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Werkstattgespräch: Vertragsarbeit. Geschlechtsspezifische Erfahrungen von Frauen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Ulrike Rothe hat Geschichte und Soziologie in Berlin und Marburg studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin bei der Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V. Sie ist schwerpunktmäßig im Bereich Oral History sowie frauen- und geschlechterspezifischen Zugängen auf Geschichte tätig.

Ein Veranstaltungsbericht von Ulrike Rothe

Das Werkstattgespräch wurde als Teil der Reihe „Unangepasst. Repressionserfahrungen von Frauen in der DDR“ am 6.10.2020 online durchgeführt. Gesprächspartnerinnen waren drei ehemalige Vertragsarbeiterinnen aus Mozambique und Vietnam: O. M. aus Dresden, Thu Fandrich und Lan Ngoc Hoang aus Berlin. Das Gespräch moderierte die Journalistin und Filmemacherin Julia Oelkers, eine der Kuratorinnen der Webdokumentation „Eigensinn im Bruderland“. Die Veranstaltung wurde von der Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V. gemeinsam mit der Robert Havemann Gesellschaft / Archiv der DDR-Opposition e.V. ausgerichtet. 

Vertragsarbeiterinnen als marginalisierte Frauengruppe

Schon früh während der Planungen der Veranstaltungsreihe stand fest, dass zum Konzept der marginalisierten Frauengruppen in der DDR auch die Frauen mit Migrationsgeschichte gehören. Der Eindruck entstand, dass migrantische Frauen ganz verschiedene Erzählungen und auch Bezüge zu ihrem Leben in der DDR haben. In dem gegebenen Format eines neunzigminütigen Gesprächs sollten jedoch zentrale Fragen zu einem Thema ansatzweise vertieft werden können, daher wurde das Thema auf die Gruppe der Vertragsarbeiterinnen eingegrenzt. 

Bisher wurden in der Reihe Frauengruppen thematisiert, die der Norm dessen was unter sozialistischer Lebensführung von Frauen verstanden wurde aus sozioökonomischen Gründen nicht entsprechen konnten oder die sich etwa aus politischer Opposition dagegen positionierten. Den Vertragsarbeiterinnen dagegen war es staatlicherseits verwehrt, überhaupt dieses sozialistische Leben zu führen – sie waren in Vollzeit werktätig, aber sie sollten während ihres Aufenthalts in der DDR weder heiraten noch eine Familie gründen. Eine berufliche Aus- oder Fortbildung wurde ihnen nicht in jedem Falle gewährt, auch wenn das in den zwischenstaatlichen Verträgen mit den Entsendeländern oft vereinbart worden war. Ihre Integration in die DDR-Gesellschaft war nicht vorgesehen, sie lebten separiert in Wohnheimen und sollten vor allem ungelernte und monotone Arbeiten in den volkseigenen Betrieben verrichten. Neben dieser strukturellen Diskriminierung staatlicherseits trugen auch Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus seitens des sozialen Umfelds zur Marginalisierung der Vertragsarbeiter*innen bei. Ziel des Werkstattgesprächs war, diese Erfahrungen auszuloten und den spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen von weiblichen Vertragsarbeitern auf die Spur zu kommen.

Erzählungen zur Ankunft in der DDR 

Alle drei Frauen kamen Ende der 1980er Jahre in die DDR, O. M. aus Mozambique kam 1986 und sollte nach Dresden in einen fleischverarbeitenden Betrieb geschickt werden. Das verweigerte sie und gelangte nach Freital in eine Fabrik, wo sie zusammen mit anderen mozambiquanischen Frauen Flaschen sortieren musste. Thu Fandrich und Lan Ngoc Hoang kamen 1987 achtzehnjährig nach Berlin und wurden in den neu gebauten Plattensiedlungen in Marzahn untergebracht. Sie arbeiteten als Näherinnen im VEB Herrenbekleidung Fortschritt. Aus den Erzählungen der Zeitzeuginnen über die Ankunft in der DDR wurde deutlich, dass es sich oft um sehr junge Mädchen handelte, die verunsichert und ängstlich waren, auch weil ihnen nicht klar war, was auf sie zukommen würde. Mit der Ankunft in den Unterkünften stellte sich laut Thu Fandrich aber sehr schnell heraus, dass sie nach strengen Regeln zu leben hatten, die ihnen von einer Betreuerin vorgegeben wurden. Lan Ngoc Hoang berichtete zudem, dass auch ältere Frauen bis 35 Jahre dabei waren, einige von ihnen waren in Vietnam verheiratet und hatten Kinder dort. Sie wollten als Vertragsarbeiterinnen in der DDR Geld verdienen. Da die Verträge auf fünf Jahre angesetzt waren, sahen sie ihre Familie jahrelang nicht, denn ein Besuch der Familie in Vietnam war nur einmal während dieser Zeit erlaubt. 

Sozialkontrolle und Separierung besonders der Frauen

Geschlechtsspezifisch an den Regeln des Lebens in den Unterkünften erschien zunächst die Vorgabe, zu wem die Frauen Kontakt haben durften. O. M. berichtete, dass Beziehungen der Frauen mit Deutschen oder Vertragsarbeitern aus anderen Ländern nicht gern gesehen waren: „Kontakte mit anderen Vertragsarbeitern waren tabu“. So sei sie, als sie den späteren angolanischen Vater ihrer Kinder kennen lernte, zur Botschaft nach Berlin zitiert worden, wo man ihr das vorwarf. Sie berichtete auch, deswegen beschimpft worden zu sein. Thu Fandrich bestätigte, dass Vertragsarbeiterinnen generell mehr Probleme gehabt hätten, wenn sie sich nicht unter ihresgleichen verbanden – das sei, auch in der eigenen Community, sozial nicht toleriert worden. Julia Oelkers ergänzte an dieser Stelle, dass dieses Tabu auch für deutsche Frauen galt, die sich mit Vertragsarbeitern einließen. Laut ihrer eigenen Recherchen in MfS-Akten seien diese Frauen als „asozial“ und „kriminell“ eingestuft worden. 

Zwangsabtreibungen

Schwangerschaften von Vertragsarbeiterinnen sollten unter allen Umständen vermieden werden, selbst Ehepaare wurden nach der Ankunft in der DDR getrennt nach Geschlechtern untergebracht, so Thu Fandrich. Eine Schwangerschaft bedeutete für Frauen aus Mozambique das Ende ihres Aufenthalts in der DDR. O. M. berichtete, dass die Frauen schon in Mozambique darüber belehrt wurden. Die Option einer Abtreibung bestand nicht, denn der Schwangerschaftsabbruch war in Mozambique verboten. So erzählte O. M. von einer Mitbewohnerin im Wohnheim, die ihre Schwangerschaft lange verheimlichte: Diese brachte ihr Kind in der DDR zu Welt, aber musste dann wenige Monate nach der Geburt zurück, als das Baby flugtauglich war. Die beiden anderen Zeitzeuginnen betonten, dass die meisten vietnamesischen Frauen in ihrem Umfeld unaufgeklärt in die DDR kamen. Seitens der Betreuer*innen und Gruppenleiter*innen erging keine Aufklärung, es gab keine Informationen zur Verhütung, die Möglichkeit zum Frauenarzt zu gehen oder Verhütungsmittel in Anspruch zu nehmen. Sei jedoch eine Frau schwanger geworden, dann sei ihr im Gespräch mit den Betreuer*innen nahegelegt worden, das Kind entweder abzutreiben oder nach Vietnam zurückzukehren. Thu Fandrich erzählte, dass sie aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse diese Gespräche und auch die Krankenhausbesuche der Frauen übersetzte und daher die Frauen oft bei dem Schritt zur Abtreibung begleitete. Sie erinnerte sich an das Leid der Frauen in dieser Situation, u.a. derjenigen, die mehrmals abtreiben mussten. 

Soziale Isolation

Thu Fandrich und Lan Ngoc Hoang beschrieben ihr Leben als Vertragsarbeiterinnen als Wechsel aus Wohnheim und Arbeit. Mit den deutschen Kolleg*innen am Arbeitsplatz verbanden sie oft gute Erfahrungen. Aber in ihrer freien Zeit, beim Einkaufen oder in der Disko, erfuhren sie immer wieder Distanz, Ablehnungen oder sogar abwertende Reaktionen seitens der Deutschen. Ein Diskobesuch, so Lan Ngoc Hoang, blieb einmalig, denn zunächst hätten sie dafür ihre Ausweise bei den Betreuer*innen abgeben müssen. Dann in der Disko seien sie schief angeschaut und distanziert betrachtet worden, so hätten sie sich nicht willkommen gefühlt und seien danach lieber im Wohnheim unter sich geblieben. 

Nach dem Mauerfall

Von rassistischen Erfahrungen konnte jede der drei Zeitzeuginnen berichten, diese haben jedoch nach Mauerfall und Wiedervereinigung zugenommen. Im Dunkeln auf die Straße zu gehen sei eigentlich bis heute für sie gefährlich, Beschimpfungen oder Anfeindungen etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln keine seltene Erfahrung. Für alle Vertragsarbeiter*innen war die Zukunft ab 1990 ungewiss, denn mit dem Verlust der Arbeit in den Betrieben verloren sie auch ihre Unterkünfte. O. M. berichtete, wie sie ihre Unterkunft im Wohnheim verlor – in ihrer Abwesenheit seien ihren persönlichen Sachen auf die Straße geworfen worden. Lan Ngoc Hoang verwies auf ähnliche Erfahrungen. Bis 1996/97 wurden die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen, die in Deutschland bleiben, nur geduldet, in diesen Jahren sei es sehr schwer gewesen, eine Arbeit zu bekommen. So berichtete Thu Fandrich, dass die Vietnamesinnen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hatten, es hätte auch keine Aus- oder Weiterbildungen für sie gegeben. Sie habe nur Ablehnungen erhalten und so habe sie keine Berufsausbildung machen können und sei ihr Leben lang Näherin geblieben. Sie und auch Lan Ngoc Hoang betonten, dass sie nur aufgrund der Heirat mit ihrem Lebenspartner bleiben konnten. 

Den Vertragsarbeiter*innen wurden 3.000 DM angeboten, wenn sie in ihre Entsendeländer zurückkehren, aber viele Rückkehrerinnen haben, so Thu Fandrich, dort keine Arbeit und keine Unterstützung gefunden. Sie passten, führte sie weiter aus, nicht mehr in die vietnamesische Gesellschaft und hatten große Schwierigkeiten, sich wieder einzugewöhnen. O. M. bestätigte dieses Schicksal auch für die nach Mozambique zurückgekehrten Vertragsarbeiterinnen.

Ausblick

Die Veranstaltung hat gezeigt, dass es sich lohnt, das Thema Vertragsarbeit aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive zu betrachten, auch wenn einige Erfahrungen auch von männlichen Vertragsarbeitern geteilt wurden. Die Vertragsarbeiter*innen lebten am Rande der DDR-Gesellschaft, sie sollten lediglich als Arbeitskräfte für einige Jahre die DDR-Wirtschaft unterstützen. Diesem Ziel von Vertragsarbeit wurde alles untergeordnet, auch das Bedürfnis und das Recht der betroffenen Menschen etwa auf soziale Integration, Ausbildung oder Freizügigkeit. Für die Frauen muss angesichts der Zwangsabtreibungen hier noch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und auch auf körperliche Unversehrtheit hinzugefügt werden. Zudem legen die Erzählungen der Zeitzeuginnen die These nahe, dass die Vertragsarbeiterinnen einer im Vergleich zu den Vertragsarbeitern rigideren sozialen Disziplinierung und Isolation unterworfen waren. Die autoritäre staatliche Kontrolle der Vertragsarbeiterinnen, ihres Lebens, ihrer Körper und auch ihres Sexualverhaltens erfolgte nach den Maßgaben der Ausbeutung dieser Menschen ausschließlich als Arbeitskraft. Sie ist aber auch als Extremfall und im Kontext der massiven sozialdisziplinatorischen, bevormundenden Politik des SED-Staates gegenüber seinen Bürger*innen zu interpretieren.

Ziel des Werkstattgesprächs war es, Fragen und Themen zu den Lebensbedingungen der Vertragsarbeiterinnen aufzuwerfen und zu diskutieren. Durch die Erinnerungen der Zeitzeuginnen entstand ein Eindruck, wie diese Fragen beantwortet werden können. Es bleibt eine Aufgabe weiterer forschender und bildender Initiativen, diesen Fragen und Themen weitere Aspekte hinzuzufügen und vor allem weitere und viele Narrationen von Zeitzeuginnen zu erheben. Zusammen mit der Auswertung von noch vorhandenen Akten und Archivbeständen könnte hier ein gesättigtes Bild von den Erfahrungen der Frauen beschrieben und in die Geschichtserzählung zur DDR eingefügt werden.

 

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