Buchvorstellung: „Ihre Grabstätten befinden sich nicht im hiesigen Bezirk.“
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Von Eike Stegen, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
„Ihre Grabstätten befinden sich nicht im hiesigen Bezirk.“ Diese dürren Worte meldete das Amtsgericht Münster 1949 anlässlich einer Erhebung über den Verbleib der lokalen jüdischen Bevölkerung. Akim Jah vom International Tracing Service (ITS, Bad Arolsen) und Marcus Gryglewski (freier Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz) zitieren sie im Titel ihrer Quellenpublikation zur Deportation der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus.
Über die bloße Edition hinaus ist es den Autoren ein Anliegen, die Quellen als Materialien für die schulische und außerschulische Bildung aufzubereiten. „Wie lese ich ein Dokument?“, fragen die Autoren daher einleitend. Indem Lernende motiviert werden, zunächst die Form einer Quelle zu analysieren und die Fragen nach dem „Wer, Wann, Was, Warum, An wen“ (S. 15) zu stellen, beginnen sie mit „forschendem Lernen“ (S. 14), dass sie – idealerweise – noch weit über die Quelle, ja über die Publikation hinaus zu Fragestellungen führen mag.
So behandelt das vierte Kapitel (S. 48-60) das Beispiel einer „Durchführung vor Ort: ein Transport aus Düsseldorf im April 1942“, der in direktem Zusammenhang mit der im dritten Kapitel („Entscheidungen, Vorgaben und Planungen“, S. 37-47) ausführlich dargestellten Wannsee-Konferenz steht. Die von Akim Jah und Marcus Gryglewski hierzu formulierten weiterführenden Arbeitsimpulse zielen darauf ab, in online zur Verfügung stehenden Recherchemöglichkeiten (beim Bundesarchiv, bei Yad Vashem, bei der Berliner Stolpersteininitiative) die Deportationen in der eigenen Nachbarschaft zu erkunden (S. 49). So wird ein konkreter, leicht verständlicher, unmittelbarer lebensweltlicher Bezug zu den „forschend Lernenden“ und durch sie selbst hergestellt.
Doch auch wenn die Lernenden „nur“ beim Düsseldorfer Beispiel bleiben: Die Erkenntnisse, die sich aus den von den Autoren mit großer Sachkunde ausgewählten (häufig erstmals publizierten) und vom Verlag Hentrich&Hentrich in vertraut sorgfältiger und sehr guter Qualität gedruckten Quellen ableiten lassen, sind gewaltig. Sie zeigen auf, wie die Verwaltungstätigkeiten der Polizeidienststellen mörderisch ineinandergreifen, um die Verschleppung von 941 Jüdinnen und Juden aus Düsseldorf und Umgebung in die Vernichtung zu ermöglichen, vor 77 Jahren, von Januar bis April 1942:
Auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar notiert Eichmann Heydrichs Bemerkung, dass die Deportationen (S. 41, euphemistisch: „Evakuierungen“) begonnen haben. Damit würden „jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind.“ Am 31. Januar gibt Eichmann diese Information über „den Beginn der Endlösung der Judenfrage“ (S. 43) an alle Staatspolizei(Stapo-)leitstellen. Diese wiederaufzunehmenden Deportationen sind also, anders als die ersten Deportationen ab Oktober 1941, Mittel zum Zweck der „Endlösung“, es sind nun Verschleppungen zum Zweck des Völkermords.
So wird durch Eichmanns Schnellbrief auch die Stapoleitstelle in Düsseldorf aufgefordert, „im Zuge dieser Evakuierungsaktion alle Juden“ (S. 44) zu erfassen, in unterschiedlichen Kategorien. Penibel notiert man in der Leitstelle am 6. Februar, zu welcher Uhrzeit welche Landräte, Polizeipräsidien und Polizeiverwaltungen der niederrheinischen Umgebung fernmündlich mit der Zähl-Aufgabe betraut werden. Eine Kategorie, die es zu beachten gilt, ist die Zahl der über 65jährigen. Und eine weitere Kategorie: die der zwar erst über 55jährigen, aber „besonders gebrechlichen Juden“. Aus einem Sammelbogen geht hervor, wie am 7. Februar, also nur einen Tag später, die Zahlen eintreffen, die auch sehen lassen, wie die deutsch-jüdische Gemeinschaft durch Auswanderung und Vertreibung gealtert war: Insgesamt waren von 3.547 erfassten Menschen 2.014 zu den beiden genannten Kategorien gehörig, also alt und/oder gebrechlich (S. 52).
Am 17. März wird detailliert von der Stapoleitstelle Düsseldorf Anweisung zur Deportationspraxis erteilt, darunter: dass Juden den Transport mit 50,- Reichsmark pro Person selbst zu bezahlen haben; und dass in den Melderegistern kein Zielort der Verschleppung genannt werden und stattdessen gelogen werden soll („unbekannt verzogen“, „ausgewandert“, S. 54). Wiederum einen Monat später, am 15. April, hält ein Schreiben die Namen der Polizisten fest, die am Deportationstag Dienst haben sollen, von der Bewachung der Sammelstelle Schlachthof Düsseldorf-Derendorf über die Personendurchsuchung, getrennt nach Männern und Frauen (hier soll auch weibliches Polizeipersonal zum Einsatz kommen), bis hin zur Verschließung und Versiegelung der Wohnungen (S. 55).
Akim Jah und Marcus Gryglewski veröffentlichen zudem die Mitschrift einer gleichzeitig mit der Reichsbahn stattfindenden Besprechung über die kurz bevorstehende Deportation (S. 56, 17. April). Sie offenbart die Pendel-Logistik der Verschleppungen: Die Deportation soll „nach vollständiger Reinigung und Entlausung“ in einem „Russenzug“ erfolgen, also einem Zug, der für den Transport von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus Osteuropa nach Westdeutschland genutzt wurde. Weil die Wagentypen „eine Verladung an der Rampe des Viehhofs nicht möglich“ machen, soll die Deportation ab dem Hauptbahnhof erfolgen – vor aller Augen also, geplant am 22. April um 11:06 Uhr.
Das letzte Schreiben der Stapoleitstelle Düsseldorf ist eine Auswertung nach der Deportation, am 29. April: Selbstmorde, Untertauchen und Einwände des Arbeitsamts wegen Juden „in kriegswichtigen Betrieben“ (S. 57) haben die Zahl der Verschleppten von 1.000 auf 941 sinken lassen, so wird nüchtern-kalt festgehalten. „Eine Liste der evakuierten Juden […] und eine Aufstellung über beschlagnahmte Gegenstände sind als Anlage beigefügt“, und der Raub an den Verschleppten wird weiter dokumentiert: „Nach den z.Zt. hier vorliegenden Unterlagen wurden von den nach Izbica abgeschobenen [!] Juden 126 259,05 RM für das Sonderkonto „W“ […] abgetreten.“ (S. 58)
Das „W“, so erklären Akim Jah und Marcus Gryglewski, steht für „Wanderung“. Doch nicht nur dieser zynische Euphemismus in der Benennung des Kontos lässt die eingangs erwähnten „forschend Lernenden“ Einblick in die unmenschlichen Gedankenwege einer mörderischen Verwaltung nehmen. Die Autoren erklären auch, dass das Sonderkonto „W“ von der Reichsvereinigung der Juden, einer Zwangsvereinigung aller deutschen Jüdinnen und Juden, verwaltet werden musste (S. 58) – auf Befehl des Reichssicherheitshauptamts, dem Wannsee-Konferenz-Leiter Reinhard Heydrich vorstand und in dessen Judenreferat der Konferenz-Protokollant Eichmann seinen Dienst tat.
Eine wichtige Ergänzung nehmen die Autoren vor, indem sie für den Schluss des Kapitels eine Polizeiquelle ganz anderen Inhalts heranziehen: die Aussage von Selma Pardis, einer Jüdin, die nicht zum Transport erschienen war (S. 60). Zwar handelt es sich auch hier um eine von Gestapo-Tätern verfasste Quelle, doch geben ihre beeindruckenden Worte der Verzweiflung und Ausweglosigkeit einen Namen und ein Gesicht. Selma Pardis will sich am 21. April das Leben nehmen, wird aber kurzzeitig von einem Nichtjuden unterstützt und versteckt, kehrt schließlich in ihre Wohnung zurück, wo sie verhaftet wird. Solche Einblicke in die Biografien von Opfern der Verschleppungen sind jedem Kapitel zu eigen; sie brechen die ausschließliche Perspektive der Mord-Verwaltung – dem hier bereits erwähnten dritten Kapitel zur Wannsee-Konferenz ist sogar ein ganzes Kapitel vorangestellt, dass sich ausschließlich mit Überlebenden-Erinnerungen beschäftigt (S. 26-36).
„Die ausgewählten Quellen“, so schreiben Akim Jah und Marcus Gryglewski in der Einleitung (S. 8), „sind ein Zeugnis dessen, was ein antisemitisch-rassistischer Staat und die Mehrheitsgesellschaft der jüdischen Bevölkerung zugefügt haben. Auch heute ist Antisemitismus in der Bundesrepublik und in anderen Ländern nicht verschwunden, sondern wird ganz im Gegenteil zunehmend auch in der Mitte der Gesellschaft wieder salonfähig. Ungeachtet einer fest etablierten langjährigen Gedenk- und Erinnerungskultur wird der Holocaust geleugnet oder in abstoßender Art und Weise verharmlost. Oftmals ist es von engagierten Lehrerinnen und Lehrern abhängig, wie weit die schulische Beschäftigung mit dem Holocaust überhaupt geht.“
Die von den Autoren vorgelegte Handreichung ermutigt nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, sondern alle, die in Gedenkstätten, Museen, Schulen und anderswo pädagogisch zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen arbeiten, weil sie einen niedrigschwelligen Zugang zu wichtigen historischen Quellen schafft – und sie trägt an sich dazu bei, die Erinnerung und die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte wachzuhalten.
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- 26 Feb 2019 - 15:22