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Nachhaltigkeit historisieren. Geschichtsdidaktische Perspektiven auf Bildung für Nachhaltige Entwicklung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Nina Reusch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik der FU Berlin.

Von Nina Reusch

„Von einem Prinzip der Forstwirtschaft hat sich Nachhaltigkeit zu einem Leitbild für die Weltgemeinschaft des 21. Jahrhundert entwickelt.“ So schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf dem Online-Portal für Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE). Ein Leitbild für die Weltgemeinschaft, das sind große Worte. Doch tatsächlich, die Idee der Nachhaltigkeit begegnet uns überall: Die UN setzt mit den Sustainable Development Goals (Ziele für nachhaltige Entwicklung, SDG) auf nachhaltige Entwicklung im globalen Rahmen, „Green Economy“ soll nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen, Bürger*innen sind angehalten, einen nachhaltigen persönlichen Lebensstil zu pflegen, und in der Schule werden Jugendliche mit dem Konzept Bildung für nachhaltige Entwicklung darin gefördert, „verantwortungsvolle, nachhaltige Entscheidungen zu treffen“ (BNE-Portal). Nachhaltigkeit, so scheint es, könnte die Lösung sein, mit der unser Planet möglicherweise doch noch zu retten ist.

Als Historikerin und Geschichtsdidaktikerin möchte ich hier zwei Aspekte diskutieren: Zum einen reiße ich kurz die Ursprünge und die Geschichte der Nachhaltigkeitsidee an. Zum anderen frage ich, ob und wie sich das Konzept der Nachhaltigkeit sinnvoll in eine (umwelt-)historische Didaktik integrieren lässt. Ich stelle in diesem Beitrag die These auf, dass es für (umwelt)historische Lernprozesse unerlässlich ist, der Nachhaltigkeit ihre normative Dimension zu nehmen und sie durch eine historische Dimension zu ersetzen; Nachhaltigkeit also zu historisieren und damit zugleich zu ent-normativieren. 

Holznotdebatte, Forstwissenschaft und Kapitalismus – Nachhaltigkeit in der Umweltgeschichte

Im Bereich der Umweltgeschichte existiert bereits einige Forschung zur Idee der Nachhaltigkeit (vgl. für einen relativ aktuellen Forschungsüberblick Haumann 2019). Die Erforschung des Nachhaltigkeitsbegriffs wurde stark geprägt durch die sogenannten „Holznotdebatte“, die Umwelt- und Forsthistoriker*innen in den 1980er Jahren führten. In der Forstgeschichte herrschte lange Zeit weitgehender Konsens über die Annahme, an der Schwelle zur Moderne seien in Mitteleuropa so viele Wälder gerodet worden, dass Holz in krisenhaften Ausmaßen knapp geworden sei – davon zeugten die vielfach geäußerten Klagen über Holzverknappung in Quellen des 18. Jahrhunderts. Diese These wurde 1983 vom Umwelthistoriker Joachim Radkau herausgefordert: Radkau interpretiert die zeitgenössischen Klagen über Holzmangel nicht als Nachweis einer tatsächlichen Krise, sondern als Argumentationsstrategie, mit der Landesfürsten die eigenen ökonomischen und politischen Interessen im Forst durchzusetzen suchten. Zugleich sei die Klage über Holznot Wegbereiter und Argumentationsgrundlage für die forstwissenschaftliche Reform der Waldnutzung gewesen (Radkau 1983). Die im 18. Jahrhundert entstehende Forstwissenschaft beschäftigte sich nämlich intensiv mit Bewirtschaftungsformen des Waldes, die eine dauerhafte Holzproduktion sichern sollten. Und eben in diesem forstwissenschaftlichen Kontext entstand der Begriff der Nachhaltigkeit.

Die Entwicklung des Nachhaltigkeitsgedankens war eng verbunden mit der zunehmend kapitalistischen Nutzung natürlicher Ressourcen – und mit daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikten um die Waldnutzung. Solche Konflikte reichen mindestens bis ins Mittelalter zurück, veränderten sich allerdings in Form und Qualität im Laufe der frühen Neuzeit. Die Entwicklung einer kapitalistischen Ökonomie war – neben anderen Faktoren – angewiesen auf die Erschließung von Rohstoffquellen und diese fanden sich nicht allein in den Kolonien, sondern zum Beispiel auch in den mitteleuropäischen Wäldern. 

Die Wälder waren allerdings umkämpft: Für bäuerliche und unterbäuerliche Gruppen war der Forst gemeinschaftlich genutztes Land, auf dem sie traditionelle Nutzungsrechte genossen – zum Beispiel für Viehweidung, Holzschlag oder Sammlung von Laub, Holz und Waldgras. Diese Nutzungsrechte wurden seit dem späten 18. Jahrhundert durch staatliche Forst- und Agrarreformen massiv eingeschränkt; in Preußen etwa geschah dies vor allem im Zuge der Preußischen Reformen. Auch Privatisierungen von Wäldern durch den Verkauf staatlichen Lands gingen einher mit der vorherigen Ablösung der bäuerlichen Nutzungsrechte. Der Entwicklung des Kapitalismus kam dieses Vorgehen auch deshalb zugute, weil die Einhegung und Auflösung von Allmenden, also von gemeinschaftlich genutztem Land, ein Schritt zur Trennung der bäuerlichen Bevölkerung von ihren eigenen Produktionsmitteln war und sie auf lange Sicht in Lohnabhängigkeit brachte. Diesen Prozess benennt Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation (vgl. Marx 2008, S. 741-791). 

Die Vertreibung der bäuerlichen und unterbäuerlichen Bevölkerungsgruppen aus der Allmende Wald ging allerdings keinesfalls konfliktfrei vonstatten, sondern viele Bäuer*innen verteidigten ihre Gewohnheitsrechte vor Ort im Forst wie vor Gericht (vgl. Hölzl 2010). In diesem Konfliktfeld zwischen landesherrlicher bzw. staatlicher Obrigkeit, bäuerlicher Bevölkerung und sich konstituierender Forstwissenschaft stellte Nachhaltigkeit ein machtvolles Argument dar, die bäuerlichen und unterbäuerlichen Gruppen aus dem Forst herauszuhalten. Eine wichtige Argumentationsstrategie der Forstwissenschaft und staatlichen Forstverwaltung lautete, Bäuer*innen verursachten durch ihre Praktiken der Waldnutzung Schäden, die einer nachhaltigen Forstwirtschaft entgegenstünden (vgl. Hölzl 2010, S. 110-118). Nachhaltigkeit diente hier also als politische Strategie zur Sicherung politischer und ökonomischer Herrschaft. 

Gerade diese engen Bezüge zur Machtpolitik sind es nach Radkau, die das Konzept der Nachhaltigkeit so interessant für umwelthistorische Forschungen machten. Um eine analytische Position einnehmen zu können, sei es aber wichtig, Umweltgeschichte nicht moralisierend als Kampf zwischen gut (Naturschutz) und böse (Naturzerstörung) zu schreiben, sondern vielmehr danach zu fragen, von wem und mit welchen Methoden Nachhaltigkeit definiert und kontrolliert werde (Radkau 2008, S. 135).

Bildung für Nachhaltige Entwicklung – ein Konzept für (umwelt)historisches Lernen?

Auch in geschichtsdidaktischen Überlegungen ist es mindestens seit den 2000er Jahren Konsens, dass Umweltgeschichte nicht dazu genutzt werden solle, moralisierende gut-böse-Szenarien zu produzieren, sondern dazu, Schüler*innen für das historisch veränderliche Wechselverhältnis von Menschen und Umwelt zu sensibilisieren und den Blick für die Historizität scheinbar „natürlicher“ Phänomene zu weiten (vgl. Grewe 2014).

Dies gilt auch für den Begriff der Nachhaltigkeit, der, wie ich gezeigt habe, thematisch viele Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen im Verhältnis von Mensch und Umwelt eröffnet. Doch ein Blick in die Bildungslandschaft zeigt: Stattdessen wird Nachhaltigkeit in vielen bildungspolitischen Kontexten höchst unhistorisch verwendet. Statt kritischer Reflexion des Konzepts finden wir hier eine normative Setzung, die Nachhaltigkeit als Wert an sich begreift und als kaum hinterfragten Leitbegriff für die Bildungsarbeit setzt.

Dies ist vor allem im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung zu beobachten, die in Deutschland unter anderem über das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in den Bildungsbereich implementiert wird. Zur konkreten Ausgestaltung der BNE existieren in Deutschland zwei Handreichungen bzw. Kompetenzmodelle: die „Orientierungshilfe Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Sekundarstufe I“ (herausgegeben vom BMBF) sowie der „Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (herausgegeben vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Kultusministerkonferenz (KMK)). 

Die Implementierung von Nachhaltigkeit und Globalisierung in die schulische Bildung geschieht in beiden Handreichungen auf individueller und struktureller Ebene. Nachhaltige Bildung umfasst hier zum einen die Analyse und kritische Reflexion (globaler) gesellschaftlicher Verhältnisse. Zum anderen beinhaltet sie die Reflexion der eigenen Position in diesen Verhältnissen und darauf aufbauend die Entwicklung von Handlungsstrategien, mit denen nachhaltige Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt und unterstützt werden sollen. Die Reflexion der eigenen Perspektivität, die Idee demokratischer Partizipation und auch der Gedanke der Solidarität spielen hierbei eine wichtige Rolle. 

In beiden Kompetenzmodellen werden im Detail gute Grundlagen für eine Bildungsarbeit gelegt, die Schüler*innen befähigt, selbstreflexiv und kritisch gesellschaftliche Verhältnisse zu analysieren und an demokratischen Prozessen teil zu haben – wenn auch einzeln kritisch angemerkt werden kann, dass etwa in der „Orientierungshilfe BNE“ der Bereich der individuellen Handlungskompetenzen sich zu großen Teilen auf Konsumkritik beschränkt (vgl. Orientierungshilfe BNE 2007: 20-21). Doch betrifft meine Kritik nicht die Kompetenzen, Inhalte und Lernszenarien im Einzelnen, sondern vielmehr die prinzipielle Ausrichtung der Bildung für Nachhaltige Entwicklung sowie der Implementierung des Nachhaltigkeitsbegriffs in Bildungskontexten.

Für eine Historisierung und Ent-Normativierung von Nachhaltigkeit

Die vorgestellten Modelle eröffnen zwar die Möglichkeit der Kritik an der ökonomischen Ausbeutung des globalen Südens oder an der weltweiten Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Doch das Leitbild der Nachhaltigkeit, unter dem dies alles steht, bleibt eine unreflektierte normative Setzung. Auch den Begriff des Kapitalismus muss man in beiden Handreichungen mit der Lupe suchen – dies fällt vor allem (aber nicht allein) bei der Lektüre des Kapitels zur ökonomischen Bildung im „Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung“ auf (vgl. Orientierungsrahmen 2010: 285-299). 

Wenn aber Nachhaltigkeit, wie ich gezeigt habe, in der Moderne ein relevanter Part der kapitalistischen Entwicklung war und ein Konzept ist, mit dem Herrschaftspolitik betrieben wurde und wird, dann ist es durchaus problematisch, dass Schüler*innen heutzutage auf Grundlage ebendieses Konzepts gesellschaftspolitische und ökologische Kritik üben sollen. Eine solche Gesellschaftskritik muss zwangsläufig verkürzt bleiben und kann dem eigenen Anspruch der Bildung für nachhaltige Entwicklung (wie auch von Bildungsprozessen allgemein), Schüler*innen mündige Teilhabe in gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen, nicht gerecht werden. 

Nachhaltigkeit ist heutzutage nicht nur ein Modewort, sondern bildet im Kontext der Sustainable Development Goals (https://sdgs.un.org/goals) eine wichtige Grundlage für Ziele und Maßstäbe von globalem Regierungshandeln. Die Idee der Nachhaltigkeit leitet und legitimiert politische Entscheidungen in den verschiedensten Bereichen – Umwelt, soziale Ungleichheit, Entwicklung, Gesundheit, Energie etc. Zugleich fungiert Nachhaltigkeit als Schlüsselbegriff und Legitimation eines globalen und neoliberalen Kapitalismus (eine kritische Perspektive auf die SDG findet sich z.B. bei Weber 2017).

Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, Schüler*innen zu befähigen, nicht nur ihre persönlichen Konsumentscheidungen, sondern das Nachhaltigkeitsdenken selbst kritisch zu reflektieren. Dazu ist es notwendig, Nachhaltigkeit zu historisieren, in den Kontext der kapitalistischen Entwicklung zu stellen und deutlich zu machen: Nachhaltigkeit oder nachhaltige Entwicklung sind der kapitalistischen Ökonomie inhärent und können daher nicht die strukturellen Ausbeutungsverhältnisse und Umweltschäden lösen, die aus einer kapitalistischen Ökonomie resultieren. 

Mir geht es keinesfalls darum, ein weiteres Thema zu benennen, das unbedingt in den Geschichtsunterricht eingebaut werden müsse. Sondern ich möchte deutlich machen, dass sich die Art, wie wir in (historischen) Bildungskontexten mit Nachhaltigkeit umgehen, ändern muss: hin zu einem historisierenden anstatt normativen Umgang. Auf diese Weise ist es schließlich auch möglich, den Begriff bewusst und historisch zu nutzen. In seiner normativen Setzung jedoch können wir ihn getrost aus der historisch-politischen Bildung wie der Umweltbildung verabschieden.

Literatur

Grewe, Bern-Stefan (2015): Umweltgeschichte unterrichten. für eine kritische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Denkmustern. In: Dietmar von Reeken, Indre Döpke und Britta Wehen-Behrens (Hg.): Umweltgeschichte lehren und lernen. Keine Katastrophe! Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag (Geschichte unterrichten), S.83–100.

Haumann, Sebastian (2019): Zwischen „Nachhaltigkeit“ und „Anthropozän“. Neue Tendenzen in der Umweltgeschichte. In:Neue Politische Literatur 64 (2), S. 295–326.

Hölzl, Richard (2010): Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760 - 1860. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 2008. Frankfurt am Main: Campus-Verl. (Campus historische Studien, 51).

Marx, Karl (2008): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. 23. Aufl. Berlin: Karl Dietz Verlag.

Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung: Ergebnis des gemeinsamen Projekts der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (2016). 2. Aufl. Bonn: Warlich Druck.

Programm Transfer-21 (2007): Orientierungshilfe Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Sekundarstufe I. Begründungen, Kompetenzen, Lernangebote. Berlin. Online verfügbar unter http://www.transfer-21.de/daten/materialien/Orientierungshilfe/Orientier....

Radkau, Joachim (1983): Holzverknappung und Krisenbewusstsein im 18. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 9 (4), S. 513–543.

Radkau, Joachim (2008): "Nachhaltigkeit" als Wort der Macht. Reflexionen zum methodischen Wert eines umweltpolitischen Schlüsselbegriffs. In: Francois Duceppe-Lamarre und Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. Oldenbourg: Wissenschaftsverlag GmbH (Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris, 2).

Weber, Heloise (2017): Politics of „Leaving No One Behind“. Contesting the 2030 Sustainable Development Goals Agenda. In: Globalizations 14 (3), S. 399–414.

Internetquellen

BNE-Portal des BMBF, letzter Aufruf 07.04.2021 https://www.bne-portal.de/de/was-ist-bne-1713.html.

Sustainable Development Goals der UN, letzter Aufruf 07.04.2021 https://sdgs.un.org/goals.

 

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