eigenen Reihen ab. Das ist offenbar zumindest die Annahme, ganz geht die Rechnung nämlich nicht auf. Wie die MEMO-Studie IV (2021) gezeigt hat, ist der Geschichtsrevisionismus der Querdenker*innen keineswegs mehrheitsfähig. Lediglich rund 4% der Befragten halten einen Vergleich der gegenwärtigen sozialen Situation in der Corona-Pandemie mit der Zeit des Nationalsozialismus für legitim, noch einmal 6% antworteten mit „teils/teils“ (vgl. ebd., S. 27). 9 von 10 Personen lehnen diesen Vergleich also ab, was im Umkehrschluss allerdings nicht bedeutet, dass die Ideologie der Querdenker*innen keinerlei Schnittmenge mit der sogenannten Mehrheitsgesellschaft hat.

Weniger als die Hälfte der Befragten lehnt die Aussage ab, es gäbe „geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“, womit explizit keine Lobbygruppen gemeint waren. 22% glauben, „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ und noch einmal so viele sind sich dabei zumindest unsicher (vgl. ebd., f.). Auch in Bezug auf apologetische Argumentationsmuster sieht es ähnlich aus: Ein Viertel zeigt Verständnis dafür, wenn „die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus nichts von den Verbrechen des Nazi-Regimes wissen wollten“ und 20% sprechen die deutsche Bevölkerung von einer „Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus“ frei. Zusammenfassend lassen sich die Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass der Großteil der Bevölkerung nicht mit den Verharmlosungen der Querdenker einverstanden ist, eine beträchtliche Menge jedoch die darin enthaltene Apologetik und den Geschichtsrevisionismus teilt. Der größte Anknüpfungspunkt bildet der Glaube an Verschwörungsmythen. Dieser Befund überrascht nicht: Die Verschwörungsideologie ist insbesondere in Deutschland völkisch grundiert, da sich diese Art zu denken aber geschichtlich desavouiert hat, muss zunächst die Geschichte umgeschrieben werden.

Das Potenzial, breite Bevölkerungsteile miteinander zu verbinden, bildet sich innerhalb der Querdenken-Bewegung wie unterm Brennglas ab. Augenscheinlich sind die Protestierenden in sehr heterogenen politischen Richtungen verortet: Es finden sich hier Reichsbürger*innen, Neonazis vom Dritten Weg und der NPD, Anhänger des faschistischen „Höcke-Flügels“ der AfD, Querfrontler*innen, Esoteriker*innen, Naturheilpraktiker*innen, regressive Linke und das Milieu, das spätestens seit PEGIDA unter dem Label „besorgte Bürger“ bekannt ist. Die Masse steckt also voller Widersprüche und viele der Protestierenden distanzieren sich in Interviews wahlweise von rechten, linken oder esoterischen Strömungen innerhalb der Bewegung. Allerdings werden die politischen Differenzen nicht für gewichtig genug erachtet, um mit den jeweils anderen nicht mehr auf der Straße stehen zu wollen. Es gibt einen gemeinsamen Nenner, wenn der auch gar nicht so leicht auszumachen ist. Befragt man die Protestierenden, was es denn mit der Corona-Pandemie „in Wahrheit“ auf sich habe, bekommt man sehr unterschiedliche Erzählungen angeboten: Manche halten Corona für eine Erfindung der Medien, andere glauben, dass Corona nur so gefährlich wie eine Grippe sei, wieder andere halten Corona für gefährlich, einen möglichen Impfstoff jedoch für wesentlich gefährlicher, manche glauben, dass Georges Soros hinter Corona stecke, andere vermuten Bill Gates als Drahtzieher oder das „Merkel-Regime“, die „New World Order“, die Rothschilds, Rockefellers, „The Zionist Occupied Gouvernement“, die Bilderbergerkonferenz, die Illuminaten, die da oben oder einfach nur „ihr wisst schon wer“. Es ist nicht ungewöhnlich, dass in ein und derselben Rede ganz unterschiedliche vermeintliche Drahtzieher*innen benannt werden, und zu keinem Zeitpunkt verlangen die Zuhörer*innen zu wissen, wer denn jetzt eigentlich wirklich dahintersteckt. Es kann also nicht die inhaltliche Einhelligkeit sein, welche die Protestierenden zusammenhält.

Scheinbar widersprechen sich die aufgerufenen Bilder und Chiffren, jedoch geht es bei der verschwörungsideologischen Weltdeutung nicht um den jeweils konkreten Inhalt der Verschwörungserzählung. Der Inhalt ist vollkommen beliebig und austauschbar, er flottiert frei und haftet sich dem nächstbesten Objekt an, wobei sich Objekte besser zu eignen scheinen, die sich irgendwie mit Jüdinnen*Juden assoziieren lassen. Nicht der Inhalt, allein die Struktur der Erzählung ist wichtig und diese ändert sich nie: Eine geheime, finstere Clique lenkt im Verborgenen die Geschicke der Welt zum Schaden der Masse der Beherrschten. Ihre Macht ist grenzenlos, sie können jeden noch so kleinen Lebensbereich durchdringen. Die Verschwörungsideologie tendiert dazu, uferlos zu werden, nicht nur lediglich globale Großereignisse wie die Corona-Pandemie angeblich zu erklären, sondern bis in die winzigen Verästelungen des Alltags zu reichen. Für Menschen, die sich vollkommen dieser Denkform hingegeben haben, sind nicht nur Wirtschaft, Medien und Politik von Verschwörer*innen beherrscht, sondern auch das Wetter, das durch geheime Anlagen der USA in der Antarktis manipuliert werde, oder die Freundin, die einen verlassen hat, weil sie auf die feministische Agenda zur „Volkszersetzung“ Georges Soros‘ hereingefallen ist. Man selbst – das ist ein weiterer essentieller Bestandteil der Struktur – hat diese Herrschaft allerdings durchschaut. Gemeinsam mit den anderen Erleuchteten hat man verstanden, in wessen gierigen Händen die Fäden zusammenlaufen, man kennt die Namen und Gesichter dieser Leute, der Feind kann identifiziert werden. Darin unterscheidet man sich von den „Schafen“, die dumm in der Herde mitlaufen und die es deshalb „aufzuwecken“ gilt. Verschwörungsgläubige wollen häufig missionieren. Sie wähnen sich im Einklang mit den Interessen des „Volkes“, das auf den Betrug reingefallen ist, aber potenziell auf ihrer Seite steht. Das Gefühl, zur Avantgarde zu gehören, legitimiert schließlich Gewalthandlungen. Wer Verschwörungsideologien in ihre praktische Konsequenz überführt, nämlich die angeblichen Verschwörer angreift, beruft sich dabei zumeist auf die schweigende Masse, das „Volk“, das man hinter sich wähnt.

Dieses „Volk“ ist in der Ideologie der Querdenker immer bedroht, wobei durch die Identifikation mit dem „Volk“ die vermeintliche Bedrohungslage zu einer sehr persönlichen Angelegenheit wird. Wenn das „Volk“ angeblich „zersetzt“, „betrogen“ oder „ausgelöscht“ werden soll, dann meinen die Protestierenden auch immer sich selbst. Man wähnt sich eins mit der Gemeinschaft des „Volkes“ und muss es gegen Angriffe verteidigen. Als ein solcher Angriff wird etwa auch das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus erlebt. Prospektiv wehrt man ab, es dürfe kein Kollektivschuldvorwurf erhoben werden. Diesen Vorwurf hat es real nie in nennenswertem Maß gegeben, psychisch ist er aber präsent, da er durch das Agieren in der Gegenwart gerechtfertigt wird. Sich vor irgendeiner historischen Verantwortung zu drücken, bereitet den gemeinsamen Demonstrationszug mit Neonazis und Antisemit*innen vor. 

 

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