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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Prof. Dr. Astrid Messerschmidt ist Erziehungswissenschaftlerin an der Bergischen Universität Wuppertal mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität.

Astrid Messerschmidt

Antisemitismus macht das „Gerücht über die Juden“ (Adorno 2001 [1951], S. 200) zu einem gängigen Erklärungsmuster für gesellschaftliche Probleme und bietet ein Weltbild an, das einfach in Gut und Böse einteilt sowie jegliche Komplexität ausschließt. Die Grenzen zum Rassismus sind fließend, denn in beiden Denkmustern wird fremd gemachten Anderen Zugehörigkeit verweigert. Den als national und kulturell zugehörig Anerkannten, die im Nationalsozialismus zur „Volksgemeinschaft“ gezählt wurden und die heute ein nationales Privileg für sich beanspruchen, bieten Antisemitismus und Rassismus die Gelegenheit, sich selbst als wertvoller zu betrachten. 

Elemente von Rassismus und Antisemitismus 

Sowohl Rassismus als auch Antisemitismus bieten Denkmuster, bei denen Andere fremd gemacht und dadurch als Gruppe hergestellt werden. Im Rassismus geschieht dies vorwiegend durch Abwertung, meistens werden rassistisch markierte Andere als defizitär dargestellt. Doch erscheinen sie zugleich als bedrohlich, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich bei diesen Anderen um eine Masse handelt. Rassismus verweigert dem Gegenüber jede Individualität. Auch im Antisemitismus werden die fremd gemachten Anderen nicht als individuelle Personen gedacht, die dem Judentum angehören, sondern als Gruppe, die tendenziell eher als gefährlich überlegen dargestellt wird. Das Element des Bedrohlichen nimmt im antisemitischen Denken einen wichtigen Platz ein. Juden erscheinen im antisemitischen Denken als Repräsentanten der Moderne und somit als Zerstörer einer irgendwie besseren und heileren Vergangenheit in einer überschaubaren Gemeinschaft. Die Moderne wirkt gegenüber diesem phantasierten Früher abstrakt und bedrohlich, und die Juden werden als Agenten dieser, durch Kapital und Spekulation funktionierenden Welt angesehen. Sie werden einem Phantasma von Macht und Verschwörung zugeordnet, das sich vom kolonialrassistischen Denken unterscheidet. Galten doch die nichteuropäischen Anderen im Kolonialismus als unterlegen, weniger kreativ sowie als ungebildet und eben deshalb missionierungsbedürftig. Die koloniale Rassekonstruktion diente der Rechtfertigung von Ausbeutung und Versklavung. Da die kolonialen Eroberungen zeitgleich mit den bürgerlichen Revolutionen und der europäischen Aufklärung von statten gingen, mussten die Europäer*innen eine Erklärung dafür finden, „warum sie einem Großteil der Erdbevölkerung den Status des Menschseins absprachen, obwohl sie doch gerade alle Menschen zu freien und gleichen erklärt hatten“ (Rommelspacher 2009, S. 25f). Um das Gegenüber ganz und gar fremd und ungleichwertig darzustellen, wurden soziale Differenzen naturalisiert und die so markierten Anderen als Gruppen aufgefasst, in sich homogen und ohne jede Individualität – den Tieren näher als den Menschen.

Zwar wird vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der rassistischen Politik der Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus der Antisemitismus oft als eine Form des Rassismus aufgefasst. Doch das verfehlt die Besonderheit der NS-Ideologie, die zwar den Rassismus ihrer Zeit nutzte und eine „jüdische Rasse“ erfand, diese jedoch mit Elementen ausstattete, die sich vom kolonial geprägten Bild des Anderen und Fremden unterschieden. Zugeschrieben wurde den zu Feinden erklärten Juden die Macht der Zersetzung einer gemeinschaftlichen Ordnung. Dies setzt sich heute fort, wenn Juden ein besonderer Einfluss in der Weltpolitik unterstellt wird. 

Gegenwartsverhältnisse 

Unter postnationalsozialistischen gesellschaftlichen Verhältnissen ist Rassismus ein Schreckenswort geblieben, lange unaussprechbar in der deutschen demokratischen Gegenwart. Die Vorstellung eines Konsenses des „Nie-wieder“ erzeugte das Selbstbild bereits erfolgreich überwundener früherer Ideologien. Ohne auf die Kategorie „race“ zurückgreifen zu müssen, konnte die Trennung von Bürgern und Ausländern im Kontext der Gastarbeit nach 1950 hergestellt werden, wie Katharina Rhein (2019, S. 104ff) zeigt. Aufgrund des Ausländer-Paradigmas im deutschen Gastarbeiter-Diskurs sind explizit rassifizierende Ausdrucksformen nicht erforderlich gewesen. Die Trennung wurde durch die nationale Grenzziehung gesichert, die Gastarbeiter*innen konnten keine Staatsbürger*innen werden.

In der Gegenwart erfüllt der inzwischen kulturalisierte Rassismus die Funktion der Trennung in nationale „Wir-Gruppe“ und „Andere“. Insbesondere muslimischen Migrant*innen wird eine Unterwanderung der national-kulturellen Ordnung unterstellt. Ein Instrument dieser Unterstellung ist die Zuschreibung eines spezifisch muslimischen Antisemitismus, der als importiert gilt, weil Muslime in dieser Denkweise als nichtzugehörig zur deutschen Gesellschaft und zum europäischen Kulturraum markiert werden. Der darin sich ausdrückende Kulturrassismus, den Étienne Balibar „Neo-Rassismus“ nennt (Balibar 1990; 2002), ist kein neues Phänomen, nur hat er in der islamischen Religion einen neuen Aufhänger gefunden. In den fundamentalistischen Ausprägungen eines politisch instrumentalisierten Islams ist dieser Antisemitismus real vorhanden. Darüber ist zu sprechen, ohne diese ideologische Konstante auf die muslimische Bevölkerung in Deutschland und Europa zu übertragen. Zumal für viele das eigene Muslimisch-Sein gar keine so große Rolle in ihrem Leben spielt, gäbe es den antimuslimischen Rassismus nicht. Darin ähnelt dieser dem Antisemitismus, der viele europäische Juden und Jüdinnen traf, die ihr Judentum eher gelegentlich oder gar nicht als relevant für ihren Alltag auffassten.

Antiziganistischer Rassismus und Antisemitismus

Geschichtsbewusstsein kann für Rassismuskritik sensibilisieren, wenn bspw. die spezifische Geschichte des Völkermordes an den europäischen Sinti und Roma thematisiert wird. Im Nationalsozialismus wird aus dem verbreiteten Ressentiment gegen die als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Europäer*innen eine „Rassenutopie“ (Zimmermann 1996). Zu Rassenforscher*innen erklärte Expert*innen vermessen ihre Körper und ordnen sie in die aus dem Kolonialismus übernommenen Rassenkonzepte ein, um die Sinti und Roma von denen zu unterscheiden und abzusondern, die zur so genannten „Volksgemeinschaft“ gehören. Mit dem „Auschwitz-Erlass“ von 1942, der die Deportation von europäischen Sinti*zze und Rom*nija in das als „Zigeunerlager“ bezeichnete Terrain in Auschwitz-Birkenau verfügte, begann der systematische Massenmord, dem nach neueren Forschungen etwa 200.000 Sinti*zze und Rom*nija zum Opfer gefallen sind (vgl. Fings 2019) und den die Bundesregierung erst 1982 als Völkermord anerkannt hat. Diese verspätete Anerkennung ist ein bedeutendes Element in der aktuellen Auseinandersetzung mit antiziganistischem Rassismus. Die lange gedenkpolitische Missachtung ist Ausdruck einer Kontinuität der Nichtzugehörigkeit.

Genauso wie der Antiziganismus setzt sich auch der Antisemitismus nach 1945 fort, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Während die Sinti und Roma mit den Kontinuitäten ihrer Kriminalisierung und mit der Missachtung ihrer rassistischen Verfolgungsgeschichte konfrontiert sind, erfahren die Juden eine Täter-Opfer-Umkehr im sekundären Antisemitismus. Es wird ihnen unterstellt, vom Holocaust zu profitieren und die ganze Welt moralisch unter Druck zu setzen, um eigene Interessen durchsetzen zu können. Auf unterschiedliche Weise werden in beiden ideologischen Mustern Schuld, Verantwortung und Verpflichtungen zur Entschädigung abgewehrt. In den sekundären Antisemitismus gehören auch dessen israelbezogene Ausprägungen. Die sogenannte „Israel-Kritik“ – ein Wort, das es für kein anderes Land gibt–, macht aus dem Staat Israel eine Täter-Figur, um dessen pauschale Verwerfung zu legitimieren und eigenes Involviertsein in globale politische Problemlagen zu verdrängen. Deshalb handelt es sich auch nicht um Kritik, sondern um den Wunsch, diesen Staat zum Verschwinden zu bringen. Bei einer konkreten, auf bestimmte Akteure und Maßnahmen bezogenen Kritik kann es demgegenüber auch gelingen, nicht antisemitisch zu argumentieren. 

Antisemitismuskritik im Kontext der Migrationsgesellschaft 

Durch die Auseinandersetzung mit Antisemitismus innerhalb rassismuskritischer Bildungsarbeit ergeben sich neue Herausforderungen. Wolfram Stender charakterisiert die Situation im Forschungszusammenhang als eine „ungewohnte Konfrontation“ von Rassismus- und Antisemitismusforschung (Stender 2008, S. 284). Dies kann auch für die Bildungsarbeit angenommen werden. Auch diejenigen, die selbst von rassistischen und kulturalisierenden Diskriminierungen getroffen werden, können an antisemitische Muster anknüpfen, um komplexe Verhältnisse zu vereinfachen. Weil antisemitische Stereotype als jederzeit aktualisierbares Material im kollektiven Gedächtnis zur Verfügung stehen, werden sie von verschiedenen Seiten eingesetzt, um Erklärungsmuster für eigene Probleme zu finden. In der Situation erfahrener Diskriminierungen von fremd Gemachten in der Migrationsgesellschaft lässt sich Antisemitismus für die Verschiebung des Gegners benutzen. Anstatt die Verursacher eigener Diskriminierungserfahrungen in den Institutionen der Dominanzgesellschaft auszumachen, bietet die antisemitisch markierte Figur des Juden eine Projektionsfläche, auf der komplexe strukturelle Zusammenhänge personifiziert werden können. Mit konkreten jüdischen Personen hat diese Figur nichts zu tun. Die Unterstellung einer machtvollen Position macht es möglich, antisemitisch Markierte mit der Mehrheitsgesellschaft zu identifizieren, indem ihnen eine privilegierte Zugehörigkeit unterstellt wird und Kämpfe anderer Minderheiten um Zugehörigkeit damit in Konkurrenz gesetzt werden. Mit Antisemitismus lässt sich über die gesellschaftlichen Spaltungen hinweg, die durch Rassismus strukturiert sind, ein Feind ausmachen, der der Dominanzgesellschaft zugeordnet wird. Dabei wird der Minderheitenstatus von Juden und Jüdinnen in der deutschen Gesellschaft und in Europa ignoriert, ebenso wie deren Diskriminierungserfahrungen (vgl. Dean 2017).

Subjektorientierung und Perspektivenwechsel 

Erst die Auseinandersetzung mit der unterschiedlichen ideologischen Struktur und geschichtlichen Verankerung von Antisemitismus und Rassismus bietet Grundlagen für eine Bildungsarbeit, die sich der Gegenwartsbedeutung von beidem bewusst ist. Die Geschichte des Rassismus sensibilisiert für Anzeichen gruppenmarkierender Entwertung bis hin zur Entmenschlichung. Die Geschichte des Antisemitismus sensibilisiert für die Wirkung vereinfachender Weltbilder, die auf eindeutige und übermächtige Feinde angewiesen sind und in denen die Idee der Vernichtung angelegt worden ist. In beiden Ideologien kommen Praktiken des Fremdmachens und Ausgrenzens zum Ausdruck.

Antisemitisches und rassistisches Sprechen verhindert eine direkte Auseinandersetzung mit denjenigen, die von Projektionen und Diffamierung getroffen werden. In der Bildungsarbeit wie in den meisten Institutionen dominieren nichtjüdische und nichtmigrantische Perspektiven. Umso wichtiger ist es, über subjektive Erfahrungen mit Antisemitismus und Rassismus zu informieren, um die davon Getroffenen als Subjekte mit Gefühlen und Erfahrungen wahrzunehmen und ihre Stimmen zu hören. Ermöglicht wird so die Konfrontation mit anderen Perspektiven als den dominierenden. Voraussetzung für einen Perspektivenwechsel ist eine Veränderung der Personalstrukturen in Bildungskontexten, um gleichermaßen rassismuserfahrene und antisemitismuserfahrene Perspektiven einzubringen. Zu vermitteln ist dabei ein Bewusstsein dafür, welche Auswirkungen deren alltägliche Nichtberücksichtigung haben. 

Literatur 

Adorno, Theodor W. (2001 [1951]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.

Bauman, Zygmunt (2002): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg. 

Dean, Jihan Jasmin (2017): Verzwickte Verbindungen: Eine postkoloniale Perspektive auf Bündnispolitik nach 1989 und heute. In: Meron Mendel/Astrid Messerschmidt (Hrsg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt/New York: Campus, S. 101-129.

Fings, Karola (2019): Der Völkermord an den Sinti und Roma im Deutschen Reich. Lokale Initiative und nationalsozialistische Rassenpolitik. In: Einsicht 2019, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, 11. Jg., Ausgabe 20, Frankfurt/M., S. 6-15.

Rhein, Katharina (2019): Erziehung nach Auschwitz in der Migrationsgesellschaft. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus als Herausforderungen für die Pädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.

Rommelspacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus? In: Claus Melter/Paul Mecheril (Hrsg.): Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts., S. 25-38.

Stender, Wolfram (2008): Der Antisemitismusverdacht. Zur Diskussion über einen „migrantischen Antisemitismus“ in Deutschland. In: Migration und Soziale Arbeit, 30. Jg., Heft 3/4/2008: 284-290.

Zimmermann, Michael (1996): Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“. Hamburg: Hamburger Edition.

 

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