Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids.
Von Tanja Kleeh
Der Sammelband „Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids“ ist bereits vor knapp zwanzig Jahren erschienen. Die Beiträge, die ganz unterschiedliche Blickwinkel auf Geschlecht in der Erinnerungskultur werfen, sind jedoch nach wie vor aktuell, in Teilen sogar richtungsweisend.
Entsprechend des den Band leitenden Themas gibt es vier Kapitel, die mit Verleugnungen, Sakralisierungen, Sexualisierungen und Verschiebungen überschrieben sind. Auf Grund der Fülle an inhaltlich sehr dichten Aufsätzen wird pro Kapitel ein Beispiel gewählt.
Wie Silke Wenk und Insa Eschebach im einleitenden Aufsatz „Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz“ deutlich machen, sorgen Geschlechterkonstruktionen und -ideologien dafür, wie der historische Genozid wahrgenommen, beschrieben und bewertet wird. Wenk und Eschebach berichten von heftigen Kontroversen, welche die Entstehung des Buches und die vorausgehende internationale Konferenz begleiteten. „Sie [die Kontroversen] haben überdeutlich gemacht, dass weder die Fragen nach „Geschlecht“ noch die nach „Gedächtnis“ rein theoretischer Art sind“ (S.13) – ein Diskurs, der sich bis heute hält.
Wenk und Eschebach fragen zudem nach dem „Wie“ der Darstellung. Diese Frage ist nach wie vor aktuell. Angesprochen wird auch der Umgang mit Zeitzeug*innenschaft, wenn die Zeitzeug*innen einmal nicht mehr sind – heute aktueller denn je. Wenk und Eschebach diskutieren in ihrem Beitrag zudem die Gefahr, dass der Holocaust zu einer Metapher verkommt, „als universalisiertes Deutungsmodell, offenbar geeignet, auch historisch neuartige Ereignisse mehr als ein halbes Jahrhundert nach den nationalsozialistischen Verbrechen zu deuten und politische ebenso wie (para)militärische Handlungen zu begründen“ (S.20). Das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit muss den beiden Autorinnen zufolge aufgebrochen werden. Sie plädieren dafür, bestehende Konstruktionen zu hinterfragen und neue Kategorien einzuführen.
Verleugnungen
Christl Wickert nähert sich in ihrem Beitrag „Tabu Lagerbordell. Vom Umgang mit der Zwangsprostitution nach 1945“ einer jahrzehntelangen Leerstelle, wie sie selbst schreibt. Erst in den 1980er-Jahren wurde hierzu die Forschung aufgenommen. Nach der Befreiung der Lager wurde sowohl für Überlebende als auch für Historiker*innen das Sprechen darüber zum Tabu. Wickert geht auch auf die Vorgeschichte ein und zeigt auf, wie die Diskussionen um Prostitution seit 1933 ausschließlich von Männern und deren Perspektive geführt wurden. Dies spiegelt sich auch in den Wehrmachtsbordellen wieder, deren hohen Organisationsgrad Wickert herausstreicht: „Die hygienischen Vor- und Nachbereitungen eines jeden Bordellbesuches waren ebenso detailliert vorgeschrieben wie der Vollzug des Aktes, sie wurden auf extra Karten aufgeführt und einzeln abgezeichnet“ (S.44). Entsprechend durchorganisiert waren auch die Bordelle in den Konzentrationslagern. Der Anstoß für deren Entstehung kam aus den Reihen der Industrie, um Leistungsanreize zu schaffen. Weitere Beweggründe für die nationalsozialistische Führungen waren etwa die Bekämpfung der Homosexualität, die Verbesserung der Stimmung unter den Gefangenen sowie das Unterlaufen der Häftlingssolidarität durch entsprechende Begünstigungen. Auch den Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden, wurden entsprechende, falsche Versprechungen gemacht: Hafterleichterungen oder sogar die Entlassung aus dem Konzentrationslager wurden in Aussicht gestellt. Als Beispiel wird das Lagerbordell in Sachsenhausen angeführt, von dessen Existenz auch mehrere Zeitzeug*innen erzählen. Nach 1945 mussten sie oftmals erleben, wie die sogenannten „Sonderbauten“ abgerissen wurden. In Zeitzeug*innberichten aus der direkten Nachkriegszeit finden sich noch Erzählungen darüber, doch sind auch diese schon geprägt von abwertenden Motiven den Frauen gegenüber. Die betroffenen Frauen schwiegen lange, manche sprachen nie. Das kollektive Schweigen in beiden deutschen Staaten tat sein Übriges.
Sakralisierungen
Neben dem Verschweigen von Schicksalen von Frauen existiert auch das andere Extrem, was in „Gedächtnis und Geschlecht“ zusammenfassend mit Sakralisierung beschrieben wird. Der Begriff ist nicht zufällig gewählt, finden sich doch viele religiöse Motive in der Erinnerungskultur wieder und eine zutiefst religiös tradierte Erinnerungskultur. Insa Eschebach widmet sich dieser Thematik in ihrem Aufsatz „Heilige Stätte – imaginierte Gemeinschaft. Geschlechtsspezifische Dramaturgien im Gedenken“. Weitere Beiträge in diesem Teil sind der oft religiös anmutenden Bildsprache gewidmet, etwa bei Susanne Lanwerd in ihrem Aufsatz „Die Bildformel Pietà. Religiös tradierte Geschlechterbilder in Symbolisierungen des Nationalsozialismus“.
Eschebach sieht in der Sakralisierung einen „klassischen Modus des Umgangs mit dem gewaltsamen Tod in der Moderne“. Es kann auch als Angebot zur Konfliktbewältigung gesehen werden. Damit einher ging nach Ende des Zweiten Weltkriegs etwa die Entstehung von Gedenkorten in den ehemaligen Konzentrationslagern. Die Orte bekommen mit der „Weihe“ eine neue Bedeutung, eine sakrale Zuschreibung. Eine zweite Funktion steckt in der Stiftung von Gemeinschaft. Diese wird durch öffentliche Gedenkfeiern an den Orten des Verbrechens geschaffen. Insa Eschebach lenkt den Blick dabei vor allem auf die Gedenkfeiern in den ehemaligen Konzentrationslagern auf dem Gebiet der DDR, die ihr öffentliches Gedenken und den selbst erklärten Kampf gegen den Faschismus dort zelebrierten. Die Widmungen der drei Gedenkstätten der DDR – Ravensbrück, Sachsenhausen und Buchenwald – zeigen das Geschlechterverständnis auf: Männer werden als Helden und Kämpfer klassifiziert, Frauen als „mutige Frauen“ bezeichnet, ihre angebliche Wehrlosigkeit besonders herausgestrichen. Es bleibt die Geschlechterdichotomie haften.
Sexualisierungen
Wie verfestigt sich Bilder auch in der Erinnerung an die Täter*innenseite manifestierten, zeigt Julia Duesterberg in ihrem Aufsatz „Von der ‚Umkehr aller Weiblichkeit‘. Charakterbilder einer KZ-Aufseherin“. Die lange Weigerung der Öffentlichkeit, Frauen als Täterinnen anzuerkennen, ohne ihnen ihre Weiblichkeit abzusprechen, führte zum Bild der mordenden „Bestien“. Die unterschiedliche Beurteilung aufgrund des Geschlechtes zog sich bis in die Strafverfahren gegen die ehemaligen KZ-Aufseher*innen. Duesterberg arbeitet die Stereotype heraus, die in den Verfahren zutage traten. Als Beispiel dient die Biografie von Dorothea Binz, die als eine der Hauptangeklagten im ersten Ravensbrück-Verfahren vor dem britischen Militärgericht stand. Bei Kriegsende hatte sie im Konzentrationslager den Rang der stellvertretenden Oberaufseherin inne. 1947 wurde sie zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Obwohl in den Zeug*innenaussagen die Brutalität von Binz bestätigt wurde, stellten die Ermittler*innen diese in Frage, da sie vom weiblichen Geschlecht nicht erwartet wurde: „In all, the investigators have attempted to allow for the histrionic exaggerations to be expected from the female sex.“ Inzwischen – und auch bereits zur Entstehung des Sammelbandes – ist klar, dass weibliche Aufseherinnen in ihrer Brutalität den männlichen Aufsehern in nichts nachstanden. Das Maß an Brutalität der Frauen bereite Überlebenden und Zeitgenossen jedoch große Probleme, folgert Julia Duesterberg, „weil es traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit entgegenstand“ (S.234). Dementsprechend weckten diese Verbrechen eine besondere Sensationslust in der Öffentlichkeit, was sich auch in der Berichterstattung niederschlug. So wurde sich von Seiten der Presse auf die weiblichen Angeklagten fokussiert, sie bekamen einzelne Spitznamen zugewiesen. Es verbreitete sich zudem – wie im Fall von Dorothea Binz – das Bild der naiven, jungen Frauen, „die ohne eigene Willensbildung mit ihrer freiwilligen oder unfreiwilligen Verpflichtung zur Aufseherin bestenfalls einen ‚Fehltritt’ leisteten und deren Verhalten als ,youthful folly‘ “ (S.240) gedeutet wird. Sie wurden verführt und verhielten sich besonders grausam („Bestien“).
Fazit
„Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids“ ist ein umfangreicher Sammelband, der – wie bereits zu Beginn angeführt – trotz seines Alters viele Überlegungen versammelt, die in der praktischen Arbeit, aber auch theoretischen Überlegungen verwendet werden können. Die Besonderheiten geschlechtsspezifischer Deutungsmuster werden mit unterschiedlichen Schwerpunkten herausgearbeitet. Der Zugang zum Thema gelingt auf vielfältigen Wegen.
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- 24 Feb 2021 - 07:23