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Dokufiktionen als Zweites Leben in Gedenkstätten

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Gabriele Valeska Wilczek ist seit 2017 an der Gedenk- und Bildungsstätte für die Geschichte der Juden am Oberrhein (Blaues Haus Breisach) für den Bereich Bildung und Vermittlung verantwortlich. Die Kulturwissenschaftlerin beteiligt sich aktuell mit dem Team des Blauen Hauses am Projekt der Gedenkstätte „Breisach/ Oświęcim: Spurensuche und Multiplikator*innentraining zum Internierungslager Gurs in Südfrankreich. In dessen Mittelpunkt steht die Erkundung der Schicksale von Breisacher Jüdinnen*Juden, die im Oktober 1940 nach Südfrankreich und ab August 1942 von dort über Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert worden sind.

Von Gabriele Valeska Wilczek

Im September 2019 konnte die Stadt Breisach auf das 1650. Jahr ihres Bestehens zurückblicken und hat dieses u.a. mit einem großen Festwochenende gefeiert. Der Beitrag der Gedenkstätte zur Geschichte der Juden am Oberrhein (das Blaue Haus) zu diesem Ereignis war die Konzeption und Einrichtung einer ersten Dauerausstellung mit dem Titel „Jüdisches Leben in Breisach 1931“. Zur Eröffnung waren Nachkommen der jüdischen Familien Breisachs aus Großbritannien und den USA angereist. Sie besuchten als Erste gemeinsam mit Schulklassen der Hugo-Höfler-Realschule Breisach, mit der die Gedenkstätte eine enge Kooperation unterhält, die Ausstellung.

Der historische Ort

Die Ausstellungsräume befinden sich im Obergeschoss des ehemaligen jüdischen Gemeindehauses, in dem 700 Jahre Breisacher Geschichte ablesbar sind. Das Gebäude wurde im 17. Jahrhundert an die alte Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert angebaut. 140 Jahre lang war es ein von Christen betriebenes Gasthaus im jüdischen Viertel Breisachs. Im Jahr 1829 erwarb die jüdische Gemeinde das Haus, um eine Schule für ihre Kinder einzurichten. Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden*Jüdinnen wurde es als Gemeindehaus genutzt. Die Kantoren mit ihren Familien lebten hier, nachdem das Bezirksrabbinat 1885 nach Freiburg verlegt worden war. Der letzte Kantor war Michael Eisemann, der 1923 mit seiner Frau Clara und den zwei Söhnen Rolf und Ludwig aus Buchen im Odenwald nach Breisach zog. Die Familienmitglieder sind die Hauptprotagonist*innen der Ausstellung.

In „Jüdisches Leben in Breisach 1931“ gibt es mehr zu Hören als zu Sehen, das bietet eine Chance für Imagination und Forscherdrang. Erst mit dieser Ausstellung können Besucher*innen das Haus und seine Bedeutung eigenständig erschließen. In jedem Ausstellungsraum, der Küche, dem Herrenzimmer, dem Kinderzimmer und dem Gemeindezimmer laden Hörstationen dazu ein, etwas über den Alltag im Hause von Familie Eisemann und vom Leben der jüdischen Gemeinde zu erfahren. Es ist das Jahr 1931, eine Zeit relativ guter Nachbarschaft zwischen Christ*innen und Juden*Jüdinnen, im Jahreslauf die Zeit kurz vor dem Pessachfest. Die Gestaltung des Gemeindezimmers führt die Besucher*innen in das Jahr 1939, als die Restgemeinde hier einen Betraum zum heimlichen Abhalten ihrer Gottesdienste einrichtete. 

In den eineinhalb- bis dreieinhalbminütigen Hörspielen kann man beispielsweise in der Küche Clara Eisemann und der christlichen Haushälterin Franziska zuhören, wie sie sich über die Vorbereitungen zum Pessachfest unterhalten, welche Rezepte sie verwenden und wo und bei wem man am besten die Zutaten dafür einkauft. Dabei ist auch Tratsch aus der Judengasse. Im Herrenzimmer wird nachvollziehbar, wie der Kantor an einer Trauerrede arbeitet und mit den Formulierungen ringt und wie die Hausherrin bei gedecktem Schabbattisch auf die Rückkehr ihres Mannes Michael mit den Söhnen Rolf und Ludwig vom Synagogengottesdienst wartet. Die Brüder kommen im Kinderzimmer zu Wort, erzählen sich von einem Geheimnis aus der Schule und über Freizeitaktivitäten. Das Gemeindeleben wird durch die Gespräche des Synagogenvorstehers mit dem Kantor lebendig, im Gemeindezimmer erhalten die Jungen und Mädchen ihren Hebräischunterricht und werden auf ihre Bar-Mizwa und Bat-Mizwa vorbereitet. 

Die kleinen Hörspiele nach wahren Begebenheiten sind dialogisch aufgebaut und mit passenden Geräuschkulissen hinterlegt. Jeder Beitrag beruht auf historischer Recherche, auf Archivmaterial des Blauen Hauses, auf Interviewaufnahmen[1] der Gedenkstätte mit Zeitzeugen, insbesondere mit Ralph Eisemann, dem jüngsten Sohn des Kantors Michael Eisemann. Er erzählte 1999 den Mitgliedern des Fördervereins im noch unrenovierten Haus von seiner Kindheit. Der bedeutendste Zeitzeuge war Hans David Blum, der in der Nachbarschaft des Gemeindehauses aufgewachsen war und mit seinem Buch „Juden in Breisach“ (Blum 1998) zum Chronisten der jüdischen Gemeinde der Stadt wurde. 

Ein weiterer Raum mit dem Thema „Nach der Shoah“ wird im Frühjahr 2021 eröffnet. In ihm werden die Lebenswege der Familienmitglieder Eisemann nach 1939 erzählt. Eine Schausammlung mit Objekten, die dem Blauen Haus von Holocaustüberlebenden und ihren Familien anvertraut wurden, ist dafür in Vorbereitung. 

Lebenszeugnisse zum Ende der Zeitzeugenschaft

Was ist Dokumentation, was Fiktion an den Hörspielen? Sie orientieren sich so eng wie möglich an dem, was wir direkt von den Zeitzeugen erfahren haben und erzählen in dem gewählten Setting, Breisach kurz vor dem Pessachfest 1931, die kolportierten, schriftlich oder durch Videoaufnahmen dokumentierten Erzählungen. Die Zeitzeugen selbst und ihre Angehörigen, von denen wir erfuhren, werden für die Besucher*innen des Hauses erlebbar, ja, sie erhalten gewissermaßen ein zweites Leben. Sie und die jüdische Gemeinde werden auf diese Weise erinnert. Ihre Geschichten regen zu einer intensiven Auseinandersetzung an, welche die Besucher*innen ganz direkt aus dem eigenen in den Alltag der Kantorenfamilie abholt. Junge Besucher*innen haben uns gefragt, ist das die Stimme von Kantor Eisemann, spricht er selber? Solche Wahrnehmungen gehören in die Kategorie der medialen Rezeption, wie sie auch andere Medien kennen. Ich erinnere Besucher*innen des nahen Glottertals, die nicht glauben wollten, dass am Drehort der Fernsehserie „Schwarzwaldklinik“ der Klinikchef Professor Brinkmann keine reale Person ist und die Klinik nicht zu besuchen ist oder der See aus dem Trailer, nämlich der Titisee, sich nicht im gleichen Tal befindet. 

Die Problematik, vor der wir seit einigen Jahren stehen, ist die Tatsache, dass die Begegnungen mit Überlebenden des Holocaust immer weniger möglich werden. Die Zeitzeug*innen werden nur noch selten als reales Gegenüber erlebbar, sondern nur noch in Interviewaufnahmen. Solche Dokumente sind biografische und kulturelle Schätze, die uns die Holocaustüberlebenden hinterlassen haben. Sie stehen für die pädagogische Arbeit inzwischen in zahlreichen Museen, Gedenkstätten oder Dokumentationszentren in wachsender Zahl zur Verfügung und sind auch online zugänglich. Je nach Nutzung dieser Lebenszeugnisse in einem Hörspiel, das durch Zustimmung und Wissen der Beteiligten zustande gekommen ist, könnten dieses als „zweites Leben“ innerhalb einer musealen Inszenierung interpretiert werden. 

Die Faktoren, die diese Hypothese stützen, müssten jedoch an anderer Stelle bestimmt werden und könnten die Rezeptionssituation, die Haltung der Rezipient*innen oder die direkte oder indirekte Zustimmung der jeweiligen Quellen, der erzählenden Personen, beinhalten. 

Ein sorgsamer und sensibler Umgang mit den jeweiligen Lebenszeugnissen ist von größter Bedeutung. Im Falle „unserer“ Geschichten können wir auf Interviewmaterial zurückgreifen, das mit Wissen der Beteiligten oder deren Angehörigen hergestellt wurde. Bei der Herstellung der Texte ging es darum, Erzählfäden zu spinnen und zu verbinden. Da seit Gründung des Fördervereins (1999) ein wichtiger Teil seiner Arbeit im Kontakt mit den Nachfahren der Breisacher Juden*Jüdinnen besteht, waren einige auch in das Projekt der Musealisierung des ehemaligen jüdischen Gemeindehauses einbezogen. In ihrer Anwesenheit wurde die Ausstellung im September 2019 eröffnet, wer nicht anreisen konnte, bekam die Hörspiele geschickt, in denen ihre Familie eine Rolle spielt. Die Entscheidung, alle Hörspiele ins Englische zu übersetzen und aufnehmen zu lassen, erleichtert die Kommunikation mit Nachkommen, die nicht deutsch sprechen.  

Pädagogische Arbeit mit Hörspielen

In der Arbeit mit Schüler*innen bieten die Hörspiele viele Arbeitsansätze und Vertiefungsebenen, die stetig weiterentwickelt und mit zusätzlichen Materialien ergänzt werden können.[2] Jugendliche können aus der jeweiligen Perspektive der Familienmitglieder deren Alltag mit Freundschaften, Freizeitbeschäftigungen und Schule, Einkäufen und Vorbereitungen auf das Pessachfest oder die vielfältigen Aufgaben des Kantors erkunden. Sie geben Anregung zum Erforschen der jüdisch-christlichen Nachbarschaft, des religiösen und des Familienalltags und damit dem Leben in Breisach 1931. Gleichzeitig ermöglicht die Auseinandersetzung mit den historischen Personen am authentischen Ort, im ehemaligen jüdischen Viertel, einen lebensnahen Einblick in eine (noch) funktionierende jüdisch-christliche Nachbarschaft. Die Biografien und Erfahrungen der Bewohner*innen des Jüdischen Gemeindehauses können mit der eigenen Lebenssituation in Beziehung gesetzt werden. Auch ganz praktische Übungen lassen sich einbinden. Die Schüler*innen verorten das Haus und die Wohnorte der Personen, denen sie in den Hörspielen begegnen, auf dem historischen Stadtplan, sie suchen nach den Berufen im Einwohnerverzeichnis von 1928/29 oder begeben sich mit dem Friedhofsplan, den die Gedenkstätte erstellt hat, auf die Suche nach den Gräbern der Breisacher Jüdinnen*Juden.

In einem sich daran anschließenden zweiten Teil eines Workshops kann erarbeitet werden, wie die Machtübernahme der Nationalsozialisten das Leben der Familie und der Juden*Jüdinnen in Breisach dramatisch veränderte. Für alle bedeutete sie den Verlust der Heimat und ihrer Rechte, für die Mehrheit Exil, für viele Haft in einem Lager oder den Tod. Aus der Perspektive von Ralph Eisemann, der 1999 als Großvater sein Elternhaus besuchte, erzählt das Hörspiel „Der schmerzhafte Blick zurück“ die Verfolgungsgeschichte der Eisemanns. 

Zurück zur Ersterkundung der Ausstellung mit den Schülerinnen und Schülern der Hugo-Höfler-Realschule, Elaine Wolff aus den USA, deren Mutter Paula Wurmser 1919 in Breisach geboren und gegenüber vom Blauen Haus aufgewachsen ist, und Robert Geismar aus London, dessen Familienwurzeln in Breisach bis in das 17. Jahrhundert reichen. Nach einer kreativen Umsetzung der Hörspiele in Bildergeschichten, einer Arbeitsplatzbeschreibung des Kantors oder einem Theaterstück, haben sich die Jugendlichen intensiv mit Elaine Wolff, Robert und Hillary Geismar und Steve Stoneburn ausgetauscht. Letzterer vertrat die Familie seiner Frau Michelle Eisemann-Stoneburn. Persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierungen kamen zur Sprache. Aus dem gemeinsamen Blick zurück schloss sich wie selbstverständlich eine Auseinandersetzung mit der Situation heute und den eigenen Biografien an. In Gegenwart der Zeitzeugen der zweiten Generation gelang dies in besonders eindrucksvoller Weise, was die Bedeutung der Einbindung dieses Personenkreises in die Arbeit mit den Jugendlichen unterstreicht. 

Literatur

Hans David Blum: Juden in Breisach. (Hrsg.) Erhard Roy Wiehn. Konstanz 1998.

Weitere Informationen

www.blaueshausbreisach.de

Alle Hörspiele sind auf der Webseite abrufbar.


[1] Interviews und Filmausschnitte aus „Judengasse. Der Faden ist gerissen“, Imago-Film Bodo Kaiser, Freiburg 2001, „Das Elternhaus. Ralph Eisenmann und das ehemalige jüdische Gemeindehaus Breisach“, Imago-Film Bodo Kaiser 2004.

[2] Hierzu gehören z.B. ein Glossar zu jüdischen Begriffen, das Breisacher Einwohnerverzeichnis 1928/29, Lesemappen zu Breisacher jüdischen Familien, den beiden jüdischen Friedhöfen oder zum Thema Patientenmorde.

 

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