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Inklusive Erinnerungskulturen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Univ.-Prof. Dr. Martin Lücke hat eine Professur am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin.

Von Martin Lücke

1. Die Ausgangslage: Zufriedenheit

Viele von uns sind ausgesprochen zufrieden mit der Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft erinnert wird. Dazu lohnt sich ein Blick auf ein Beispiel, und zwar auf eine Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, die er am 21. März 2015 im Museum „Lugar de la Memoria, la Tolerancia y la Inclusión Social“ in Lima (Peru) gehalten hat, einem Gedenkort, an dem sich die peruanische Gesellschaft an die Zeit ihrer Militärdiktatur erinnert. Der damalige Bundespräsident führte aus:

„Es geht mir darum, Ihnen zu zeigen: Unsere Erfahrung hat unsere Nation nicht kaputt gemacht, sondern gestärkt. Und ich wünsche mir einen weiteren Austausch zwischen Peru und Deutschland in diesen Fragen. Lassen Sie uns gemeinsam diskutieren, wie [...] man es schafft, zuerst die Fakten und damit die Wahrheit auf den Tisch des Hauses zu bringen. Und dann auf der Ebene dieser Fakten einen manchmal schonungslosen, aber letztendlich doch befriedigenden Diskurs in Gang zu setzen.

Wir Deutsche wollen da an Ihre Seite treten. In genau derselben Weise, wie wir Ihnen zur Seite stehen, wenn es darum geht, Infrastruktur zu stärken oder die Staatlichkeit zu verbessern oder die Rechtsordnung sicherer zu machen. All das sind Ebenen der Begegnung, die ich für wichtig und schön halte. Aber es gibt auch eine Begegnung der gebrannten Kinder. Und wenn die bei ihrer wirklichen Wirklichkeit bleiben, dann gibt es Zukunft aus Wahrheit.“ (Gauck 2015)

Was erkennt man in dieser Rede, die einen Ausdruck von staatlicher, nationaler Erinnerungskultur darstellt?

  • Die Bundesrepublik ist in ihrer Gegenwart sehr zufrieden mit ihrer Art und Weise des Erinnerns, insbesondere wenn die eigene Geschichte erinnert wird. Diese eigene Geschichte ist noch immer die Geschichte einer Nation, nicht die Geschichte der widerspenstigen und eigen-sinnigen Menschen, die in dieser Nation gelitten und gehandelt haben.
  • Es scheint uns zudem gelungen zu sein, aus der Geschichte gelernt zu haben, vor allem aus der Geschichte des Nationalsozialismus und insbesondere aus der Geschichte der Shoah, und zwar positiv gelernt.
  • Historische Erfahrung und Erinnern sind machtvolle Ressourcen im politischen Diskurs – sie helfen in diesem Fall sogar dabei, Rechtsordnungen zu exportieren und wirtschaftlich vielversprechenden Infrastrukturprojekten einen kulturellen Kitt zu geben.
  • Zudem steckt ein positivistisches Geschichtsverständnis hinter solchen Aussagen, es wird von Wahrheit und Fakten gesprochen, statt von Deutungen und Aushandeln - keine Freude vielleicht für all diejenigen, die sich mit Erinnern und Geschichte in der Bildung befassen.

Wenn wir dem ehemaligen Bundespräsidenten glauben: „Unsere Erfahrung hat unsere Nation nicht kaputt gemacht, sondern gestärkt“, so mag der Aspekt der Stärke vielleicht zutreffen. Gleichzeitig hat ein dermaßen sicheres Wissen darüber, dass wir schon das Richtige aus der Geschichte gelernt haben, uns vielleicht auch blind gemacht beim Erkennen gegenwärtiger Formen von Rechtsextremismus, von Antisemitismus, von Antiislamismus. 

2.     Die Herausforderung: ein weiter Inklusionsbegriff

Ich möchte vorschlagen, Ansätze und Ansprüche von Inklusion konstitutiv in Erinnerungskultur einzubauen. Das kann vor allem die Möglichkeit bieten, jenseits von Sehnsüchten nach shared memories ein Erinnern anzubahnen, in dem auch conflicting memories ihren Platz haben.

Dabei möchte ich einen weiten Inklusionsbegriff verwenden, der sich nicht ausschließlich auf die Kategorie der so genannten körperlichen und geistigen Behinderung bezieht. 

Inklusion wird hier nach Andreas Hinz verstanden als ein „allgemeinpädagogische[r] Ansatz, der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen will. [...]damit wird dem Verständnis der Inklusion entsprechend jeder Mensch als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft anerkannt.“ (Hinz 2006: 97)

Kersten Reich präzisiert vor dem Hintergrund eines solchen weiten Inklusionsbegriffes fünf „Standards der Inklusion“:

  1. Ethnokulturelle Gerechtigkeit ausüben und Antirassismus stärken,
  2. Geschlechtergerechtigkeit herstellen und Sexismus ausschließen,
  3. Diversität in den sozialen Lebensformen zulassen und Diskriminierungen auch in den sexuellen Orientierungen verhindern,
  4. Sozioökonomische Chancengerechtigkeit erweitern,
  5. Chancengerechtigkeit von Menschen mit Behinderung herstellen (Reich 2014: S. 31f).

Wie lassen sich solche Gedanken verbinden mit Erinnerungskultur, also mit dem Bereich, in dem wir hier tagein und tagaus beschäftigt sind?

Kultur, das wissen wir, entsteht, wenn Menschen gemeinsam den Versuch unternehmen, Sinn zu bilden, und indem sie Wirklichkeiten mit Bedeutung versehen. Nach Christoph Cornelißen, der sich prominent mit Konzepten von Erinnerungskultur beschäftigt hat, sind die Träger dieses Aushandlungsprozesses "Individuen, soziale Gruppen oder sogar Nationen (...) teilweise in Übereinstimmung miteinander, teilweise aber auch in einem konfliktreichen Gegeneinander". 

Es darf also durchaus konfliktreich zugehen, wenn Einzelne oder Kollektive sich erinnern und vergangene Wirklichkeiten in unserer Gegenwart mit Sinn versehen. Hier können also – das ist im Konzept der Erinnerungskultur immer mitgedacht – conflictingmemoriesgenauso entstehen wie dividedmemoriesoder sharedmemories. Verknüpft man diese Begriffsarbeit mit dem Anspruch von Inklusion, so bekommt Erinnerungskultur einen Zweck, eine konkrete normative Dimension. Denn der Anspruch auf Inklusion richtet „sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung“ und versichert „somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse.“

Das ist eine Herausforderung, denn es bedeutet:

  • Inklusive Erinnerungskultur zeigt auf, wer sich an wen erinnert und zu welchem politischen Zweck. Auf diese Weise wird Erinnerung als Mittel von Herrschaft sichtbar. Hier geht es dann um Herrschaftskritik
  • Sie zeigt auf, wer beim Erinnern marginalisiert wird, oder noch genauer: wer vergessen wird – und deshalb in unserer so historisch überbordenden Gegenwartsgesellschaft gar nicht erst über die Ressource von Geschichte verfügen darf. Hier geht es um die Sichtbarmachung des Vergessenen.
  • Sie fordert, dass die Teilhabe an Geschichte für alle möglich sein muss – weil Geschichte (gerade das zeigt die Rede von Joachim Gauck) zu einer mächtigen Ressource geworden ist, die als kultureller Kitt unser Machtgefüge absichert. Inklusive Erinnerungskultur fordert also Empowerment durch Erinnern und Geschichte gerade für die Machtlosen.

Inklusive Erinnerungskultur heißt dann in jedem Fall, dass es nicht nur darum gehen kann, alle und jeden und jede auf ihre und seine Weise in bisherige Geschichtserzählungen zu integrieren. Das wäre bloß eine integrativeErinnerungskultur, die sich dem Ziel verschreibt, aus dividedmemoriessharedmemorieszu machen. Inklusive Erinnerungskultur würde sich dem Ziel verschreiben, eine Erinnerungslandschaft zuzulassen, in derconflictingmemoriesausgehandelt werden.

Eine inklusive Erinnerungskultur fragt aber außerdem nach neuen Geschichten, mit denen sich Marginalisierte, also auch die viel zitierten Subalternen, einen Geltungsstatus als historische Subjekte erkämpfen können, und mit denen sie außerdem ihren sozialen Bewegungen, ihren Kollektiven (auch jenseits eines nationalen Referenzrahmens) die Wirkungsmacht als historische Institutionen zuweisen. Und sie fragtnicht nur nach solchen Geschichten, sie erzählt sie dann auchund bringt sie in den machtvollen Diskurs der Gesellschaft ein.

3.     Auswirkungen

Hierzu möchte ich konkrete Anregungen geben, die sich – mal ganz explizit und mal implizit mit dem Erinnern an den Nationalsozialismus beschäftigen und die vielleicht illustrieren können, was eine solche inklusive Erinnerungskultur in inhaltlicher, methodischer und sozialer Hinsicht bedeuten kann.

Mir ist beim Nachdenken darüber, wie an die Shoah erinnert werden kann und was beim Erinnern an die Shoah erlaubt ist und was nicht, ein bemerkenswertes Zitat des Osteuropa-Historikers Wolf Schmid in die Hände geraten. Im Band “Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität” von Wulf Kansteiner und Norbert Frei merkt Wolf Schmid an:

“Der Holocaust bedarf ständiger neuer verfremdeter Darstellungen, um dem Automatismus, das heißt auch der Domestizierung und Verharmlosung, zu entgehen” (Schmid 2013: 110).

Nehmen wir dieses Zitat ernst und übertragen es auf Erinnerungsarbeit, so müssen wir uns fragen, ob sich nicht auch in unserem Tun ein Automatismus eingestellt hat, der die Gefahr bereithält, dass das schreckliche und historisch einmalige Thema des Holocaust domestiziert und verharmlost wird. Wir dürfen uns – und vielleicht müssen wir das auch – viel trauen, wir müssen nach neuen verfremdeten Darstellungen des Holocaust suchen, um diesem Thema in seiner Bedeutung auch in der Erinnerungsarbeit gerecht zu werden. 

Im Zusammenhang mit Inklusion kann das bedeuten, noch viel genauer in den Blick zu nehmen, für wen wir die Geschichte des Holocaust aufbereiten, für wen welche Darstellungsweisen verfremdet und für wen bereits viel zu vertraut sind. Das heißt auch, dass wir gerade beim Thema Holocaust conflictingmemorieszulassen und unterschiedliche Standpunkte zunächst aufeinanderprallen lassen. Das mag uns – vielleicht – fremd erscheinen, ist aber notwendig, wenn wir nach einer Erinnerungskultur suchen, die zwei Dinge kann: Das Thema Holocaust nicht in einem deutschen Erinnerungshaus zu domestizieren (übrigens ist das auch nicht gut und richtig für die sogenannten autochthonen Menschen in diese Land, wer auch immer das ist), und gleichzeitig die beteiligten vielen Verschiedenen sprechfähig zu machen, damit sie in der Lage sind, in einer pluralistischen Gesellschaft mit Gewinn über den Holocaust nachzudenken.

Als hätte es den Holocaust, die Shoah, die Geschichte des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Antijudaismus nie gegeben, lesen wir in diesen Tagen sehr oft von den christlich-jüdischen Wurzeln unserer Kultur – und gleichzeitig, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Hier erfolgt In- und Exklusion nicht nur über Geschichte, sondern auch entlang von dem, was die Migrationspädagogik natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit nennt.

Ich würde mir wünschen, dass all diejenigen, die im Bereich der Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur arbeiten, auch die Geschichtslehrerverbände, laut und deutlich gegen ein solches Reden von christlich-jüdischen Wurzeln protestieren, und zwar aus zwei Gründen:

  • Erstens verbirgt sich dahinter in meinen Augen eine unglaubliche Relativierung des Holocaust und ein Verleugnen der zweifellos antisemitischen Geschichte dieses Landes. Wer kann heute glaubhaft gegen Antisemitismus auftreten, und uns gleichzeitig glauben machen wollen, dass es eigentlich fast immer eine gedeihliche Tradition von christlich-jüdischem Zusammenleben gab, und zwar ein gedeihliches Zusammenleben, das man sogar als Tradition oder Wurzel beschreiben kann?
  • Zweitens wird in solchen Redeweisen ein Bild von Geschichte und Erinnerungsarbeit entworfen, in dem Geschichte als etwas Eindeutiges, gradlinig auf unser Heute zulaufendes erscheint. Geschichte wird auf diese Weise zur Legitimationsinstanz. Aber: Geschichte und Erinnern sind nicht eindeutig, geben keine Sicherheit. Im Gegenteil: im akademischem Diskurs entwirft sich Geschichte schon seit langem als eine Verunsicherungswissenschaft. Hier geht es darum, nach den vielen Wegen zu suchen, die die Menschen in ihren Zeiten nehmen konnten - oder auch nicht. Rein traditionale Sinnbildung, wie sie im Reden von Wurzeln und kulturellen Traditionen vorkommt, ist schon lange ein Ladenhüter in Konzepten von historisch-politischer Bildung. In inklusiven Erinnerungskulturen geht es darum, eine Geschichte der vielen zu schreiben und zu erzählen, hier sollen die Vergessenen sichtbar gemacht und die allzu Sichtbaren in ihrer Dominanz kritisiert werden. Wenn man doch eines aus der Geschichte lernt, dann doch wohl, dass Zeiten immer unsicher waren, und dass es davon abhängt, wie sich die Menschen in ihrer Zeit solchen Unsicherheiten stellen. 

Literatur

Joachim Gauck: Besuch im Museum Lugar de Memoria am 21. März 2015, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/03/150321-LugarMemoria-Lima-Peru.html

Andreas Hinz (2006). Inklusion. In: Ulrich Bleidick u. a (Hg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik., Stuttgart: Kohlhammer, S. 97–99.

Kersten Reich (2014): Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule, Weinheim: Beltz, S. 31-36. 

Wolf Schmid (2013): Dichotomie von Geschehen und Geschichte. In: Norbert Frei/Wulf Kantsteiner (Hg.), Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, Göttingen: Wallstein, S. 107-110.

 

 

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