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Gedenk- und Bildungsarbeit gemeinsam mit unseren polnischen Nachbar*innen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Vasco Kretschmann ist Leiter des Fachbereichs Friedenspädagogisches Arbeiten an Schulen und Hochschulen beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Er war zuvor als Kulturreferent am Oberschlesischen Landesmuseum tätig.

Von Vasco Kretschmann

Kriegsgräberstätten sind Orte des Erinnerns und Lernorte der Geschichte. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. setzt sich für den deutsch-polnischen Dialog ein. Seine Gedenk- und Bildungsarbeit ist ein Ausdruck der engen Zusammenarbeit mit den polnischen Nachbar*innen. Im Rahmen von internationalen Jugendbegegnungen befassen sich Jugendliche und junge Erwachsene aus Deutschland, Polen und anderen Ländern mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, um eine friedliche und gemeinsame Zukunft zu gestalten.

Der Zweite Weltkrieg begann vor 80 Jahren mit dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Republik Polen, er forderte Millionen Opfer, Soldat*innen und Zivilist*innen – 22 Prozent der polnischen Bevölkerung verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben. Der Angriffskrieg war die Voraussetzung für beispiellose Verbrechen bis hin zum Völkermord an den europäischen Jüd*innen. Bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Kriegstoten in Deutschland, dem Volkstrauertag, wird in diesem Jahr dem verbrecherischen Überfall auf Polen und seinen Nachwirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis bis heute gedacht.

Bereits seit dem Ende des Ersten Weltkrieges arbeitet der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge dafür, die Gräber der deutschen Kriegstoten im Ausland zu pflegen und zu erhalten. 1919 gegründet, wurde im Volksbund schon bald der Gedanke der Versöhnung von Nationalismus und Revanchismus verdrängt. Ab 1933 unterwarf sich der Volksbund breitwillig dem Nationalsozialismus. Heute jedoch ist der Volksbund eine von über 300.000 Mitgliedern und Spendern getragene Initiative für den Frieden mit vielen Partnern im In- und Ausland. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs fördert er besonders den Dialog in Mittel- und Osteuropa, so auch die Verständigung und die Zusammenarbeit mit Polen.

17 Millionen Tote des Ersten Weltkrieges und 55 Millionen Tote des Zweiten Weltkrieges sind das furchtbare Ergebnis von Nationalismus, Diktatur und Völkermord. An vielen Orten Polens sind die Spuren des Krieges sichtbar, bei dem über sechs Millionen polnische Staatsbürger*innen ihr Leben verloren. An mehr als 1.000 Orten der heutigen Republik Polen befinden sich die Gräber der im Ersten Weltkrieg ca. 400.000 gefallenen deutschen Soldat*innen. Die 300.000 namentlich registrierten deutschen Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges befinden sich sogar an ca. 19.000 Todes- und Grablageorten. Bei fast 180.000 in Polen gefallenen deutschen Soldat*innen ist der Verbleib unbekannt. Die Grundlage der Arbeit des Volksbundes in Polen bildet heute das 2005 in Kraft getretene Kriegsgräberabkommen sowie die in Warschau ansässige deutsch-polnische Stiftung „Gedenken“ (Fundacja „Pamięć“) zur Unterstützung von Umbettung-, Bau- und Pflegemaßnahmen. Wie in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas entstehen auch in Polen zentrale Sammelfriedhöfe für die deutschen Toten des Zweiten Weltkrieges - insgesamt 13 Anlagen. Zusätzlich werden einige große bestehende Friedhofsanlagen erhalten bleiben. Mit diesem Konzept soll eine kostengünstige Pflege realisiert werden.

Die Kriegsgräberstätten wurden als Orte der Trauer und Erinnerung geschaffen. Der Volksbund begreift diese Friedhöfe für Kriegstote seit über sechzig Jahren auch als Lernorte für ein gemeinsames und friedliches Europa. Seine friedenspädagogischen Bildungsprogramme für Jugendliche und junge Erwachsene helfen, die Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt lebendig zu halten und demokratische Werte zu fördern. Der Volksbund betreibt heute als einziger Kriegsgräberdienst der Welt vier Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten – in Frankreich, Belgien, den Niederlanden sowie auf der Insel Usedom an der polnischen Grenze.

Deutsch-polnische Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte

Die Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte (JBS) Golm auf Usedom ist seit 2005 ganzjährig für Jugend- und Erwachsenengruppen sowie für Individualreisende geöffnet. Die Kriegsgräberstätte Golm und die in Sichtweite gelegene deutsch-polnische Grenze sind Ausgangspunkte für Bildungsangebote des Volksbundes. Die Anhöhe Golm ist die höchste Erhebung auf der Insel Usedom. Ab Herbst 1944 entstand hier ein Friedhof für Wehrmachtsangehörige und für Zivilist*innen, die beim Luftangriff auf Swinemünde (heute: Świnoujście) am 12. März 1945 ums Leben kamen. Auf der Kriegsgräberstätte können sich die Besucher*innen per kostenloser App oder in der Dauerausstellung „Gesichter des 12. März 1945“ über die Hintergründe des Luftangriffes und verschiedene Biografien informieren. 

Die JBS Golm vermittelt Zeitgeschichte durch moderne Methoden, um Diskussionen über nationale und europäische Erinnerungskulturen anzuregen. Ein deutsch-polnisches Team aus Pädagog*innen, Historiker*innen und Kulturvermittler*innen unterstützt und realisiert ausgewogene Bildungsprogramme. Die Jugendbegegnungen und Workcamps führen jedes Jahr junge Menschen aus ganz Europa zusammen, um gemeinsam ein Zeichen für ein friedliches und tolerantes Miteinander zu setzen. Während der Projekte begegnen sich junge Menschen aus verschiedenen Ländern, lernen andere Kulturen kennen und knüpfen internationale Freundschaften. Sie befassen sich interaktiv mit der Geschichte der beiden Weltkriege und erforschen u.a. Biografien von Kriegstoten, besuchen Gedenkstätten, lernen und diskutieren in thematischen Workshops mit Gegenwartsbezug. 

Internationale und intergenerationelle Begegnungs- und Bildungsangebote

Ein Beispiel einer Jugendbegegnung auf der JBS Golm ist das deutsch-polnische Kidcamp „Auf den Spuren der Geschichte“. Das Format „Kidcamp“ richtet sich an Kinder und Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren. Wie die deutsch-polnischen oder internationalen Workcamps für junge Erwachsene finden diese vorwiegend im Sommer statt. Sowohl die Leiter der Camps als auch der Jugendbegegnungsstätten sind in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen qualifiziert. Die deutsch-polnische Gruppe erschließt sich die Kriegsgräberstätte selbstständig anhand von altersgerechten Fragebögen. Sie lernen Einzelschicksale kennen und knüpfen durch Themenmodule wie „Jugend extrem“ zur Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus an ihre eigene Lebens- und Erfahrungswelt an. Das gegenseitige Kennenlernen und die Begegnung stehen bei der Altersgruppe im Vordergrund:  Sprachanimationen und die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Stereotype unterstützen das interkulturelle Lernen. Wie bei nahezu allen Angeboten der JBS Golm finden die Programme auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze statt, auch die Ausflüge nach Ahlbeck oder Świnoujście sowie nach Greifswald, Stralsund und Szczecin (Stettin) beziehen die deutsch-polnische Umgebung in das Bildungsprogramm ein.

Ein trinationales Workcamp für junge Erwachsene fand dieses Jahr auf den Kriegsgräberstätten in den Masuren, in der Region Wielbark (Willenberg) statt. Dieses Projekt ermöglichte nicht nur eine deutsch-polnische-russische Jugendbegegnung, sondern zugleich auch eine intergenerationelle Begegnung, da hier Teilnehmer*innen des Jugendworkcamps und eines Förderworkcamps für Erwachsene für acht Tage zusammenkamen – insgesamt 35 Personen. 

In Zusammenarbeit mit der Stiftung „Fundacja Borussia“ aus Olsztyn (Allenstein) fand das Programm mit deutschen, polnischen sowie russischen Teilnehmer*innen aus dem nahe gelegenen Kaliningrader Oblast in der masurischen Gemeinde Wielbark in der Nähe von Szcztytno (Ortelsburg) statt, wo es mehrere pflegebedürftige Kriegsgräberstätten aus dem Ersten Weltkrieg gibt. Auf den Kriegsgräberstätten verrichten die Jugendlichen und Erwachsenen gemeinsam Pflege- und Instandhaltungsarbeiten, um diese Orte der Mahnung für den Frieden zu erhalten. Gearbeitet wurde auf einer Kriegsgräberstätte aus dem Ersten Weltkrieg, auf dem sowohl deutsche als auch russische Soldaten bestattet sind. Bei dem intergenerationellen und trinationalen Projekt wurde viel erreicht: Der Zaun wurde neu gestrichen, die Grabflächen von Unkraut befreit, Rasenkantensteine neu gesetzt und etwa 100 der 150 Grabsteine mit lesbaren Inschriften versehen und diese dokumentiert. Zum abwechslungsreichen Bildungsprogramm zählte ein durch einen Historiker begleiteter Ausflug zu den Schlachtfeldern bei  Grunwald (Grünfelde) und Stębark (Tannenberg) sowie Tagestouren nach Danzig und Warschau mit Empfang in der deutschen Botschaft. Workshops zur Geschichte und zu aktuellen friedenspädagogischen Fragestellungen rundeten das Programm ab. Wie bei den meisten Bildungsprogrammen des Volksbundes bildete eine gemeinsam gestaltete Gedenkfeier den Abschluss der Begegnung. Die Feier dient auch der Reflexion der Erlebnisse und bietet Raum für die individuellen Schlussfolgerungen der Teilnehmenden. Auf dem Instagram-Profil des Camps sind diese persönlichen Statements als Botschaften für den Frieden erhalten. 

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bietet jährlich ähnlich strukturierte Programme für unterschiedliche Altersgruppen an. Auch 2020 wird es wieder eine deutsch-polnische Begegnung in den Masuren bei einem Workcamp auf den Kriegsgräberstätten des Ersten Weltkriegs, ein Kidcamp für Jugendliche bis 14 Jahren in der JBS Golm und eine trilaterale deutsch-polnisch-französische Jugendbegegnung in Frankreich angeboten. Die Versöhnung und Begegnung mit unseren  polnischen Nachbarn erfordert die Kenntnis der gemeinsamen Geschichte und spezifischen Erinnerungskulturen, daher bieten Jahrestage einen besonderen Anlass der Auseinandersetzung mit den deutsch-polnischen Beziehungen. Im Jahr 2020 werden bei den drei deutsch-polnischen Jugendbegegnungen des Volksbundes der 50. Jahrestag des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau und der 40. Jahrestag der Gründung von Solidarność die Bildungsangebote bestimmen. Zugleich jährt sich der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, anlässlich dessen deutsch-polnische Gedenkveranstaltungen auf der Kriegsgräberstätte Golm sowie in Danzig geplant sind. 

 

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