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Betroffenheit reicht nicht – Die Arbeit der Initiative KZ Gedenken in Spaichingen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Regina Braungart hat Politikwissenschaften, Islamkunde und Judaistik (M.A.) studiert. Sie leitet seit dem Jahr 2000 die Lokalredaktion der Schwäbischen Zeitung in Spaichingen und ist seit 2012 Dozentin an einer Hochschule für Journalistik.

Von Regina Braungart

Die Geschichte des Gedenkens und der Aufarbeitung der Geschehnisse um das und im Konzentrationslager in Spaichingen ist auch ein Spiegel der Selbstsicht, Befindlichkeit und des Nutzens für diejenigen, die sich damit beschäftigten – oder auch nicht damit beschäftigten. Das ist vielleicht der Grund, warum es rund 70 Jahre gedauert hat, bis sich die Erinnerung und Erforschung der Vorgänge um das KZ eine organisierte Struktur gegeben haben.  

Zwischen September 1944 und April 1945 wurde in der kleinen Stadt Spaichingen ein Außenlager des KZ Natzweiler eingerichtet. Davon gab es nach Auflösung des Stammlagers im Elsass 70 östlich des Rheins.

Gut 500 Männer waren in dieser Zeit in Spaichingen inhaftiert. Verschiedene „Transporte“ brachten Häftlinge vor allem aus Dachau. Anfang März aber gab es den größten Transport mit 250 Häftlingen aus Buchenwald. Dorthin waren auch die Gefangenen der Ghettos, aus Auschwitz, Groß Rosen und anderen evakuierten KZ gebracht worden. Fast alle der zuvor in Spaichingen Inhaftierten waren nichtjüdische Mitglieder des Widerstands, Verschleppte oder Zwangsarbeiter, die von der Gestapo wegen verschiedener „Delikte“ eingekerkert und zur Sklavenarbeit gezwungen worden waren.  

KZ dient dem „totalen Krieg“

Die Natzweiler-Außenlager des Wüste-Komplexes auf der Schwäbischen Alb zur Gewinnung von Öl aus Ölschiefer – ein irrsinniges Vorhaben –, wurden ab 1943, vor allem aber 1944 eingerichtet. Das Lager Spaichingen sollte Arbeitssklaven für die Entwicklung und Produktion von Flugzeug-Außenbordkanonen bereitstellen. Kurz vor Kriegsende dienten sie dem Hauptziel der Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reichs: dem „totalen Krieg“. 

Für Spaichingen war das KZ ein Fremdkörper. Zwar war schon lange zu spüren, dass die heimischen Möbel- und Metallbetriebe Kriegszielen unterworfen wurden. Es gab eine gleichgeschaltete Verwaltungs- und Gesellschaftsstruktur – andere Einflusselemente, wie die Kirche, waren eingeschüchtert. Zahlreiche Männer und Frauen waren eingebunden in die NS-Organisationen, wenn auch oft nur als Mitglieder. Offener Widerstand von Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen war ganz am Anfang des „Dritten Reichs“ durch Internierung im KZ Heuberg gebrochen worden. Und auch die zentrumsnahe Presse war 1935 unter erstaunlich offenem Protest des Redakteurs eingestellt worden. Generell war Spaichingen katholisch geprägt und ganz sicher kein Hort des Nationalsozialismus. Aber man arrangierte sich und nutzte Gelegenheiten. Jüdische Spaichinger*innen gab es nicht. Die ganze Brutalität des Regimes erlebten die Spaichinger*innen in ihren Augen durch erschwerte Lebensbedingungen und vor allem zahlreiche gefallene Männer, Brüder, Söhne. 

Und dann kamen auf einmal Männer aus dem „Arbeitserziehungslager“ Aistaig und begannen mit den Vorbereitungen für ein Lager, das mitten in Gärten und Krautbeeten errichtet werden sollte. Zu dieser Zeit hatten sich die Spaichinger*innen bereits daran gewöhnt, dass Kriegsgefangene oder vermeintlich freiwillig arbeitende Ausländer*innen überall vom kleinen Bauernhof bis zum Industriebetrieb Zwangsarbeit leisteten. Das wurde nicht offen hinterfragt. 

Misshandlungen und Tötungen 

Was dann aber nach Spaichingen kam, war etwas ganz anderes. Kontakt hatten die Häftlinge nur mit Handwerkern beim Bau der beiden Baracken und des Steingebäudes, beim Brotbacken für das KZ in einer Bäckerei, in der Gasthausküche, in der auch das Essen für die Insassen und die Mannschaft gekocht wurde, sowie in den verschiedenen Rüstungs-Werkstätten. Der Kontakt beziehungsweise offene Gespräche zwischen der Bevölkerung und den Häftlingen war verboten. An der Haupteinsatzstelle, der Baustelle für eine Rüstungsproduktionshalle im Gebiet „Lehmgrube“, wurden die Häftlinge nicht nur mit schwerer Arbeit bei Eiseskälte gequält, sondern auch misshandelt und hier gab es auch fast keine zufälligen Kontakte. 

Das Verhältnis der Bevölkerung zum KZ muss aus einer Mischung aus Zwangsverpflichtung und Arrangement bestanden haben und hatte auch profitable Seiten. Immerhin waren viele Wachleute der SS, vor allem aber die Ingenieure und Kaufleute der „Metallwerke“, so lautete der Deckname für den neu gegründeten Rüstungsbetrieb, lebten bei Spaichinger*innen und gaben gutes Geld aus. Ganz sicher hat man dieses Unterfangen auch als wirtschaftliche Chance gesehen und davon profitiert. Es wird sogar von Liebschaften mit Wachmännern berichtet.

Brutalität ändert Einstellung

Diese eher indifferente Haltung änderte sich offenbar mit der steigenden Brutalität der Wachleute. Denn unsichtbar war das KZ von Anfang an nicht: Die ausgemergelten Häftlinge mussten sich in einer Kolonne zur Baustelle durch die halbe Stadt schleppen, später aber wurden halb oder ganz Tote mit Schubkarren zurückgebracht. Die durch Misshandlungen, Auszehrung und Krankheiten Gestorbenen wurden gut sichtbar bis zum Abtransport ins Tuttlinger Krematorium neben der Baracke abgelegt. Das große Sterben begann 1945. Die Schreie von in der Weihnachtszeit zu Tode gefolterten Häftlingen waren überall zu hören, wie Heiner Geißler in einem Interview bezeugte. Er lebte zu jener Zeit als Jugendlicher in Spaichingen. 

Insgesamt starben 110 namentlich bekannte Häftlinge, die meisten auf Transporten zu oder in Spaichingen. Neun davon sind auf dem Todesmarsch ins Allgäu umgekommen. Die Erforschung der einzelnen Schicksale aller Häftlinge ist noch nicht abgeschlossen. 

Sichtbare Zeichen des Erinnerns

Das Bedürfnis, auf das Leiden hinzuweisen, das in dieser Stadt geschehen war, war da, auch wenn genaue Fakten fehlten. Aber nach außen sichtbar – das war eine ganz andere Sache. Und so wurde gleich nach dem Krieg 1946 ein Holzkreuz zum Gedenken auf Geheiß der französischen Sieger erstellt. Deren Namen wurden auf zwei flankierenden Steinen angebracht. 1963 beauftragte die Stadt ein Kunstwerks des Tuttlinger Künstlers Roland Martin „den Opfern der Gewalt“. Jetzt gestaltete die Stadt einen Gedenkplatz und ließ Platten mit den Namen der 30 Toten des Massengrabs in den Boden ein. An Allerheiligen und am Volkstrauertag wurde das „KZ-Ehrenmal“, wie es jetzt hieß, besucht und eine ökumenische Initiative thematisierte das Spaichinger KZ ab den 90er Jahren immer auch am Gedenktag zur Reichspogromnacht. 1994 erstellten ein Spaichinger Firmenchef und der Redakteur des Heuberger Boten die erste Ausstellung zum KZ. Seit den 80er-Jahren erschienen einige Zeitungsartikel und der Redakteur des Heuberger Boten schreib den viel zitierten Beitrag in der Spaichinger Stadtchronik. 

Einige, auch einige Zeitzeugen, nahmen die Verantwortung des Erinnerns und Mahnens sehr ernst, (ehemalige) Stadträte oder Lehrer zum Beispiel, in Kunstprojekten und Stadtführungen, oder auch mit dem Vorantreiben von sichtbaren Erinnerungszeichen. Es waren im Grunde aber immer nur rund ein Dutzend Menschen, die das öffentliche Erinnern aufrechterhalten wollten. 2006 wurden Gedenkplatten am Spaichinger Marktplatz eingelassen und sollten die Grenzen des ehemaligen KZ markieren. Sie liegen deutlich verschoben, weil es keine ausreichende Grundlagenarbeit gab. Überhöhte Todeszahlen hatte der Redakteur wohl hochgerechnet. 

Die wirkliche Bestialität ist woanders 

Denn es herrschte die Wahrnehmung: Die wirkliche Bestialität des Regimes war woanders. Auschwitz, Dachau vielleicht, aber nicht Spaichingen. Das Bielefelder Forscherteam um Andreas Zick hat 2018 herausgefunden, dass rund 18 Prozent der über 1.000 zufällig Befragten glaubte, ihre Vorfahren hätten im Nationalsozialismus potenziellen Opfern wie Juden geholfen. Tatsächlich waren es maximal 0,3 Prozent. So war auch die Zivilcourage einiger mutiger Spaichinger*innen lange Zeit nach dem Krieg die dominierende Selbstwahrnehmung: Diese hatten versucht, Häftlingen Lebensmittel zuzustecken, obwohl das streng verboten war und die Folgen unabsehbar. Deshalb wurden oft auch Kinder vorgeschickt. Für die Häftlinge war das Entdeckt werden im schlimmsten Fall aber tödlich. 

Diese Barmherzigkeit gab es tatsächlich. Gleich mehrere ehemalige Häftlinge, die ihr Zeugnis bei der Shoah Foundation auf Video gebannt haben, betonen diese Versuche der Hilfe zum Überleben für die oft sehr jungen Männer. 

Das ist es, was sehr viele Spaichinger*innen nach dem Krieg umtrieb: keine kühlen Blicke in Strukturen oder Fakten, sondern das Mitleid, die Trauer. 

Das war sicher auch der Grund, warum so spät begonnen wurde, wissenschaftlich zu forschen. Es schien, als ob schon alles offenbart sei. Die vielen Opferlisten, die kursierten, galten als gesicherte Faktenlage. Dabei, wie sich später beim akribischen Vergleich herausstellte, bezogen sie sich aufeinander und stammen bis auf wenige Ausnahmen aus ein- und derselben Quelle. 

Gedenkarbeit professionalisiert sich – nicht ohne Widerstand 

2017 gründeten die Aktiven um das Ärzteehepaar Ingrid und Albrecht Dapp den Verein KZ-Gedenken in Spaichingen. Der wurde sofort ein Teil des Verbundes der Außenlager des ehemaligen KZ Natzweiler. Die Gedenkstättenarbeit begann, sich im besten Sinne zu professionalisieren. 

Ein Kapitel war mangels Forschung zuvor aber noch gar nicht berührt: „Spaichingen war doch Teil des Holocaust“. So lautete der Titel des Zeitungs-Artikels der jetzt aktiven Redakteurin von Januar 2018. Dieser belegt erstmals, dass der März-Transport zahlreiche Juden ins KZ nach Spaichingen brachte. Die genaue Anzahl war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. 

Ein Zitat nun aus der Replik im Blog des früheren Redakteurs, der den Holocaust fälschlich offenbar ausschließlich in Vernichtungslagern verortet: „Als KZ-Außenlager für die Mauserwerke Oberndorf (…) war in Spaichingen kein Vernichtungslager eingerichtet. Wer so etwas in die Welt setzt, hat von Geschichte keine Ahnung, verunglimpft aber Spaichingen in einer Art und Weise, die der Stadt enorm schaden kann: Fakes. (….) Ist es nicht an der Zeit, dass sich die Stadt, Gemeinderat und Verwaltung, selbst an ihre Hoheit erinnern, auch was die Geschichte betrifft und diese nicht Vereinsmeiern für eventuell irgendwelche ideologischen Spielchen überlässt? Wird jetzt jeder Spaichinger automatisch zum Holocaustleugner und macht sich dadurch strafbar, wenn er verworren wirkenden geistigen Klimmzügen einer Redakteurin nicht folgen kann und will?“ (NBZ, Abruf 28.1.2018, heute nicht mehr abrufbar) 

Fast gleichzeitig zur Vereinsgründung hatte der damals noch amtierende Spaichinger Bürgermeister beschlossen, einen Gedenkpfad am Ehrenmal legen zu lassen. Inwieweit das mit dem Rückgewinnen der „Hoheit“ zu tun hat, wie sie eben jener einst so verdienstvolle Redakteur gefordert hat, kann nur spekuliert werden. 

Dieser kurze Einblick zeigt, wie schwer sich manchmal selbst jene mit der Wahrheit tun, die sich als Aufklärer sehen. Bisher war in der Wahrnehmung in Spaichingen: Alles war zwar schlimm, aber nicht so monströs wie der Holocaust und das System dahinter. Fakt ist: Von 250 Häftlingen des Märztransports waren, wie inzwischen einzeln belegt ist, mindestens 178 vor allem polnische Juden. Die Transportliste hatten den Männern nur noch Nachnamen, abgekürzte Vornamen und Nummern gelassen. Aber der Verein hat inzwischen die meisten Identitäten entschlüsselt. 

Die Offenheit wächst 

Die Vernetzungsarbeit mit anderen Gedenkstätten, Veranstaltungen, Vorträge, Filme, Zeitzeugeninterviews, Publikationen, Reisen zum Stammlager, Ausstellungen, Gedenkfeiern und mehr treibt der sehr aktive Verein voran. Es geht ums Gedenken und die Trauer, um Verantwortung und Sichtbarmachung, und auch ums Aufholen des Versäumten. Es war in den 80er- und 90er-Jahren eben nicht alles gesagt worden, nachdem über Jahrzehnte die Stadt versucht hatte, die Wunde von Scham, Mitleid und Trauer zu verdecken, um ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Seit den 2000ern ist die Offenheit der Bevölkerung Spaichingens gewachsen, sich allen Fakten des Geschehens zu stellen. Lokale und überregionale Erfahrungen mit Populismus und neurechten Tendenzen mögen hier als Triebmittel gewirkt haben. 

Ein Baustein, sich dem Thema „KZ vor der Haustür“ pädagogisch zu widmen, stammt von der Berufsschullehrerin Nadine Hermann. Die entsprechenden Unterrichtseinheiten sind auf dem Landesbildungsserver samt den bereitgestellten Materialien frei abrufbar. 

Alle, die sich in Spaichingen kompetent und aktiv dem Thema widmen – von der Leiterin des Spaichinger Museums, die die informativen Tafeln des Gedenkpfads erstellt hat bis zu den künstlerisch und pädagogisch Wirkenden – kooperieren in dem Bestreben, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen – der Verantwortung wegen und nicht wegen der „Hoheit über die Geschichte“. Genau dasselbe gilt für die vorbildliche Kooperation der Gedenkstätten untereinander. 

Das Tragische der heutigen Gedenkstätten- und Forschungsarbeit ist, dass jetzt die meisten Zeitzeugen nicht mehr leben. Das Positive ist: Dank des Vereins und der mit ihm verbundenen Forschung können nun mehr und mehr Antworten nicht nur zu den Umständen gegeben werden: Die ersten Angehörigen von ausgewanderten Überlebenden haben sich bereits beim Verein gemeldet und Antworten bekommen. 

Homepage: kz-gedenken-spaichingen.de

 

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