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Die Rolle des Statistischen Bundesamt bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Rosa Fava arbeitet als Leiterin von „ju:an“-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung.

Von Rosa Fava

Der „Multidimensionale Erinnerungsmonitor“ (MEMO) interessiert sich für Zusammenhänge zwischen den Motiven für eine Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und thematisiert deshalb auch einen Migrationshintergrund:[1] Bei der Nennung verschiedener soziologischer Kategorien zur Unterscheidung der Befragten heißt es, „24,6 % der Befragten geben an, einen Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamtes zu haben“ (MEMO 2021: 7). Auffällig ist die Formulierung: Die Nennung des Migrationshintergrundes nach Definition des Statistischen Bundesamtes wird als aktiver Akt der Befragten dargestellt, während andere „demografische Indikatoren“ wie Alter, Geschlecht, formaler Bildungsabschluss oder Wohnort als objektive Gegebenheiten behandelt werden. Eine solche spontane Selbstbeschreibung der Befragten erscheint unrealistisch, auch wenn viele eingewanderte Menschen oder Personen mit eingewanderten Eltern den „Migränegrund“ (Fatih Cevikkollu) zu einem „Migrationsvordergrund“ umpolen und wie bei einer Polizeikontrolle mit den Papieren der Personalausweisbehörde des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat oder analoger Instanzen in der Hand in die Vorwärtsverteidigung gehen. Andere fühlen sich vielleicht motiviert zu betonen, dass sie keinen „Nazihintergrund“ haben, wie eine kurze Zeit im Feuilleton als Gegenschlagwort diskutiert. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Verfasser*innen den vor allem im gegebenen Kontext auch unangenehmen Akt des Abfragens der Abstammung von sich abspalten und auf die Befragten projizieren. 

Wofür der Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamts ein Indikator sei, außer vielleicht für die berüchtigte Staatsnähe von Deutschen, wird nicht ausgeführt. Man erfährt auch nicht, wie die 24,6 % sich auf die anderen Kategorien verteilen: Sind sie in der Stichprobe in den Altersgruppen oder Wohnorten gemäß ihrer tatsächlichen Verteilung vertreten? Sind ihre Bildungsabschlüsse repräsentativ für die Verteilung von Bildungsabschlüssen unter den Menschen mit Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamtes in der Gesamtbevölkerung und ihrer Differenz zur Verteilung der Bildungsabschlüsse der Menschen ohne Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamtes? Wer unter den 24,6% ist selbst eingewandert, vor 2 oder vor 60 Jahren? Wer hat ein oder zwei eingewanderte Eltern und wahrscheinlich in Deutschland die Schule, eine der wichtigsten Enkulturationsinstanzen in die „Erinnerungskultur“, besucht? 

Die Herkunft der Vorfahren

Es gibt nur eine Bezugnahme darauf, welche Rolle der Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamtes mit Blick auf den Gegenstand der Studie spielt oder auch nicht: 

„Nicht untersucht wurde in den bisherigen Studien die Frage, inwiefern alle Befragten einen unmittelbaren familienbiographischen Bezugspunkt zur NS-Zeit haben. Angesichts komplexer Migrationsbiographien ist anzunehmen, dass nicht alle heute in Deutschland lebenden Menschen Vorfahren in der deutschen NS-Gesellschaft hatten. Von den 1.000 Befragten in der aktuellen Studie geben 16,4 % an, dass keine ihrer Vorfahren während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt haben.“ (Ebd.: 16)

In einer Anmerkung wird dazu ausgeführt:

„Dieser Anteil der Befragten ist nicht deckungsgleich mit dem Anteil der Teilnehmer:innen in der vorliegenden Studie, die einen Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamtes berichten (24,6 %). Diese Diskrepanz unterstreicht die Diversität familiärer Migrationsbiographien in der deutschen Gesellschaft. Dichotome Vergleiche der Antworten von Befragten mit und ohne Migrationshintergrund stellen eine starke Vereinfachung dar.“ (Ebd. Anm. 3)

Wenn auch kompliziert ausgedrückt, macht der Bericht deutlich, dass auch eine über das Statistische Bundesamt als mit Migrationshintergrund definierte Person „Vorfahren in der deutschen NS-Gesellschaft“ gehabt haben kann, was als deckungsgleich mit „unmittelbaren familienbiografischen Bezugspunkten“ zu gelten scheint. Dies unterstreicht, wie die Anmerkung es andeutet, dass der Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamts für die Kategorie „unmittelbare familienbiografische Bezugspunkte“, für die er wohl als Indikator dienen sollte, keine Aussagekraft besitzt. Wie viele der 16,4% ohne Vorfahren, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt haben, Vorfahren im besetzten Polen oder den bombardierten Städten Englands hatten, wurde nicht gefragt/angegeben. 

Ob eine solche Vergangenheit als „unmittelbarer familienbiografischer Bezugspunkt“ gelten könnte, ist nicht klar. Die Befragung lässt lediglich einen „Einfluss“ angeben: Auf die Frage, wie stark das Leben der Vorfahren „von der Zeit des Nationalsozialismus beeinflusst“ gewesen sei, auch wenn sie nicht in Deutschland gelebt hatten, antworten mit „sehr stark“ sogar 21,2%, jede*r Fünfte, mit „stark“ 15,2% und mit „teils/teils“ 15,4%. Insgesamt 51,8% der Bevölkerung ohne Vorfahren im nationalsozialistischen Deutschen Reich, gut die Hälfte, geben an, ihre Vorfahren seien vom Nationalsozialismus „beeinflusst“ gewesen. 

Was das bedeutet, ob ein Vorfahre zum italienischen Militärinternierten wurde, eine Vorfahrin in Tunesien für die deutschen Truppen Wäsche gewaschen hat oder die Vorfahrin aus den USA als Kind rechtzeitig in das Mandatsgebiet Palästina gebracht worden war, ein Vorfahre sich der Wehrmachts- und dann SS-Einheit „Legion Freies Indien“ anschloss, aus Argentinien kommt und selbst einen SS-Mann zum Vorfahren hat oder als französischer Kolonialsoldat aus dem Senegal mit oder gegen Deutschland kämpfte, gaben die Befragten nicht an. Vielleicht glauben einige auch nur, die Vorfahren seien vom Nationalsozialismus beeinflusst gewesen, genauso wie viele Befragte ohne Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamt Dinge über ihre Vorfahren angeben, die gar nicht wahr sein müssen. Vielleicht gibt auch jemand an, die deutschen Vorfahr*innen aus Danzig hätten nicht in Deutschland gelebt, weil das in Polen liegt.

Motive für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

So bleibt als einzige Erkenntnis der wenig überraschende Befund: „Die geringste Auseinandersetzung berichten diejenigen,[2]deren Vorfahren in der NS-Zeit nicht in Deutschland gelebt haben und deren Leben von der Zeit des Nationalsozialismus wenig oder gar nicht beeinflusst war.“ (Ebd.: 16) Beide Größen wurden jedoch abgefragt/angegeben und gehen nicht aus dem Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamts hervor.

Obwohl knapp 52% derjenigen ohne Vorfahren in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus das Leben dieser Vorfahren als mehr oder weniger stark vom Nationalsozialismus beeinflusst angeben, ist die einzige Beziehung,[3] die die Studie selbst zwischen nun wiederum insgesamt Menschen mit Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamts und dem Nationalsozialismus herausstellt, eine sehr indirekte:

„Während die Erfahrungen der eigenen Vorfahren während des Nationalsozialismus einen möglichen Zugangsweg zur Thematik darstellen, erscheinen auch die vielfältigen Migrationsbiographien ohne direkten NS-Bezug und gegenwärtige, eigene Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung als mögliche Motive, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.“ (Ebd.: 30f)

Die drei Größen „Erfahrungen von Vorfahren während des Nationalsozialismus“, „Migrationsbiografien ohne direkten NS-Bezug“ und „gegenwärtige, eigene Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung“ sind demnach gleichgeordnete und „mögliche“ Motive dafür, sich mit dem Nationalsozialismus zu befassen. Es ist, unterm Strich, alles auch etwas egal und über Zusammenhänge weiß man nichts. Vielleicht sind als vierter Punkt auch „vergangene Erfahrungen von Rassismus“ ein Motiv für die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Und wenn eine „Migrationsbiografie“ ohne direkten NS-Bezug motivierend wirkt, könnte fünftens eine mit direktem NS-Bezug dies ebenfalls tun. 

Vieles ist also möglich und ein Zusammenhang zwischen dem Statistischen Bundesamt und Motiven für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist vielleicht auch möglich.  


[1] Seit Jahren gibt es Empfehlungen dafür, je nach Gegenstand eine treffende Bezeichnung einzusetzen, zuletzt von der selbst begriffslosen Fachkommission Integrationsfähigkeit (https://www.fachkommission-integrationsfaehigkeit.de/fk-int/themen/migrationshintergrund), einige sind hier zusammengefasst: https://mediendienst-integration.de/artikel/alternativen-zum-migrationshintergrund.html (letzter Zugriff jeweils 20.08.2021)

[2] Die Formulierung kann so gelesen werden, dass alle diejenigen ohne Vorfahren in der NS-Zeit in Deutschland und ohne ihnen bekannten Einfluss des Nationalsozialismus auf das Leben dieser Vorfahren „berichten“, dass sie sich nicht oder wenig mit dem Nationalsozialismus befassen. Weil dies – jenseits der Stichprobe zumindest – nicht der Fall ist, müsste es heißen, dass es in dieser Gruppe ‚ohne Vorfahren und ohne Einfluss‘ die meisten Personen gibt, die sich wenig oder gar nicht mit dem Nationalsozialismus beschäftigen.

[3] Zwar wird auch gefragt, ob die Befragten Vorfahr*innen hatten, die Zwangsarbeit leisten mussten. Diese ist aber nicht als Zwangsarbeit von Ausländer*innen definiert, und es kann aber sein, dass auf die Frage „Mussten Vorfahren von Ihnen, die in der NS-Zeit verfolgt wurden, als Zwangsarbeiterinnen oder Zwangsarbeiter für das Regime arbeiten?“ auch Nachkomm*innen deutscher Juden*Jüdinnen oder als Kommunist*innen, „Asoziale“, „Kriminelle“ usw. Verfolgte mit „Ja“ geantwortet haben.

 

 

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