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„Zwischen Leben und Tod. Geschichten von Rettung während des Holocaust“ – eine Ausstellung und ihre Didaktisierung für die „Holocaust-Education“

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. hab. Piotr Trojański – Historiker und Geschichtsdidaktiker am Institut für Geschichte und Archivwesen der Pädagogischen Hochschule in Krakau. Wissenschaftlicher Berater des Internationalen Zentrums für Bildung über Auschwitz und den Holocaust in Oświęcim. Mitglied der polnischen Delegation der International Holocaust Remembrance Alliance und stellvertretender Vorsitzender der Europäischen Gesellschaft zum Studium des Holocaust mit Sitz in Krakau. Autor der didaktischen Begleitmaterialien zur Ausstellung „Zwischen Leben und Tod. Geschichten von Rettung während des Holocaust.“ Jüngste Bucherscheinung: „Auschwitz w okowach polityki. Międzynarodowy Komitet Oświęcimski w latach 1954 – 1970. Wybór dokumentów” (Auschwitz in den Fesseln der Politik. Das Internationale Auschwitz-Kommitee in den Jahren 1954-1970. Auswahl an Dokumenten), Krakau 2019.

Von Piotr Trojański

Das Lernen über Einstellungen und Haltungen Einzelner und Gruppen gegenüber dem Holocaust, insbesondere bezogen auf die Hilfe für verfolgte Juden*Jüdinnen durch ihre nichtjüdischen Mitbürger*innen, ist ein besonders wichtiger Aspekt der historisch-politischen Bildung zu Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. Diese Fragestellung stand jedoch lange nicht im Mittelpunkt des Interesses, das sich in erster Linie auf die Rollen von Täter*innen und Opfern konzentrierte. Erst in letzter Zeit kann man eine Hinwendung zu dieser Problematik beobachten, die einhergeht mit der Definition einer dritten Kategorie von Akteuren, den sogenannten Zeugen. Unter ihnen werden passive Zeug*innen (bystanders) und aktive Zeug*innen (upstanders) unterschieden. Untersuchungen zu diesem Thema haben Diskussionen darüber angeregt, warum die einen nicht auf das Böse reagiert haben, während andere verfolgten Juden*Jüdinnen unter Gefährdung ihres eigenen Lebens geholfen haben und wieder andere die Nationalsozialist*innen bei der Ermordung der Juden*Jüdinnen unterstützt haben. Internationale Expert*innen, die sich in der International Holocaust Remembrance Alliance zusammengeschlossen haben, betonen, dass eine adäquate Darstellung des Holocaust in der Bildungsarbeit alle diese Haltungen berücksichtigen sollte, weil es andernfalls zu einem verfälschten Bild der Judenvernichtung (distortion of the Holocaust) führe, wenn ein Aspekt auf Kosten des anderen hervorgehoben werde. Deshalb ist – gemäß den Empfehlungen dieser Vereinigung – das Thema der Hilfe für Juden*Jüdinnen während des Zweiten Weltkrieges im größeren Kontext differenzierter Haltungen darzustellen, zu denen auch Gleichgültigkeit und Kollaboration gehören. Wer eine solch breitgefasste Perspektive einnimmt, kann die Haltung von Menschen, die Juden*Jüdinnen gerettet haben, einerseits besser verstehen, andererseits aber auch einschätzen, was für eine seltene Ausnahme sie vor dem Hintergrund der anderen genannten Handlungsoptionen bildete. Von diesem Ansatz her werden verschiedene Bildungsmaterialien und Ausstellungen erarbeitet. Die bekanntesten Projekte zum Thema der weit gefassten Hilfe für Juden*Jüdinnen während des Zweiten Weltkriegs sind in Einrichtungen wie der Jewish Foundation for the Righteous, der Gedenkstätte Yad Vashem, dem United States Holocaust Memorial Museum, der USC Shoah Foundation Institute oder dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam entstanden.

Vor einigen Jahren hat sich auch das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS) dieses Themas angenommen und in Zusammenarbeit mit dem Museum der Geschichte der Polnischen Juden POLIN (Warschau) und der Gedenkstätte Stille Helden (Berlin) eine mobile Tafelausstellung unter dem Titel „Zwischen Leben und Tod. Geschichten von Rettung während des Holocaust“ erarbeitet. Erstmals wurde die Ausstellung im Januar 2018 am Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel im Rahmen des Internationalen Holocaust-Gedenktags gezeigt. Seitdem war die Ausstellung in neun europäischen Ländern zu sehen: Belgien, Deutschland, Litauen, Niederlande, Polen, Schweiz, Slowakei, Rumänien und Ungarn. Anfang 2021 reist die Ausstellung nach Japan, was auf das Interesse an der Rolle von u.a. japanischen Diplomat*innen bei der Unterstützung verfolgter Juden*Jüdinnen zurückzuführen ist. 

Leitthema der Ausstellung ist die parallele Erfahrung von einerseits Juden*Jüdinnen, denen es gelang, der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu entfliehen und andererseits nicht-jüdischen Menschen, die ihnen geholfen haben, oft unter Gefährdung des eigenen Lebens. Dieses Problem wird am Beispiel von zwölf ausgewählten europäischen Ländern dargestellt: Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Kroatien, Litauen, den Niederlanden, Polen, Rumänien, der Slowakei, der Ukraine und Ungarn. Die Auswahl der Länder ergibt sich aus dem Wunsch, die Situation in verschiedenen Teilen Europas darzustellen und dabei die unterschiedlichen Formen der Besatzungspolitik und der Abhängigkeit vom „Dritten Reich“ aufzuzeigen. Diese Unterschiede wirkten sich natürlich auf die Situation der Juden*Jüdinnen in den einzelnen Staaten aus und deshalb werden in der Ausstellung sowohl durch NS-Deutschland besetzte Länder als auch mit ihm verbündete Staaten vorgestellt. Die Ausstellungstafeln umreißen den historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und stellen die Situation der Juden*Jüdinnen in den einzelnen Ländern und ihr jeweiliges Verhältnis zu den nichtjüdischen Mitbürger*innen dar. Zu jedem behandelten Land werden zwei Geschichten der Hilfestellung erzählt: eine aus der Perspektive der geretteten Person, die andere aus der Perspektive des*der Helfenden. Die Ausstellung ist grafisch ansprechend aufbereitet und mit Auszügen aus Erinnerungen, mit Fotos, Zeichnungen und Dokumenten reich illustriert. Ihr großer Vorteil ist, dass sie bei Bedarf um neue nationale und thematische Tafeln erweitert werden kann, sofern neue Präsentationsorte oder Projektpartner*innen gefunden werden. So sind seit der ursprünglichen Gestaltung der Ausstellung drei nationale Tafeln (Italien, Rumänien und die Slowakei) und eine thematische zur Rolle internationaler Diplomaten*innen für die Rettung verfolgter Juden*Jüdinnen im besetzten Europa hinzugekommen. Zur Ausstellung gibt es einen Katalog in verschiedenen Sprachfassungen und zwei davon – Englisch und Deutsch – können von der Internetseite des ENRS heruntergeladen werden.

Die Thematik der Ausstellung sowie ihre inhaltlich leicht erfassbare Aufbereitung wecken großes Besucherinteresse, gerade auch unter Jugendlichen. Mit Blick auf diese Zielgruppe arbeitet das ENRS an einer Sammlung von Unterrichtsmaterialien, um die Nutzung der Ausstellung in Schule und non-formaler Bildung zu erleichtern. Die Materialien richten sich an Schüler*innen weiterführender Schulen in verschiedenen europäischen Ländern, die sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und insbesondere des Holocaust beschäftigen. Grundlage und zentrales didaktisches Mittel sind die Inhalte der Ausstellung. Die weiterführenden Unterrichtsmaterialien sollen Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen von Bildungsprojekten unterstützen und Anregungen geben, wie der Ausstellungsbesuch und/oder die Lektüre des Katalogs im Unterricht weiter bearbeitet werden können. Lehrkräfte und Pädagog*innen können gestützt auf diese Materialien ihre eigenen Unterrichtseinheiten zum Holocaust erstellen. Die Teilnehmer*innen hingegen sollen ihr Wissen vertiefen und sich mit humanistischen und demokratischen Haltungen auseinandersetzen, vor allem Empathie mit den jüdischen Opfern und den Helfer*innen entwickeln. Die Initiatoren*innen und Autor*innen des Projektes hoffen, dass die Unterrichtsmaterialien die Jugendlichen zum Nachdenken über das Schicksal von Menschen in Grenzsituationen und über die Konsequenzen individueller Entscheidungen anregen, zugleich sie gegenüber menschlichem Leid sensibilisieren, dabei Offenheit und Toleranz fördern. Das ganze Info-Paket wird auf der Internetseite des ENRS in mehreren Sprachfassungen, darunter auch auf Deutsch, Anfang des Jahres 2021 bereitgestellt.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Ausstellung schon für sich genommen ein einzigartiges Lehrmaterial zur Behandlung des Holocaust im Unterricht ist. Die Geschichten über rettende und gerettete Menschen erlauben Lehrkräften, das Problem der Rettung von Juden*Jüdinnen während des Krieges in einer breiteren Perspektive anzugehen. Ein weiterer einzigartiger Vorteil der Ausstellung ist, dass sie das Problem der Hilfe für Juden*Jüdinnen nicht nur am Beispiel von inzwischen allgemein bekannten Persönlichkeiten wie Oskar Schindler, Raoul Wallenberg oder Irena Sendlerowa darstellt, sondern weniger bekannte Helfer*innen in den Blick nimmt, von denen einige ebenfalls mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet worden sind. Für die deutsche Tafel ist dies Otto Weidt, der in seiner Berliner Bürsten- und Besenfabrik zwischen 1941 und 1943 etwa 30 blinde und gehörlose Juden*Jüdinnen beschäftigte und damit versuchte, sie vor der Verfolgung zu bewahren. Die Geschichte von Otto Weidt ergänzt das Schicksal von Alice Licht, der Weidt noch nach ihrer Deportation nach Theresienstadt Lebensmittelpakete schickte. Weidt gelang es durch verschiedene Mittel, Alice Licht nach Berlin zurückzuholen, wo sie sich bis zum Kriegsende versteckte.

Die in der Ausstellung vorgenommene Kontextualisierung des Themas und der Blick darauf aus der Perspektive verschiedener Menschen und Länder erweitern das Wissen über das Thema und fördern die Überwindung weitverbreiteter Stereotypen. Überdies lädt die Ausstellung dazu ein, Themen von universeller Bedeutung anzusprechen, denn – wie es im Text der Abschlusstafel heißt – „Diese Geschichten gehören zu unserem Erbe, durch das wir mehr über Menschen, ihre Einstellungen und ihr Verhalten angesichts von Tragödien lernen können – und auch über die Stärke, sich Diskriminierungen zu widersetzen sowie über den menschlichen Überlebenswillen.” Außerdem lehren uns die Geschichten von der Hilfe vieles „über menschliche Beziehungen unter Extrembedingungen - unter der Gefahr der Bestrafung, und des Verrats in der nächsten Umgebung, oft begleitet von Armut und Hunger. Diese Geschichten sind daher alles andere als einfach und eindeutig, und sie verschließen sich einer Schwarz-Weiß-Logik. Sie beinhalten Denunziationen unter Nachbarn*innen oder Versuche, die tragische Situation von Juden*Jüdinnen zum eigenen Vorteil auszunutzen. Ebenso kommt aber auch grenzenlose Hingabe und Empathie vor, aus der manchmal langjährige Freundschaften oder andere tiefe Beziehungen entstanden.”

 

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