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Frauen in Ravensbrück – geschlechterhistorische Perspektiven

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Insa Eschebach ist Lehrbeauftragte am Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin und freie Publizistin. Von 2005 bis 2020 war sie Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Von Insa Eschebach

Annika Bremell, Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, berichtet 2006 rückblickend Folgendes: Im April 1945, als sie zum letzten Mal Appell stehen musste, öffnete sich plötzlich das Lagertor und „wunderschöne junge Männer“ kamen herein, gekleidet in Uniformen des Schwedischen Roten Kreuzes. Es handelte sich um die Busfahrer, die die Frauen nach Skandinavien evakuieren würden. Annika Bremell, wie viele ihrer Mithäftlinge mehrfach kahlgeschoren, beschrieb, wie in diesem Augenblick ihre Hand spontan „nach oben ging“, um zu kontrollieren, ob ihre Haare säßen. Und als sie diese Geste selbst bemerkte, habe sie gedacht, sie sei eben doch immer noch eine Frau, der es wichtig sei, wie sie für diese Männer aussehe.

Matthias Heyl, pädagogischer Leiter der Gedenkstätte Ravensbrück, erzählt diese Geschichte gelegentlich bei Führungen, wenn die Gruppen den ehemaligen Appellplatz, das Lagertor in Sichtweite, erreicht haben. Es geschieht, dass ihm beim Erzählen nun seinerseits seine Hand illustrierend „nach oben“ geht. Gelingt ihm diese feminine Geste gut, berichtet er (Heyl 2015), kann es sein, dass er bei manchen Jungen auf eine gewisse Abwehr trifft. Spontane Kommentare wie „voll schwul“ seien  aus dem Off zu hören.

Seit der deutschen Vereinigung steht das Konzentrationslager Ravensbrück im Zentrum der Frauenforschung. (vgl. Sachse 1997:31 sowie Lanwerd & Stoehr 2007: 47) In der Tat hat die Ravensbrück-Forschung Anfang der 1990er Jahre einen Höhenflug begonnen und vieles ist seither geschehen. Diese Entwicklung ist wesentlich von der historischen Frauen- und Geschlechterforschung befördert worden. Sie wurde aber auch begünstigt von der nationalen wie internationalen Historiographie, die Konzentrationslager jahrzehntelang als randständiges Phänomen betrachtet hatte, sich aber seit den 1990er Jahren zunehmend auch der nationalsozialistischen Lagerwelt zuwendet.

Gleichwohl bleibt es im Grunde erstaunlich, dass sich bei der Frage nach dem Geschlecht der Blick stets erneut auf Ravensbrück richtet. Als ob das Frauen-Konzentrationslager an sich schon auf die Existenz von Geschlechterverhältnissen verweise, während Lager für Männer für das Menschlich-Allgemeine zu stehen scheinen. Diese Asymmetrie hatte Simone de Beauvoir im Blick, als sie – wie später auch beispielsweise Pierre Bourdieu, George L. Mosse, Judith Butler – 1949 argumentierte: Die männliche Geschlechtsidentität gehe mit der Vorstellung des Allgemeinen oder auch Universalen einher, während das Weibliche, wenn überhaupt, dann stets explizit charakterisiert werden müsse (de Beauvoir 1972: 12): „Wie kommt es,“ schreibt sie, „dass zwischen den Geschlechtern […] Wechselseitigkeit nicht hergestellt worden ist, dass der eine der beiden Begriffe sich als der allein wesentliche behauptet hat und mit Bezug auf seinen Gegenbegriff jede Relativität ablehnt, indem er diesen schlechthin als ‚das Andere’ definiert?“

Noch in der Kennzeichnung der Konzentrationslager zeigt sich der Bedarf expliziter Charakterisierung: Als „FKL“, so die historische Abkürzung, unterschied sich das „Frauen-Konzentrationslager“ von den „KL“, den Konzentrationslagern, die keines weiteren geschlechtsspezifischen Ergänzungsbuchstabens bedurften, weil sie für Männer waren. Während mit der männlichen Geschlechtsidentität das Allgemeine par excellence angesprochen ist, sind Frauen im Wesentlichen mittels ihres Geschlechts definiert. So bleibt auch Ravensbrück ein Sonderfall im System nationalsozialistischer Konzentrationslager wie auch im bundesdeutschen Netz der KZ-Gedenkstätten: Ein Zusatz, ein Außerdem, ein Die-gibt-es-ja-auch-noch.

Die – andauernde – Asymmetrie der Geschlechter ist vermutlich ein Grund dafür, warum die Thematisierung der Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers stets erneut mit Forderungen nach vermehrter politischer, religiöser und/oder sozialer Teilhabe von Frauen verknüpft wird. Soziale Bewegungen konstituieren und legitimieren sich selbst, indem sie sich eine eigene Geschichte geben. Dementsprechend wird auch Ravensbrück immer wieder aus identitätspolitischen Interessen heraus in Anspruch genommen: Die Geschichte der „Frauen von Ravensbrück“ wird häufig als Vorgeschichte des eigenen politischen, sozialen oder auch religiösen Handelns wahrgenommen. Dies gilt nicht nur für die nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen. Schon die Überlebenden versuchten mit ihrer Verbandspolitik nach 1945, mit dem auf ein reines Frauenlager verkürzten Ravensbrück „eines der wenigen Terrains zu behaupten, in dem sie ohne männliche Dominanz tätig sein konnten“. Susan Hogervorst weist darauf hin, dass die Frauen „ihr“ Ravensbrück hatten, während sich die Männer unter den Namen anderer Lager organisierten (Hogervorst 2008: 214). Auch die Gedenkstätte Ravensbrück heute wird immer wieder als „Ort der Frauen“ wahrgenommen und ist in dieser Bedeutung zentraler Referenzpunkt geschlechterhistorischer und feministischer Initiativen. 

Für das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück als ein Schauplatz des Ausschlusses, extremer sozialer Kontrolle und Gewalt ist die Kategorie Geschlecht in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung:

Erstens hinsichtlich der Geschlechterpolitik des „Dritten Reiches“, die sich sowohl in den Organisationsstrukturen des SS-Personals und der geschlechtsspezifischen Konzeption und Betreibung des Lagers manifestiert, als auch in der Konstruktion sozial, politisch und rassistisch definierter Feindbilder. Misogynie, Homophobie und Konstruktionen devianter Weiblichkeit sind in der Geschichte dieses Lagers ohne Ende aufzufinden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für die strafrechtliche Verfolgung von Frauen im Nationalsozialismus und damit auch für die NS-Geschlechterpolitik waren mindestens vier Maßnahmen symptomatisch: Die Novellierung des Abtreibungsparagrafen, das „Blutschutzgesetz“, die „Wehrkraftschutzverordnung“ vom November 1939 sowie die „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft“ vom März 1943 (Roth 2009: 109–140). Die entsprechenden Strafprozessakten der in Ravensbrück inhaftierten Frauen dokumentieren Bilder vermeintlich minderwertiger – und deshalb häufig auch sexualisierter - Weiblichkeit im „Dritten Reich“ in Fülle.

Geschlechterhistorische Untersuchungsansätze sind aber auch zentral für Studien zur „Häftlingsgesellschaft“ (Maja Suderland) im weitesten Sinn: Seien es Themenfelder wie die der Häftlingsgruppen, der Verfolgungskontexte und der Biografien oder Untersuchungen über die Lagergeschichte, über Zwangsarbeit, kulturelle und soziale Praxen, Repressionsmaßnahmen bis hin zu Hinrichtungspraktiken, die ohne die Kategorie Geschlecht nicht adäquat zu fassen sind.

Hinzu kommt – drittens – die Nachgeschichte: „Seit der kulturalistischen Wende“, so Carola Sachse, dominiere in den geschlechterhistorischen Arbeiten zum Nationalsozialismus „die Auseinandersetzung mit Geschlechterbildern und Formen der Sexualisierung, die in den vergangenheitspolitischen Bearbeitungen des Nationalsozialismus, seinen geschichtspolitischen Repräsentationen und den Inszenierungen von Erinnerung und Gedenken identifiziert werden konnten.“ (Sachse 2012: 7). In der Tat ist auch dieser Untersuchungsansatz für die Nachgeschichte von Ravensbrück ausgesprochen ergiebig, sei es auf dem Feld der Denkmalskunst, der Konzeption von Ausstellungen und Gedenkräumen, der Dramaturgie öffentlicher Gedenkfeiern und der Ravensbrück-Filme, sei es das Feld der Memoirenliteratur, der politischen Reden und der nationalen wie internationalen Verbandsgeschichte.

Last but not least spielt die Kategorie Geschlecht eine zentrale Rolle in der Bildungsarbeit der Gedenkstätte, die von Haus aus mit einer schwierigen Erwartungshaltung konfrontiert ist: Der Erwartung nämlich, der Gedenkstättenbesuch Jugendlicher könne diesen zu einer „Marienerscheinung“ verhelfen (Heyl 2005), so als stünde an „moralisch hoch aufgeladenen Gedenkorten“ wie Ravensbrück, gewissermaßen am „Tiefpunkt der Zivilisation die Orientierung für das richtige und angemessene Verhalten zur Verfügung“, wie Astrid Messerschmidt schreibt (Messerschmidt 2016: 32). „Kritische Erinnerungsbildung“, fährt sie fort, kann „keine ungebrochenen Beziehungen zwischen den NS-Verbrechen und der Gegenwart herstellen, jedoch auf Verwandtschaften zu heutigem Denken und zu heutigen gesellschaftlichen Praktiken aufmerksam machen.“ Dass ideologische Muster, rassistische Zugehörigkeitsphantasmen und tradierte Geschlechterbilder fortwirken können, ist bekannt. Wie die eingangs erzählte Geschichte von Annika Bremell und Matthias Heyl deutlich macht, ist Ravensbrück ohne Gendersensibilität nicht denkbar. 

Literatur

Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übersetzt von Eva Rechel-Mertens, Reinbek bei Hamburg 1972.

Matthias Heyl, Erziehung nach Auschwitz, Interview zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, 19. Januar 2005.

Matthias Heyl, Gender als Kategorie in der gedenkstättenpädagogischen Praxis der Gedenkstätte Ravensbrück – ein Werkstatttext, in: Annette Dietrich und Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis. Frankfurt am Main 2015, S. 275-284.

Insa Eschebach, Zur Einleitung: Kontexte und Entwicklungen der Ravensbrück-Forschung, in: Dies. (Hg.), Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und Nachgeschichte. Berlin 2014, S. 7-27.

Susan Hogervorst, Erinnerungskulturen und Geschichtsschreibung. Das Beispiel Ravensbrück, in: Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, hrsg. v. Katharina Stengel (Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts, Bd. 12, Frankfurt a.M. 2008), S. 197–215.

Susanne Lanwerd, Irene Stoehr, Frauen – und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven, in: Johanna Gehmacher, Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 22-68.

Astrid Messerschmidt, Postkoloniale Selbstbilder in der postnationalsozialistischen Gesellschaft, in: FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, 59/2016, S. 024-037.

Thomas Roth, „Gestrauchelte Frauen“ und „unverbesserliche Weibspersonen“: Zum Stellenwert der Kategorie Geschlecht in der nationalsozialistischen Strafrechtspflege, in: Elke Frietsch/Christina Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 109–140.

Carola Sachse, Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Debatten, Topoi und Ergebnisse seit 1976, in: Mittelweg 36, H. 2/1997, S. 24-36.

Carola Sachse, Wissenschaft und Geschlecht in der NS-Medizin. Überlegungen zur Verbindung wissenschafts- und geschlechterhistorischer Untersuchungsansätze, in: Insa Eschebach und Astrid Ley (Hg.), Geschlecht und „Rasse“ in der NS-Medizin. Berlin 2012, S. 7-16.

 

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