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»Wir wollten unsere Zukunft nicht versäumen.« Geschichten von Romnja aus Rumänien

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Rom_nja, die aus Südosteuropa nach Deutschland, sei es zeitlich begrenzt oder auf Dauer einwandern, werden häufig unter dem Begriff „Armutsflüchtlinge“ gefasst. Hinter dieser Wortwahl verbergen sich Stigmatisierungen und Homogenisierungen der, in sich vielfältigen und unterschiedlichen, Rom_nja-Gruppen. Ausgeblendet werden im öffentlichen Diskurs über sogenannte Armutsflüchtlinge die Ursachen der Migration in den jeweiligen Herkunftsländern. Und, es ist ein Diskurs aus dem Rom_nja ausgeschlossen sind – er zeichnet sich durch ein Sprechen der Dominanzgesellschaft über die Rom_nja aus. Formen und Versuche von Selbstbehauptung von Angehörigen der Minderheit in den südosteuropäischen Herkunftsländern werden dabei in der Regel ebenso ausgeblendet, wie historische Hintergründe und aktuelle antiziganistische sowie soziale Diskriminierungen, die Teil der Situation von Rom_nja sind.

Im Rahmen des Modellprojekts „Biografien der Vielfalt“ haben die Neuköllner Stadtteilmütter gemeinsam mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) im November 2017 eine Studienreise nach Rumänien unternommen, während der sie sich mit der Geschichte von Rom_nja in diesem südosteuropäischen EU-Staat, mit Rom_nja-Projekten und -Biografien auseinandergesetzt haben. Dokumentiert werden die Eindrücke und Reflexionen dieser Reise in der vorliegenden 50-seitigen Broschüre »’Wir wollten unsere Zukunft nicht versäumen.’ Geschichten von Romnja aus Rumänien.« Die Auseinandersetzung der Neuköllner Stadtteilmütter mit der Geschichte des Nationalsozialismus reicht bis in das Jahr 2006 zurück. Darüber hinaus sind sie als „Familienberaterinnen mit Migrationshintergrund“ (S.7) beratend und unterstützend in ihren Communities tätig. Geschichte(n), Rassismus und Migration sind Themen, die immer wieder eine Rolle bei den Stadtteilmüttern spielen und die auch während der Studienreise Fragestellungen aufwarfen, etwa nach der Prägung der Minderheit durch eine Geschichte jahrhundertelanger Verfolgungen oder danach, ob es „nicht auch der Rassismus in unseren deutschen Debatten (ist), der uns die Themen »Roma« und Migration immer wieder verknüpfen lässt?“ (S. 8). In den Gesprächen mit Mitarbeiter_innen von rumänischen Organisationen wie Agenţia Împreună, Romani Criss und dem Policy Center for Roma and Minorities ging es immer um „Fragen von Sichtbarkeit, Repräsentanz und Deutungshoheit“ (ebda.) und um die Begegnungen von individuellen Geschichten mit dem historischen Kontext.

Die Broschüre enthält eine Einleitung von Jutta Weduwen, Geschäftsführerin von ASF und Sara Spring, Koordinatorin des ASF-Arbeitsbereichs »Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft«. Es folgen sieben Texte, beginnend mit der biografischen Erzählung von Florica Crăciun über ihre Deportation nach Transnistrien im Jahr 1942. Daran thematisch anschließend folgt ein Aufsatz von Petre-Georgian Matei über den Völkermord an den rumänischen Rom_nja und dessen späte Anerkennung. Kati Vatalo berichtet von ihrem ehrenamtlichen Engagement im Rahmen des Policy Center for Roma and Minorities im Bukarester Stadtteil Ferentari, in dem sie selbst lebt. Im Gespräch mit den Neuköllner Stadtteilmüttern hebt Gelu Duminică Soziologe und Geschäftsführer von Agenţia Împreună (»Agency for Community Development Împreună«) als einen Grund für die heutige Situation der Rom_nja die 500-jährige Sklaverei, der rumänische Rom_nja unterworfen waren und verweist auf das Erfordernis die Rom_nja-Communities durch Bildungsteilhabe gegen die Willkür staatlicher Behörden zu stärken. Ebenfalls im Stadtteil Ferentari beheimatet ist Dana Vlasceanu. In ihrem Bericht zeigt sie, welche biografischen Wendepunkte zu ihrem sozialen Engagement und der Gründung eines Stadtteilzentrums geführt haben. Einen gendersensiblen Blick auf die besonderen Hürden bei der Bildungsbeteiligung für Roma-Frauen, also Romnja, werfen die Wissenschaftlerin Carmen Gheorge und die Aktivistinnen der Gruppe h.arta, Maria Christa, Anca Gyemant und Rodica Tache. Dazu gehören neben patriarchaler Diskriminierung ein struktureller Rassismus und Formen erzwungener Integration bei gleichzeitiger Segregation von Kindern aus der Minderheit an Schulen. Vasile Marian Luca fasst die Verfolgungsgeschichte von Rom_nja in Rumänien bis in die Gegenwart zusammen. Vor diesem Hintergrund problematisiert der Osteuropawissenschaftler den ethnisierenden Abwertungsdiskurs entlang der Lebens- und Wohnsituation von Rom_nja.
Abgeschlossen wird die Publikation mit einigen Hinweisen auf weiterführende Literatur, Filme und Online-Publikationen.
»Wir wollten unsere Zukunft nicht versäumen« erhebt nicht den Anspruch Geschichte und Situation der rumänischen Rom_nja erschöpfend darzustellen. Für einen Einstieg in die Thematik ist die Publikation hervorragend geeignet. Ihr besonderer Wert liegt in der Mischung von individuellen Geschichten und ihrer Kontextualisierung.

Die Broschüre ist kostenfrei in gedruckter Form (zzgl. Porto) oder als PDF über das ASF-Infobüro (infobuero [at] asf-ev [dot] de, 030-28 39 5 184) erhältlich. 

 

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