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Performatives historisches Lernen in lokalgeschichtlichem Kontext am Beispiel des Projekts „Schwanenmostek Labutíbrückl: Grenzlandkultur 1938 revisited“

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Marcus Reinert ist Theaterpädagoge (BuT) und absolvierte das Studium für Lehramt an Hauptschulen (1. Staatsexamen) mit Geschichte als Schwerpunktfach. Seit 2008 bei Čojč Theaternetzwerk Böhmen-Bayern grenzüberschreitend aktiv, wo er 2014-2018 verantwortlich Jugendbegegnungsprojekte konzipierte und leitete.

Von Marcus Reinert

Eine 13-köpfige Gruppe Jugendlicher aus Bayern und Böhmen kommt im Jahr 2018 an der deutsch-tschechischen Grenze zusammen, forscht und lernt über das Jahr 1938 an diesem spezifischen Ort und zeigt der regionalen Öffentlichkeit in einem Wandeltheater vor Ort, wie das Leben einer jüdischen Familie in dem Dorf Schwanenbrückl (cz. Mostek) an der Grenze zu dieser Zeit gewesen sein könnte. 

Wie allerdings gelingt eine binationale Jugendbegegnung, so dass Sprachbarrieren keine Hindernisse sind und alle von allen lernen - trotz unterschiedlicher kultureller Prägungen? 

In diesem Beitrag möchte ich zeigen, welche Antworten auf diese Herausforderungen im Projekt „Schwanenmostek“ des Čojč Theaternetzwerks Böhmen-Bayern gefunden wurden. 

Wenngleich das Theaternetzwerk bereits auf 18jährige Erfahrung mit der Konzipierung und Durchführung von Jugendbegegnungen zurückgreifen kann, stellen diejenigen mit lokalgeschichtlichem Bezug jedes Mal von Neuem ganz eigene Herausforderungen. 

Dieses Jahr stand das jüdische Leben in der Grenzregion einschließlich der Ereignisse des Krisenjahres 1938 anlässlich der diesjährigen Jubiläen der „Achterjahre“ in der Erinnerungskultur im Mittelpunkt. Wie kann man sich diesem Thema gewinnbringend nähern? Die intuitive Antwort seitens der Theaterpädagogik lautet: mit allen Sinnen!

Was das konkret heißt, soll im Folgenden genauer beschrieben werden und dabei Leitlinien für mögliche ähnliche Projekte aufgezeigt werden. 

Die Ausführungen beziehen sich zu Teilen auch auf die Dokumentation, die in Folge des Projekts entstanden und online abrufbar ist (Reinert/Kopůncová 2018).

Brücken bauende Spiele mit den Sprachen 

Über konventionelle Formen historisch-politischer Bildung hinaus strebt die theaterpädagogische Projektarbeit bei Čojč durch deren spezifische Perspektive danach, Grenzen zu überschreiten: im Spielraum zwischen 'Fiktion und Realität', zwischen Vergangenheit und Zukunftsvision. Gerade auch der Umgang mit Sprache sowie das Agieren in räumlicher Nähe zur Grenze spielt dabei eine wichtige Rolle. Entscheidend ist dabei, gemeinsam durch die Projektarbeit eine Sprache zu entwickeln, in der Erfahrungen und Sichtweisen sowohl deutscher als auch tschechischer Geschichtserzählungen in Kontakt miteinander treten, und diese dann auch als Ensemble zu artikulieren. Oft sind es Metaphern, und neue, zweisprachige Sprachbilder, die Brücken zur Begegnung neu formen. Konkret führte uns der Weg dorthin über die Kunstsprache Čojč (sprich: tscheutsch) - deutsch-tschechisch gemischt. Die konsequente Versprachlichung in dieser Form ermöglicht es, beiderseits der Grenze verständlich zu sein. Ein Beispiel dafür ist bereits der Titel des hier beschriebenen Projekts: Eine Mischung aus dem deutschen und dem tschechischen Ortsnamen des Dorfes „Schwanenbrückl“ bzw. „Mostek“, sowie im Projekt selber auch das Singen von Volks- oder anderen bekannten Liedern mit Elementen beider Sprachen.

Bedeutsamer Lernort

Schwerpunkt der Projektarbeit bildeten Erkundungen, Wahrnehmungen und Recherchen direkt am historischen Ort. Als verbindendes Motto zu den historischen Orten galt die These einer „Grenzlandkultur“ vor dem Zweiten Weltkrieg in der Region, die es im Rahmen des Projekts zu erforschen galt.

In diesem Falle bedeutete dies vor allem das ehemalige Dorf Schwanenbrückl/Mostek, nur wenige Kilometer von der bayerisch-tschechischen Grenze gelegen, inmitten des Naturschutzgebiets Český les (Böhmischer Wald) zu erkunden. Des Weiteren fand eine Exkursion in die nahe gelegene Kleinstadt Ronsperg/Poběžovice statt. Beide Orte eint ihr Bezug zur jüdischen Kultur, weshalb sich an ihnen exemplarisch das jüdische Leben im ehemals vorwiegend deutsch besiedelten Grenzgebiet Böhmens aufzeigen lässt. Durch die aktuelle Dokumentation Regina Gottschalks über die dortige deutsch-jüdische Familie Getreuer bekommen wir einen exemplarischen und seltenen Einblick in die Beziehungen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung in einem dörflichen Umfeld in der Region. Familie Getreuer hatte, über die Führung des Dorfladens hinaus, in vielerlei Hinsicht eine zentrale Stellung im Dorf inne. Die Familie war „voll integriert. Niemand in diesem katholischen Dorf scheint sich daran gestört zu haben, dass sie jüdischen Glaubens war.“ (Gottschalk 2015, S. 31) 

Über die Kleinstadt Ronsperg/Poběžovice haben wir über zweierlei Perspektiven Zugang gewonnen: Zum einen mittels Erzählungen über die jüdische Gemeinde, die aufgrund ihrer Wunder-Mikweh überregionale Bekanntheit erlangte (Procházka 2017). Zum anderen über den historischen Roman Bernhard Setzweins (Setzwein 2017), welcher u.a. auch Verflechtungen des Grafen auf Schloss Ronsperg, Johann von Coudenhove-Kalergi, dessen Ehefrau Jüdin war, mit den Nationalsozialisten behandelt – unter anderem auch zur Reichspogromnacht in Ronsperg. Diese Geschichtserzählungen – durch eigene Lektüre oder über Expertengespräche vermittelt – stellten neben eigenen sinnlichen Wahrnehmungen einen der Aspekte der Erkundungen vor Ort dar. 

Beide Orte weisen heutzutage ein deutlich verändertes Antlitz auf: Während aus dem einstigen stolzen Städtchen Ronsperg nach 1945 eine Stadt in Randlage, kurz vor dem 'Ende der Welt'geworden ist und das Schloss – Kern der Stadt – in den 1980er Jahren sogar kurz vor dem Verfall stand, ist von Schwanenbrückl nur noch die alte Brücke über den Fluss Radbusa erhalten – dank der Denkmalschutzbemühungen Zdenek Procházkas, einer der Experten im Projekt. Somit ist Schwanenbrückl eines der vielen den Grenzschutzanlagen anheimgefallenen und heute 'verschwundenen' Dörfer. Nicht zuletzt ist es die Natur, die den beiden Orten heute eine bemerkenswerte Aura verleiht. In der an Erinnerungsorten reichen Kleinstadt Ronsperg/Poběžovice ist diese beispielsweise anhand des im Jahr 2015 angelegten japanische Garten neben dem Schloss erfahrbar. Dieser stellt eine Erinnerung an Richard und Johann Coudenhove-Kalergi, ersterer Vater des Gedankens eines geeinten Europas, wie es der Inschrift vor dem Schloss zu entnehmen ist, dar. Schwanenbrückl andererseits besticht wie auch andere ehemalige Dörfer entlang der Grenze durch die nahezu unberührte Natur, welche seit geraumer Zeit das Landschaftsbild prägt.   

Lernsituation mit allen Sinnen

Methodisch wurden die Orte und Erzählungen auf vielfältige Weise angegangen.

Achtsamkeitsübungen schulten die Bewusstheit für das, was sich ereignet, was um einen herum ist, was mit Kopf, Herz und Hand erfahren werden kann, und bildeten damit einender methodischen 'roten Fäden', über die gesamte Projektdauer hinweg. In dieser ersten Phase hieß es konkret: vor Ort gemeinsam aufmerksam werden auf das, was den Ort ausmacht. Sammeln, welche Erscheinungen der Natur 'ins Auge springen' – seienes die allgegenwärtigen Brennnesseln, dienahen Hügel als Orientierungspunkt oder das an der ehemaligen Ortsmitte stehende Denkmal. Nach einer kurzen Fokussierungsübung wurden die Begriffe in beiden Sprachen auf farbigem A4-Papier notiert. Darauf folgte ein Bewegungsspiel aus dem Bereich der Sprachanimation, bei welchem die Begriffe seitens der Jugendlichen mit Gestik illustriert und dann benannt wurden.

Im Kern der Ortsbegehung stand die Arbeit ausgehend von Orientierungsaufgaben. Zunächst beging die Gruppe das Gelände des 'verschwundenen' Dorfes gänzlich ohne Karte: Vom vorherigen Dorf Rybník ausgehend, begann die Expedition mit dem noch kleinen Flusslauf der Radbusa als Anhaltspunkt. Die Gruppe folgte dem Flusslauf, ca. eine dreiviertel Stunde bis zum Dorf Schwanenbrückl. Von dort aus erhielten drei national-gemischteKleingruppen jeweils Karten von der Umgebung, mit ca. 1 km Radius. Karten, welche nur Eckpunkte der Landschaft enthalten. Aufgabe war es, die Landschaft zu untersuchen nach dem, was einmal hier war.

Die Untersuchung des Ortes setzt sich am Tag darauf weiter fort. Ein fiktiver Brief, Verfasserin ist Louise Getreuer aus der jüdischen Familie des Dorfes: Sie beschreibt, wie sie das Dorf wahrnimmt und wo die Gruppe welches Gebäude heutzutage finden würde. Neben dem Brief bekamen die Teilnehmenden einen rekonstruierten Plan des Dorfes sowie markante Fotografien zu zentralen Orten, wie beispielsweise der Schule. Wie mehrdimensionale Puzzleteile fügten sich die Informationen zusammen. Eindrücke von heute – jetzt ein dicht zugewachsener Wald – und Bilder von damals, die unberührte Natur und Ahnungen von einer Zeit, die nicht wiederkommen wird. 

Reflexionen der Grenzlandkultur 1938 zwischen Fiktion und Realität

Ab dem zweiten Abend übernachtete die Gruppe in der Jugendbildungsstätte Waldmünchen, in einem Grenzort in der bayerischen Oberpfalz, eine halbe Busstunde von den zuvor besuchten Orten entfernt. Dort angekommen ging es zunächst in die Reflexion: „Was ist geblieben?“ „Was ist verschwunden?“ – Begriffe wurden genannt und das bekannte Friedenslied „Sag mir wo die Blumen sind“ angestimmt, in beiden Sprachen, deutsch und tschechisch, Strophe für Strophe. Solange bis die Strophen beide Sprachen enthielten, und dabei sogar in Wortmischungen zusammengefügt, wie „Glückšti“ („Glück” und „Štěsti“), beide Perspektiven vereinten.

Am fünften Projekttag kehrte die Gruppe nach Schwanenbrückl zurück, mitten hinein ins 'Terrain' – diesmal mit konkreten Vorstellungen vor Augen, was sich dort wohl abgespielt haben mochte. Hinweise dafür konnten die Jugendlichen den detaillierten und anschaulichen Schilderungen Regina Gottschalks Dokumentation entnehmen. Es sind Alltagsszenen, die gezeigt werden: Dorftratsch – hier deutsch und tschechisch gemischt (entgegen historischer Realität zumindest in diesem Ort, hingegen einer denkbaren Vision andernorts oder der Zukunft andererseits). Das Schicksal der jüdischen Familie erfährt keine explizite szenische Darstellung, sondern wird von einem Erzähler vorgestellt. Die Teilnehmenden selbst haben diese Darstellungsform mit dem Begriff „Infopoint“ bezeichnet – als Begriff für die theatrale Rolle des Performers, eines Spielers, der in keine Rolle schlüpft, sondern als 'er selbst' auftritt.

Ein Kreistanz auf einer Waldlichtung, dazu gesungen das jüdische „Hevenu shalom alejchem“, ließ für die Zuschauer_innen am Tag darauf während der öffentlichen Aufführung einen Moment der Gemeinschaft entstehen.

Tags darauf um 11 Uhr konnte es beginnen. Überraschend groß fiel die Resonanz aus: Achtzig Zuschauer_innen beiderseits der Grenze kamen, um die Performance direkt am Gelände des verschwundenen Dorfes zu besuchen. Kurz vor Ende begann das Wetter umzuschlagen in Regen und Gewitter, so dass das Gespräch mit den Zuschauer_innen kurzerhand in ein nahegelegenes Pfadfinderzelt verlegt wurde. Es gab Fragen über Fragen, auch an die anwesende Verwandte der jüdischen Familie Getreuer und Buchautorin Regina Gottschalk. Sie konnte zusagen, von dem Ereignis auch den weiteren, heute in den USA lebenden Verwandten zu berichten. Netze knüpften sich an diesem Tag über die Grenzen hinweg.

Literatur

Gottschalk, Regina (2015): Auf Nachricht warten. Geschichte der jüdischen Familie Getreuer aus dem Böhmerwald 1938–1942, Viechtach

Procházka, Zdeněk (2007): Putování po zaniklých místech Českého lesa. =Wanderungen durch verschwundene Ortschaften des Böhmischen Walds, Domažlice 2007 ff.; Band 1: Domažlicko. Osudy 50 zaniklých obcí, vsí a samot.=Kreis Taus. Die Geschicke von 50 verschwundenen Dörfern, Weilern und Einöden, 2., aktual. Aufl., Domažlice 2017.

Procházka, Zdeněk(2008):Jiří Fiedler, Václav Fred Chvátal: Židovské památky Tachovska, Plánska a Stříbrska.=Jüdische Denkmäler im Tachauer, Planer und Mieser Land., Domažlice

Reinert, Marcus/Kopůncová, Ráchel (2018): Methoden zweisprachiger lokalhistorischer Jugendbegegnungsprojekte am Beispiel des Projektes „Schwanenmostek – Labutíbrückl: Grenzlandkultur 1938 revisited.“ Nürnberg/Rokycany.

Setzwein, Bernhard (2017): Der böhmische Samurai. Innsbruck.

 

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