Empfehlung Lebensbericht

„Asozialität“ in der DDR – Repressionserfahrungen von Frauen. Bericht über ein Zeitzeuginnengespräch

Beitrags-Autor Profil / Kontakt

Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen
und um den Autor kontaktieren zu können.

Hier können Sie sich registrieren.

Bericht über das Zeitzeuginnengespräch mit Martina Blankenfeld zum Stigma der "Asozialität" in der DDR im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Unangepasst. Repressionserfahrungen von Frauen in der DDR“.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Unangepasst. Repressionserfahrungen von Frauen in der DDR“ sprach Martina Blankenfeld im Rahmen eines Werkstattgesprächs am 5. Dezember 2019 mit Birgit Marzinka, Leiterin des Lernortes Keibelstraße, über ihre Erfahrungen als Frau, die in der DDR mit dem Stigma von Asozialiät behaftet war. Blankenfeld wurde 1978 als Jugendliche in die geschlossene Venerologische Station des Städtischen Klinikums Berlin-Buch zwangseingewiesen. In der Umgangssprache wurden solche Stationen abwertend als „Tripperburg“ bezeichnet. Im Gespräch berichtet sie, wie sie in die geschlossene Station gelangte, welche Erfahrungen sie dort machte und wie sich das auf ihr weiteres Leben in der DDR sowie nach 1989 auswirkte.

Zu Beginn führte Marzinka die Anwesenden kurz in das Thema der sogenannten Asozialität ein, die in der DDR als Straftatbestand galt. Der § 249 StGB der DDR („Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“) wurde sehr breit gefasst, sodass unter ihn etwa auch Menschen fallen konnten, die nicht einer Lohnarbeit nachgingen. Auch Prostitution fiel unter diesen Paragrafen, da sie keine erlaubte Arbeit war. Als Strafmaß konnte eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren vollstreckt werden. Der Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung zeigte sich jedoch auch in der Bestrafung von Menschen mit vermeintlich häufig wechselndem*r Geschlechtspartner*in.

Situation in der Familie und Zwangspsychiatrisierung

Die Ausführungen von Martina Bankenfeld begannen in ihrer frühen Kindheit, die von der Krankheit der Mutter und dem gewalttätigen Stiefvater bestimmt war. Ihre Mutter, so Blankenfeld, sei nicht in der Lage gewesen, sie vor den Übergriffen des Stiefvaters zu schützen. Vielmehr musste sie selbst noch im Kindesalter lernen, ihre psychisch kranke Mutter zu beruhigen. Beim Besuchen der Mutter in der Psychiatrie habe sie eine tiefe Abneigung gegen diese Orte entwickelt, an denen „Menschen auch an Bäume angebunden waren“. Diese Horrorvorstellung darüber, was in einer Psychiatrie passieren könne, begleite sie seither. Blankenfeld schilderte, wie ihr die Rücksichtnahme auf die Mutter und die fehlende Betreuung und Kommunikation mit vertrauten Bezugspersonen zusetzte. Durch mehrere Schulwechsel aufgrund der längeren Krankenhausaufenthalte der Mutter, war dann auch ihre Versetzung in die nächste Klasse gefährdet. Statt Hilfe im Umgang mit der Mutter zu erhalten, wurde ihr gesagt, sie solle fleißig und lieb sein. Der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater wurde als „blühende Fantasie“ abgetan, Fürsorge erhielt sie nicht.

Freundschaften wurden als „Kontakt zu einer negativen Freizeitgruppe“ ausgelegt. Da auch der leibliche Vater keine Hilfestellung leistete, beschloss sie, sich mit den Medikamenten der Mutter das Leben zu nehmen: „Mein Leben war so konfus. Ich wusste, es würde diesen Tag geben.“ Der Suizidversuch endete für sie zunächst im Kinderkrankenhaus Lindenhof in Berlin-Lichtenberg. Von dort aus brachte die Jugendfürsorge sie in das am Stadtrand gelegene Buch. Sie beschrieb ihren Aufenthalt im Krankenhaus als die Fortsetzung ihrer bisherigen Erfahrungen: „Das Gefühl, dass alle irgendetwas wissen, aber keiner kommuniziert.“ Die Krankenschwester stellte ihr „verhörmethodisch“ Fragen: zu sexuellen Beziehungen, zu Selbstbefriedigung – während sich Blankenfeld selbst fragte: „Wo bist du hier eigentlich?“ Die Fürsorge, die sie von den Ärzt*innen erhofft hatte, blieb aus. Stattdessen habe sie in diesem Moment, als die Stahltür der geschlossenen venerologischen Station des Krankenhauses in Berlin-Buch hinter ihr zufiel, Angst gehabt, sie sei nun „in der Klapse“.

Venerologische Stationen – ein staatliches Disziplinierungsinstrument

Marzinka ergänzte allgemeine Fakten zu den geschlossenen venerologischen StationenDiese waren Bereiche der Krankenhäuser, in denen ausschließlich Mädchen und Frauen nach Geschlechtskrankheiten untersucht wurden. Ziel dieser Stationen war die Disziplinierung der Frauen und Mädchen und ihre Erziehung zu dem, was als sozialistische Persönlichkeit galt. Etwa 70 Prozent der Untersuchten waren gesund, so Marzinka und durch die Aufnahme in die Station sollten vielmehr „Herumtreiberei“ und „Arbeitsbummelei“ unterbunden werden. Es sei ein System von Disziplinierung und Strafe gewesen, die Eingewiesenen lebten unter haftähnlichen Bedingungen. Im Jahr 1968 gab es z.B. DDR-weit 2.763 Fälle. Die Zeitzeugin merkte an, dass es in der venerologischen Station in Berlin-Buch zwischen 1971 und Anfang der 80er Jahre etwa 2.000 Fälle gab. Doch hatten die meisten DDR-Bürger*innen nicht von diesen Stationen gewusst: „Es war etwas, das unter dem Radar passierte.“ 

Blankenfeld beschrieb die Station als vergittert und „hermetisch abgeschlossen“, die Fenster aus verdrahtetem Milchglas ließen sich nicht öffnen. Sie erinnerte sich daran, dass eine Schwangerschaftsuntersuchung ohne Vorgespräch oder Erklärung durchgeführt wurde. Der Grund, warum sie auf dieser Station war, wurde ihr von dem behandelnden Arzt nicht mitgeteilt. Es fanden zudem jeden Tag morgendliche gynäkologische Untersuchungen statt, die als Entnahme von „Kulturabstrichen“ bezeichnet wurden und die Blankenfeld in ihrer Ausführung als brachial und schmerzhaft charakterisierte. Zudem mussten die Mädchen und Frauen ohne nähere Aufklärung Schminke auftragen oder sich Allergietests auf ihrem Rücken unterziehen. Weshalb diese Tests stattfanden, erschloss sich der Zeitzeugin erst später: Sie recherchierte, dass diese der Forschung dienen sollten. 

Aus ihrer Jugendamtsakte erhielt sie nach dem Ende der DDR schließlich die Erklärung für ihre Aufnahme in die Station. Nach ihrer Erholung vom Suizidversuch lag eine vorläufige Heimanweisung vor – Begründung: „Die behandelnde Ärztin der Mutter und der Abschnittsbevollmächtigte haben beobachtet, dass sie in einer negativen Freizeitgruppe aktiv ist und dort durch massives Fehlverhalten auffällt.“ Dieser Abschnittsbevollmächtigte äußerte, dass sie sich im Arbeiterwohnheim herumtreibe und häufig wechselnde Geschlechtspartner gehabt habe. Blankenfeld führte aus, es habe in der DDR ein gesetzlich vorgeschriebenes dreistufiges Verfahren gegeben, an dessen Ende erst – bei Nichtbefolgen von Einladungen oder Verweigerung von Untersuchungen – die Einweisung in den „Zellentrakt“ der geschlossenen venerologischen Abteilung gestanden habe. Daran habe man sich in ihrem Fall nicht gehalten. Sie bezeichnete auch in diesem Zusammenhang die Behandlung, die sie in Buch erhalten habe, noch einmal als Tortur. 

Auf Nachfragen aus dem Publikum zu den Experimenten mit Schminkutensilien und Allergenen charakterisierte Blankenfeld diese als Menschenversuche, die ohne Information und Einverständnis der betroffenen Frauen und Mädchen vorgenommen wurden. Sie erklärte den Anwesenden, wie ihre Recherche sie in das Berliner Landesarchiv und zu Rosemarie Pumb, die sich mit der Erforschung der NS-Euthanasie beschäftigt, führte. Sie fand Dokumente und Materialien, die belegen, dass mit diesen Testergebnissen Geld verdient wurde. 

Nach drei Wochen auf der Station kam Blankenfeld ins Durchgangsheim nach Alt-Stralau. Vorgesehen war eine Aufenthaltszeit von wenigen Wochen – Blankenfeld blieb für mehrere Monate. Auch dort wurden wieder gynäkologische Untersuchungen durchgeführt. Es folgte ihre Aufnahme in den Jugendwerkhof „August Bebel“ in Burg. Zum Thema Jugendwerkhöfe herrschte im Publikum die Vorstellung vor, dort seien nur Straftäter*innen gewesen, was Blankenfeld richtigstellte: Die Jugendwerkhofe waren Teil der „Erziehung zur Arbeit“ für Kinder ab 14 Jahren, in Burg erwarb man innerhalb von 18 Monaten den Teilfacharbeiter-Abschluss. „Es war kein Spezialheim für Schwererziehbare“, so Blankenfeld. Da sie nach Ablauf der Ausbildungszeit in dieser Einrichtung erst 16 Jahre alt war und somit wieder zu ihrer Mutter gemusst hätte, beantragte sie eine Verlängerung. Sie konnte eine Pädagogin überzeugen, bis zu ihrem 18. Geburtstag bleiben zu können.

Auch nach ihrer Entlassung blieb die Fremdbestimmtheit beherrschend in ihrem Leben in der DDR. Ihre beruflichen Vorstellungen als Gärtnerin oder Tierpflegerin zu arbeiten, wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen musste sie in der Stadtwirtschaft (Reinigung öffentlicher Anlagen) arbeiten. Da in ihrer Kaderakte verzeichnet war, sie sei eine „kriminell gefährdete Person“, hatten ihre Bewerbungen um andere Stellen keinen Erfolg. Nachdem sie auf eigene Bemühungen dann eine Arbeit als Verkäuferin antrat, erfuhr sie, dass sie dort Arbeitsplatzbindung hatte. Ihr Traum, am Theater an der Parkaue zu arbeiten war nicht mit ihren bisherigen Abschlüssen vereinbar. Als 1987 innerhalb des Scheidungsverfahrens von ihrem Mann auch die Frage nach dem Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn aufgeworfen wurde, wurde vom Kindsvater ihre Vorgeschichte im Heim und im Jugendwerkhof angeführt. Es stand daher schnell in Frage, ob sie das Kind versorgen könne und sie war gezwungen, Personen aus ihrem Umfeld beizubringen, die das bezeugen konnten. In der DDR wurden bei Scheidungen das Sorgerecht für die Kinder meist den Müttern zugesprochen.

Kampf um Anerkennung des Unrechts

Die Anerkennung des erfahrenen Unrechts der Zeitzeugin nach dem Ende der DDR interessierte die Zuhörenden. Zunächst wollte sie das alles ruhen lassen, sagt Blankenfeld, sich da einfach „herausarbeiten“. Die mit der Anerkennung verbundene Bürokratie im Deutschland nach 1990 stellte zudem eine Hürde dar. Vertrauen hat sie weder in Ärzte noch in andere Menschen, die mit Formularen hantieren: „Fragebögen sind für mich wie ein Verhör.“ Die Suche nach einer Arbeit war somit schwer, wie auch die späteren Rehabilitationsanforderungen. Für ihren Antrag auf Weiterbildung musste sie ein Gutachten vom Amtsarzt einholen. Oftmals erhielt sie den Ratschlag, sich therapieren zu lassen. Nach langem Bemühen wurde ihr die Ausbildung zur Theaterpädagogin gezahlt. 

Über die Beauftrage des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und deren Aufruf an die Frauen, die in der „Tripperstation“ in Halle eingesperrt waren, erhielt sie auch Informationen zu ihrer eigenen Entschädigung. Doch sei es mühselig, die Akten dazu zu erhalten. In ihrem Fall war daher bisher keine Rehabilitation möglich, obgleich ein neues Gesetz in Berlin verabschiedet wurde. Die Bundesländer handhaben dies unterschiedlich. In Berlin muss sich der Aufenthalt in Heimen auf 90 Tage summieren, außerdem muss eine politische Verfolgung nachgewiesen werden, damit es zur Entschädigung kommt. Politisch sei ihr Fall, der Paragraf existierte ja. Die Gewalt, die sie in ihrer Familie erfahren habe, sei jedoch davon ausgenommen. Blankenfeld möchte auch andere Frauen motivieren, sich dieser Geschichte zu stellen: „In den Archiven in Leipzig wurden gerade erst wieder 5.000 Patientenakten gefunden.“ Sie bemerkte abschließend, dass es schwer sei, an die Akten zu gelangen und dass sie sich mehr politischen Druck auf die Ämter, die diese aufbewahren, wünsche. Eine Zuhörerin fand es mutig, dass Blankenfeld über ihre Geschichte so offen spreche. Sie könne gar nicht anders, als zu sprechen, entgegnete Blankenfeld. 

Das Zeitzeuginnengespräch mit Martina Blankenfeld war die vierte Veranstaltung der Veranstaltungsreihe „Unangepasst. Repressionserfahrungen von Frauen in der DDR“.  

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.