Polen 39. Wie deutsche Soldaten zu Mördern wurden
Von Lucas Frings
Zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen strahlte Arte am 1. September 2019 die Dokumentation „Polen 39. Wie deutsche Soldaten zu Mördern wurden“ aus. In einer Mischung aus zeitgenössischen Film- und Fotoaufnahmen, Brief- und Tagebuchauszügen, Expert*inneninterviews und Graphic Novel-Animationen zeichnet der knapp 50minütige Film ein Bild der ersten Kriegsmonate.
Die zeitliche Beschränkung insbesondere auf den September 1939 ist eine Stärke von „Polen 39“. Durch die dichte Beschreibung des Vorrückens der deutschen Armee und der genauen Datierung zahlreicher Verbrechen von Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen wird deutlich, dass der Überfall auf Polen von Beginn an gegen die polnische Zivilbevölkerung gerichtet war und Jüdinnen*Juden im besonderen Fokus von Erniedrigungen und Misshandlungen standen.
Anhand von drei Protagonisten werden Wege im Krieg und unterschiedliches Verhalten exemplarisch dargestellt. Dabei stehen sich vor allem die Geschichten des Hauptsturmführers Erich Ehlers und des Reservisten Wilhelm Hosenfeld gegenüber. Ehlers ist Teil der Einsatzgruppen, die hinter der Wehrmacht nachrücken. Bereits an seinem ersten Einsatzort lässt er drei Menschen hinrichten. In seiner Sprache und einem Fotoalbum wird seine zutiefst antisemitische Einstellung deutlich. Hosenfelds Biographie ist bekannter, sein Handeln wurde in der verfilmten Autobiographie „Der Pianist“ von Władysław Szpilman einem breiteren Publikum näher gebracht. Als Reservist eingezogen beobachtet er Verbrechen an der Zivilbevölkerung, zeigt sich dieser gegenüber empathisch und wird bis zum Ende des Krieges mehreren Menschen helfen zu überleben. An ihm zeigt sich eine Verwandlung vom von der NS-Ideologie überzeugten Weltkriegsveteran zum von der Grausamkeit Schockierten, der seinen „grauen Rock in Fetzen reißen“ will. Etwas weniger kommen die Erzählungen von Walter K. zum Tragen. Neben dem brutalen überzeugten Nationalsozialisten Ehlers und dem „Gerechten unter den Völkern“ Hosenfeld nimmt K. im Film die Rolle des einfachen, niedrigrangigen, kämpfenden Soldaten ein. Er wird im Verlauf des Krieges auch an anderen Fronten eingesetzt. Aus seinem Tagebuch wird eine Passage von Anfang September 1939 entnommen, in der er schreibt, er habe „den Krieg mit allen Schrecken kennengelernt“.
Die Zitate der Protagonisten oder aus anderen Schriftstücken stellen das Zentrum des Filmes dar. Dabei verläuft die Erzählung auch chronologisch anhand exemplarischer Verbrechen im September 1939, wie einer Vergewaltigung in Kielce, dem Massaker an Zivilist*innen in Pludwiny am 12. September sowie einer Razzia in Radom, am 22. September, bei der Ehlers Einheit an der besonderen Demütigung von Jüdinnen*Juden beteiligt war. Auf einer Karte werden die Bewegungen der jeweiligen Truppenteile dargestellt und kurze Einschübe etwa zur Vorkriegszeit oder Slawen- und Polenhass in deutschen Zeitschriften sowie die Kommentierung von Expert*innen – mehrheitlich Historiker*innen – halten die Geschichten zusammen und liefern die notwendige Kontextualisierung.
Die einordnenden Wissenschaftler*innen vermitteln dabei sowohl eine deutsche als auch eine polnische Perspektive. Besonders hervorzuheben sind der Sozialpsychologe Detlef Fetchenhauer und der Historiker Jochen Böhler, der zu Einsatzgruppen und Wehrmacht in Polen geforscht hat und das Verhältnis dieser Einheiten aufschlussreich erläutert. Fetchenhauer greift mehrfach Stichwörter aus Zitaten oder Kommentaren im Film auf und erläutert die sozialpsychologischen Muster hinter den Handlungen der Soldaten. So verweist er auf die Argumentation einer vermeintlichen Notwehr bei Verbrechen gegen die polnische Zivilbevölkerung oder beleuchtet, ähnlich wie Christopher Browning oder Harald Welzer in ihren Studien, die Frage nach fehlender Weigerung an Erschießungen teilzunehmen. Einen weiteren interessanten Aspekt spricht die Historikerin Maren Röger auf, die über die weniger bekannten sexuellen Übergriffe von Wehrmachtssoldaten auf polnische Frauen sowie den Vergemeinschaftungseffekt der Truppe bei Massenvergewaltigungen berichtet.
Es stellt sich die Frage nach der Gewichtung der ausgewählten Biografien und Beispiele. Zwar betont der Film von Anfang bis Ende die große Anzahl von „unfassbaren Verbrechen“ gegen das Kriegsvölkerrecht und lässt keinen Zweifel an den geplanten und die Regel darstellenden Übergriffen und Misshandlungen der Zivilbevölkerung. Die prominente Darstellung der Biographie Hosenfelds sowie die Aufführung weiterer Formen des Widerstands, wie die Weigerung des Generalstabsoffiziers Rudolf Langhäuser Gefangene zur Ermordung freizugeben oder Unterstützung der Zivilbevölkerung durch Wehrmachtsoldaten rufen unrepräsentativ viele Formen von Menschlichkeit auf. Vermutlich soll hier aufgezeigt werden, dass es (selten genutzte) Möglichkeiten zur Befehlsverweigerung und Zivilcourage gab, dennoch kann der stets begleitende Hinweis auf den jeweiligen Einzelfallcharakter nicht die Wirkkraft der positiven Geschichten ausgleichen.
Problematisch ist die nicht gekennzeichnete und unkommentierte Verwendung von Kriegsbildern der NS-Propaganda. Ist an manchen Stellen deutlich, dass es sich hierbei etwa um Ausschnitte aus Filmen Leni Riefenstahls handelt, reproduzieren die Bilder von heranrauschenden Panzern und pausenlos feuernden Geschützen die geplante Inszenierung einer schlagkräftigen deutschen Armee. Mehr Präzision hätte dem Film von Alexander Hogh und Jean-Christoph Caron an dieser Stelle gut getan, da gleichzeitig deutlich wird, dass die Intention eine andere ist.
Der Film endet mit einem Blick auf die Nachkriegszeit, in der diejenigen, die den Befehl verweigerten oder die versuchten der polnischen Zivilbevölkerung zu helfen, keine Würdigung fanden. „Sie bekamen erst später eine Stimme.“
Der Dokumentarfilm zeichnet ein eindrückliches Bild der ersten Kriegswochen und macht insbesondere die geplante Grausamkeit und die Beteiligung von SS und Einsatzgruppen zu einem so frühen Zeitpunkt der breiten Öffentlichkeit zugängig. Der gewählte Stil mit der Überlagerung und Verbindung von Originalaufnahmen, ansprechenden Graphic Novel-Passagen und Kontextualisierung durch Expert*innen macht die Dokumentation kurzweilig ohne den Inhalt in den Schatten der Form zu stellen.
„Polen 39. Wie deutsche Soldaten zu Mördern wurden“ ist noch bis zum 29. November 2019 in der Arte Mediathek abrufbar.
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- 25 Sep 2019 - 07:08